Die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) entsteht ähnlich wie die koronare Herzerkrankung durch atherosklerotische, bindegewebige Umbauprozesse an Arterien des Körpers. Beide Erkrankungen gelten als Volkskrankheiten in Deutschland und verantworten eine hohe Morbidität und Mortalität innerhalb unserer Bevölkerung. Die pAVK manifestiert sich klinisch als Schaufenstererkrankung oder im Falle einer fortgeschrittenen Durchblutungsstörung als kritische Extremitätenischämie. Patientinnen und Patienten mit kritischer Extremitätenischämie zeigen Amputationsraten von bis zu 40 % innerhalb von sechs Monaten und Sterberaten zwischen 20 und 25 % innerhalb eines Jahres.1,2 Durch die erfolgreiche endovaskuläre Therapie von solchen kritischen Erkrankten und in der Regel multimorbiden Patient:innen können Amputationen effektiv vermieden werden.
Aus dem Grund haben international anerkannte Expert:innen und Kolleg:innen aus verschiedenen Fachdisziplinen, darunter der Kardiologie, Angiologie, der interventionellen Radiologie und der Gefäßchirurgie, einen neuartigen Algorithmus entwickelt und eingeführt.3,4 Dieser Algorithmus dient der Standardisierung und Harmonisierung endovaskulärer Verfahren, um die Erfolgsraten und somit die Effektivität der endovaskulären Behandlung chronischer totaler Okklusionen (CTO) von Becken- und Beinarterien zu verbessern. Durch die Etablierung und Verbreitung dieses Algorithmus könnten durch die endovaskulären Therapien solch kritisch kranker Menschen hocheffektiv Amputationen der Gliedmaßen vermieden werden. Ein weiteres Ziel ist es, diesen Algorithmus bei jungen Gefäßmediziner:innen bekannt zu machen, um die Bildung junger Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen zu gewährleisten.
Unser Algorithmus beinhaltet mehrere Schritte, die folgend ‚step-by-step‘ erläutert werden:
(i) Die Anwendung der Duplex-Sonographie und bei Bedarf der Computertomographie oder der Magnetresonanzangiographie zur präprozeduralen Planung. Dies hilft bei der Auswahl der optimalen Zugangsstelle und auch bei der Berücksichtigung weiterer möglicher Behandlungsstrategien.
(ii) Die Evaluation der Morphologie des proximalen Verschlusses, der sogenannten ‚proximalen Kappe‘ am Beginn der CTO, der Umgehungskreisläufe (sogenannte Kollateralen) und der offenen distalen Arterien während der diagnostischen Angiographie. Letztere sind potenzielle Ziele für den retrograden Zugangsweg.
(iii) Es wird in den meisten Fällen zunächst von antegrad versucht, die proximale Kappe der CTO durch das wahre Lumen (intraluminal) zu passieren, ggf. durch Anwendung von speziellen CTO-Drähten mit hoher Penetrationskraft (Draht-Eskalationsstrategie), die in die proximale Kappe der Läsion eindringen. Dies kann ein Problem darstellen, da die proximale Kappe des Verschlusses oft stark verkalkt und fibrotisch umgebaut ist, was zur erschwerten oder unmöglichen Penetration durch den Führungsdraht führen kann.
(iv) Der antegrade Rekanalisationsversuch wird, je nach patientenspezifischen Parametern und das Vorhandensein retrograder Optionen, frühzeitig gestoppt. Das Vorhandensein von retrograden Optionen sollte durch die präprozedurale Bildgebung und die Angiographie schon im Vorfeld erfasst sein.
(v) Nach erfolgreicher durchleuchtungs- oder ultraschallgesteuerter retrograder Punktion, wird versucht die CTO von retrograd zu passieren. Dies gelingt in vielen Fällen relativ einfach, weil die distale Kappe am Ende der CTO oft weicher und weniger verkalkt bzw. fibrotisch umgebaut ist.
(vi) Falls eine Drahtpassage weder von antegrad noch von retrograd gelingt, werden anspruchsvollere bidirektionale Techniken und Re-entry Devices verwendet. Letztere sind Devices, die durch eine eingebaute scharfe Punktionsnadel am Ende eines Katheters, den Wiedereintritt des Drahtes vom subintimalen Raum (falschen Lumen) zurück in das wahre Lumen des Gefäßes erlauben.
(vii) Nach erfolgreicher Drahtpassage von retrograd wird der Draht in die Katheterschleuse externalisiert und die Behandlung der CTO erfolgt von antegrad. Am Ende des Eingriffes erfolgt die Hämostase im Bereich des retrograden Zuganges, um Blutungskomplikationen zu vermeiden.
(viii) Die Menge des verbrauchten Kontrastmittels und die Strahlendosis müssen durch die Gefäßmediziner:innen stets berücksichtigt werden. Falls innerhalb von drei Stunden kein Fortschritt erzielt werden kann, sollte der Eingriff gestoppt werden, um spezifische Komplikationen zu vermeiden. Die Strahlenexposition sollte sowohl im Sinne der Patient:innen als auch der endovaskulären Spezialist:innen in Erwägung gezogen werden.
In unserem Manuskript werden die oben genannten Schritte (i)–(viii) ausführlich erklärt und anhand praktischer Beispiele systematisch erläutert. Die klassische antegrade Strategie führt auch in Händen von erfahrenen Gefäßmedizinerinnen und Gefäßmedizinern in bis zu 20 % der Fälle nicht zur erfolgreichen Revaskularisation.5 Vor kurzem konnte eine Metaanalyse die Sicherheit und Effektivität des retrograden Zugangsweges demonstrieren.6 Die niedrige Komplikationsrate konnte auch in einer multizentrischen Studie bestätigt werden.7 Diese Studie hat über 1.500 Patientinnen und Patienten aus fünf ‚high-volume‘ Deutschen Gefäßmedizinischen Zentren mit komplexen femoropoplitealen Läsionen eingeschlossen, bei denen der antegrade Zugangsweg im Vorfeld gescheitert war. Auch bei solchen sehr komplexen CTO-Läsionen mit einer mittleren Läsionslänge von ca. 25 cm, führte der retrograde Zugangsweg mit einer Wahrscheinlichkeit von 93 % zur erfolgreichen Revaskularisation. Hierdurch konnten Amputationen der Gliedmaßen effektiv vermieden werden (HR = 3,91; 95-%-KI: 1,55–9,86; p = 0,004). Die Komplikationsrate des retrograden Zugangsweges war niedrig mit Minor-Komplikationen, wie kleine Hämatome (1,6 %) oder vorübergehende AV-Fisteln (1,1 %) in dem überwiegenden Anteil der Fälle.7 Trotz hoher Effektivität des retrograden Zugangsweges gibt das Deutsche DRG-System bislang keine Rückerstattungsmöglichkeit für diese sichere, effektive und beinrettende Technik.
Die Berücksichtigung und breite Anwendung dieses Zugangsweges unter Gefäßmediziner:innen sowie die Integration unseres Rekanalisationsalgorithmus in die tägliche Praxis, kann gefäß- und patientenspezifische Ergebnisse verbessern. Dies sollte nun im Rahmen von prospektiv randomisierten Studien weiter untersucht werden. Weiterhin wäre es wichtig das Bewusstsein der Gefäßmediziner:innen auf die nachfolgende, sekundär-präventive medikamentöse Einstellung von Patient:innen mit pAVK und kritischer Extremitätenischämie zu steigern,8 um die per se sehr eingeschränkte kardiovaskuläre Prognose zu verbessern.
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