Was sind Anlass und Ziel der Publikation?
Die genetischen Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen wurden in den letzten Jahren weitgehend entschlüsselt. Insbesondere genomweite Assoziationsstudien (GWAS) erlaubten eine Vielzahl von genetischen Varianten zu identifizieren, die allesamt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Herzerkrankung erhöhen. Dabei zeigte sich, dass ein jeder Mensch eine Vielzahl dieser Risikoallele in sich trägt. Innerhalb einer Bevölkerung gibt es allerdings ein weites Spektrum, inwieweit eine Person somit genetisch belastet ist. Dieses Spektrum lässt sich in polygenen Risikoscores abbilden, die beispielsweise mit dem Risiko für das Auftreten einer koronaren Herzerkrankung korrelieren. Das Konsensuspapier der ESC sollte nun eine Einordnung der Wertigkeit dieser polygenen Risikoscores für die praktische Anwendung liefern.
Was sind die wichtigsten Take-Home Messages?
- Im Zentrum der Risikoabschätzung für das Auftreten einer koronaren Herzerkrankung stehen weiterhin klinische Risikoscores, wie beispielsweise der SCORE2 von der ESC. Diese Risikoscores integrieren die wichtigsten traditionellen Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, Rauchen, Blutdruck, Cholesterin und Diabetes. Hieraus ergibt sich ein geschätztes 10-Jahres-Risiko, welches je nach Ausprägung der Risikofaktoren zwischen 0,5 % bis 30 % im 10-Jahres-Zeitraum variieren kann. Die klinische Risikoabschätzung ist weiterhin Ausgangspunkt der präventiven Maßnahmen.
- Polygene Risikoscores können das klinisch berechnete Risiko in Form eines Multiplikators ergänzen. Dieser „genetische“ Multiplikator variiert wiederum zwischen 0,5 bis 2.
- Liegt demnach das klinische 10-Jahres-Risiko bei 10 % (z. B. SCORE2) kann durch Multiplikation mit dem polygenen Risikoscore eine Differenzierung zwischen 5 und 20 % entstehen. Allerdings bleibt für die Mehrzahl der Menschen in der Bevölkerung die Schwankungsbreite geringer, da die meisten Personen einen polygenen Risikofaktor zwischen 0,8 und 1,2 haben.
- Andererseits weichen die untersten 10 % und die obersten 10 % in der Bevölkerungsverteilung erheblich von diesem Mittelwert ab, so dass eine klinisch relevante Neubewertung des 10-Jahres-Risikos bei solchen Personen vorgenommen werden kann.
- Das Konsensuspapier beschreibt nun klinische Szenarios, in welchen die Anwendung eines polygenen Risikoscores sinnvoll oder wenig hilfreich sein kann:
- Besteht Unsicherheit, ob beispielsweise mittels Statin das LDL-Cholesterin weiter gesenkt werden soll, weil ein moderates Risiko für die koronare Herzerkrankung besteht, kann die Anwendung eines polygenen Risikoscores eine Entscheidungshilfe bieten.
- Ist das kardiovaskuläre Risiko dagegen sehr hoch, bietet die Berechnung des polygenen Risikoscores keinen Vorteil, da ohnehin eine maximalpräventive Behandlung indiziert ist.
- Ist das kardiovaskuläre Risiko sehr gering, besteht ebenfalls keine Indikation für einen polygenen Risikoscore, weil der Multiplikator bei niedrigem Risiko keine klinischen Konsequenzen hätte.
Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung und mögliche Lösungen?
Um die polygenen Risikoscores in der praktischen Versorgung zu verankern, sind allerdings eine Vielzahl von Voraussetzungen noch zu schaffen. Insbesondere sollten regulatorische Maßnahmen ergriffen werden, die die Indikationsstellung und Vergütung von polygenen Risikoscores regeln.
Welche Punkte sind offengeblieben?
Augenblicklich gibt es in der kardiovaskulären Medizin keine Leitlinien-unterstützte Applikation und keine Finanzierung der Scores. Dies ist in der Onkologie (z. B. Mammakarzinom) bereits geregelt. Das Konsensuspapier richtet sich damit auch insbesondere an regulatorische Behörden, um die Voraussetzungen für den klinischen Einsatz von polygenen Risikoscores zu schaffen.
Ausblick: Welche Entwicklungen zum Thema zeichnen sich ab?
Aktuell ist die klinische Anwendung von polygenen Risikoscores weitestgehend auf kommerzielle Anwender beschränkt. Die Autorinnen und Autoren des ESC-Konsensuspapiers hoffen, dass die wachsende Evidenz zu einer Neubewertung der polygenen Risikoscores in zukünftigen Leitlinien der ESC führt und damit die individuelle Risikoabschätzung durch polygene Risikoscores auch den Weg in die klinische Routine findet.
Clinical Consensus Statement: "Clinical utility and implementation of polygenic risk scores for predicting cardiovascular disease"
Literaturnachweis:
Schunkert H et al. Clinical utility and implementation of polygenic risk scores for predicting cardiovascular disease. Eur Heart J. Published online February 5, 2025. doi:10.1093/eurheartj/ehae649.