Jugend und Studienzeit
de Haan: Sie stammen aus einer Medizinerfamilie. Ihr Vater Max war Ordinarius für Pathologie an der LMU. Spielte das eine Rolle für Ihre spätere Berufung Mediziner, nicht sogleich als Chirurg?
Borst: Mein von mir heiß geliebter Vater Max war maßgeblich an der Entwicklung der universitären Pathologie in Deutschland beteiligt. Er war schwerpunktmäßig Zellularpathologe der Tumore und ich war von seinen beruflichen Erzählungen fasziniert. So war es von Anfang an selbstverständlich, dass ich auch Mediziner wurde.
Um unter anderem der Mitgliedschaft in der SS zu entgehen, meldete ich mich als Fähnrich bei der Luftwaffe. Dies endete im Kriegseinsatz als Fallschirmjäger und halbjährlicher Kriegsgefangenschaft. Nach der Rückkehr in die Heimat musste ich ein halbes Jahr Aufbauarbeit an der LMU ableisten, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden, wo ich bis zum Physikum studierte.
de Haan: Wie entwickelte sich Ihr Werdegang danach und wie sehr wurden Sie dadurch geprägt?
Borst: Von 1950 bis 1953 war ich Student an der Harvard Medical School und erhielt dort den Doktortitel. Bis 1954 war ich Medizinalpraktikant an der Stanford University in San Francisco. Danach arbeitete ich in der kardiopulmonalen Forschung wiederum in Harvard.
Die Weichenstellung in Richtung USA verdanke ich einer Pathologenfamilie aus New York City, die mich vor dem Kriegseintritt der USA zu sich holen wollte. Nach dem Krieg griff ein ehemaliger Assistent meines Vaters, Dr. Frank Gerbode, den Faden wieder auf und es gelang ihm, mich in einer Lücke des zweiten Jahres im Curriculum der Harvard Medical School einzuschieben, das ich auch mit dem Doktor der Medizin abschloss.
Das Studium in den USA war anstrengend, es wurde sehr viel verlangt und es blieb wenig Zeit für andere Interessen. Das nachfolgende Jahr in Stanford motivierte mich zu meiner Weiterbildung in der kardiopulmonalen Physiologie. Alle diese Lehrjahre waren prägend für meine Entwicklung als Herzchirurg.
Zur Person
Prof. Hans Georg Borst
Prof. Hans Georg Borst (*17. Oktober 1927 in München; † 8. September 2022 in Neumarkt am Wallersee) war Leiter der Abteilung für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover. Er leistete bedeutende Beiträge in der Entwicklung der Herzklappen-, Kinderherz- und Koronarchirurgie. Er war Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG) sowie Mitherausgeber ihrer Zeitschrift Thoraxchirurgie.
Klinikzeit in Marburg und München
de Haan: 1956 kamen Sie zurück nach Deutschland und traten in die Klinik von Prof. Rudolf Zenker in Marburg ein. Was war der Grund, und wieso gerade in Marburg?
Borst: Prof. Zenker war zur damaligen Zeit einer der Motoren der Herzchirurgie. Außerdem war zu erwarten, dass er später nach München berufen würde. Er stellte mich ein, wegen meiner Kenntnis des kardiopulmonalen Bypasses mit der Herz-Lungen-Maschine (HLM). Prof. Zenker hielt diese Methode für wesentlich besser als die Kreislaufunterbrechung in Hypothermie als dauerhafte Lösung für die Herzchirurgie, weil letztere nur kurzzeitiges Operieren ermöglichte. Auch mag meine für damalige Zeit perfekte Beherrschung der englischen Sprache für meine Einstellung bei Prof. Zenker hilfreich gewesen sein. Zur damaligen Zeit war die Anschaffung einer HLM sehr kostspielig, aber ich konnte ihn dazu überreden, in Marburg eine eigene Maschine zu konstruieren und einzusetzen, womit zum ersten Mal in Deutschland beliebige Operationen am offenen Herzen möglich waren.
de Haan: 1958 folgten Sie Ihrem Mentor Prof. Zenker an die Universität München, wo Sie bis 1968 als Assistent und später als Oberarzt tätig waren. Ihr kardiologischer Partner war zunächst Prof. Hans Blömer, der Wegbereiter der modernen invasiven Kardiologie. Wie war die Zusammenarbeit?
Borst: Mit Prof. Blömer habe ich sehr gut zusammengearbeitet und viel gelernt, wir waren auch befreundet. Auf sein Betreiben hin schickte mich Prof. Zenker nach Schweden, um die Schrittmacherimplantation zu erlernen. In München war ich zunächst für die Bedienung der Herz-Lungen-Maschine verantwortlich. Dann musste ich die Facharztreife für Chirurgie erreichen. Daneben konnte ich mich in die Herzchirurgie, vor allem an Erwachsenen, einarbeiten. Für die Herzchirurgie an Kindern war mein Seniorprofessor Werner Klinner verantwortlich.
Aufbau der Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover
de Haan: Zu Beginn der Siebzigerjahre wurde die Medizinische Hochschule in Hannover (MHH) gegründet, da das Land Niedersachsen neben Göttingen sonst keine Ausbildungsstätte anbieten konnte.
Borst: Die äußeren Bedingungen für ein solches Unternehmen waren überaus günstig, denn die Bundesregierung und das Land Niedersachsen stellten ausreichende Mittel zum erstmaligen Ausbau einer gesamten Hochschule zur Verfügung. Die Volkswagen-Stiftung unterstützte die Finanzierung von Lehrstühlen und den Bau einer erstklassigen Bibliothek. Die Motoren dieser ganzen Entwicklung, inklusive von Bau- und Personalstruktur sowie der künftigen Verfassung Hochschule, waren die Professoren Rudolf Schoen und Fritz Hartmann, beide aus Göttingen.
1968 wurde ich als Chirurg auf den Lehrstuhl für Chirurgie berufen. Zunächst war ich im Ostkrankenhaus tätig und konnte Einfluss auf die Ausgestaltung der Zentralklinik ausüben. Ich sollte die Kernfächer der Chirurgie aufbauen. Geplant war ein Departmentsystem in Anlehnung an dasjenige der USA. Meine Aufgabe war es, die drei Kernkliniken zu gründen und organisatorisch zu strukturieren.
© Prof. Hans Georg Borst
Prof. Borst (rechts) und Prof. Schäfers (links) bei der Visite eines lungentransplantieren Patienten (ca. 1993)
Borst: Die Klinik der Abdominal- und Transplantationschirurgie sollte Prof. Rudolf Pichlmayr übernehmen, den ich aus München wegen seiner Erfahrung in der Nierentransplantation nach Hannover gebeten hatte. Prof. Harald Tscherne, Chirurg aus Graz, sollte den Bereich Unfallchirurgie und Rettungswesen leiten. Er verfügte über große Erfahrungen mit der erst im Aufbau befindlichen AO-Technik. Mein eigener Bereich firmierte unter dem Namen Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie.
Unsere Zielsetzung war die Gleiche, wir zogen an einem Strang im Aufbau und Betrieb des Departments. Beispielsweise trafen wir uns alle 6 Wochen, um anstehende Probleme zu lösen. Das Arbeitsklima war nicht nur unter den Klinikleitern, sondern auch unter den Oberärztinnen und Oberärzten ausgesprochen gut, ja freundschaftlich und zielgerecht. Attraktiv war die Verpflichtung, den Nachwuchs innerhalb von 6 Jahren im Rotationsverfahren auszubilden.
Beginn der Herztransplantation in Deutschland und heutige Bedeutung
de Haan: In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war die Herztransplantation in den großen Zentren der BRD eine gewisse Herausforderung. Sie waren 1983 der erste Herzchirurg, der dies in Deutschland durchführte. Welche Faktoren waren dafür ausschlaggebend?
Borst: Die erste Herztransplantation in Deutschland wurde nicht von uns durchgeführt. Wie es sich so traf, sollte ich aber der erste Deutsche sein, der unmittelbar nach der Herztransplantation in Kapstadt von Prof. Barnard empfangen wurde. Dieser beeilte sich, die Vorgeschichte, das operative Vorgehen und die in Aussicht genommene Nachbehandlung im großen Detail zu erklären. Wir konnten am Tag nach der Operation den ersten operierten Patienten, Louis Waskansky, besuchen, der leider in der früh-postoperativen Phase wohl an einer Komorbidität verstarb. Medizinisch gab es zu dieser Zeit keine Alternative zur Herztransplantation bei entsprechender Indikation.
Nach Barnards Operation versuchten zahlreiche Chirurginnen und Chirurgen weitere Transplantationen vorzunehmen mit insgesamt sehr ungünstigen Resultaten, sodass ein zehnjähriges Moratorium folgte und die Herztransplantation erst danach, vor allem durch verbesserte Immunosuppression und Abstoßungsdiagnostik, wieder aufgenommen wurde. Dementsprechend haben wir die erste Herztransplantation in Hannover 1983 durchgeführt. Mein Oberarzt Roland Hetzer operierte den Kranken und war für die weitere Entwicklung der Herztransplantation an der MHH verantwortlich.
de Haan: Wie beurteilen Sie heute – fast 40 Jahre nach der ersten Herztransplantation – auch angesichts der anhaltenden Organspendeproblematik in Deutschland den Stellenwert und die Bedeutung der Herztransplantation?
Borst: Sie hat heute immer noch einen hohen Stellenwert, allerdings in Konkurrenz mit dem Kunstherz. Im Laufe der Jahre stand bei uns in Hannover die Lungentransplantation im Vordergrund. Prof. Hans-Jochen Schäfers hat diese an der MHH eingeführt und rasch weiterentwickelt.
Zur Karriere in der Herzchirurgie
de Haan: Würden Sie die Aufstiegschancen für junge Herzchirurginnen und -chirurgen heute anders einschätzen als früher? Was braucht es neben der persönlichen Motivation und Gelehrsamkeit? Fördermittel?
Borst: Die ersten Jahre der Herzchirurgie waren ja auch unsicher, was ihren späteren Stellenwert anging. Die bedeutsamen Erfolge dieses Faches waren nicht vorhersehbar. Angesichts der hervorragenden Ergebnisse der interventionellen Kardiologie ist es heute schwierig, die Zukunft der Herzchirurgie zu beurteilen. Insgesamt wird der Bedarf an Herzchirurginnen und -chirurgen eher zurückgehen. Daher würde ich mir als junge Chirurgin oder junger Chirurg die Wahl dieser Fachrichtung genau überlegen.
Im Zusammenhang mit der Zukunft der Herzchirurgie möchte ich kurz meinen Oberarzt Hellmut Oelert anführen, der in enger Zusammenarbeit mit dem Kinderkardiologen Prof. Hans-Carlo Kallfelz ein umfangreiches Programm in Gang setzte, das insbesondere die neuartigen Eingriffe im ersten Lebensjahr umfasste. Diese Sparte wird sicher nicht an Bedeutung verlieren.
Zu meinen eigenen Schwerpunkten haben die operative Behandlung von ausgedehnten thorakoabdominalen Aneurysmen der Aorta und die Dissektion gezählt. Wegen der komplexen Pathologie dieser Leiden hatte ihre operative Behandlung erst verzögert eingesetzt. Mit zunehmender Erfahrung ist es mir gelungen, das Operationsrisiko deutlich zu senken und zwar in dem man bei einem Ersteingriff die nachfolgende Operation bereits vorbereitet – heute als „elephant trunk procedure“ bekannt.
de Haan: Ihr Freund und Kollege, Prof. Wolfgang Bircks aus Düsseldorf, nannte als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit in der Herzchirurgie im Interview 2019 folgende Eigenschaften: Empathie, Aufopferungsbereitschaft, naturwissenschaftliches Verständnis und der Wille zur lebenslangen Fortbildung. Teilen Sie diese Ansicht?
Borst: Ja, unbedingt stimme ich dieser Meinung zu, aber auch an manueller Geschicklichkeit darf es nicht fehlen. Wenn ich spürte, dass Mitarbeitende diese Eigenschaften aufwiesen, konnten diese mit meiner vollen Unterstützung rechnen. Insbesondere fühlte ich mich auch gegenüber unseren vielen jungen Chirurginnen und Chirurgen aus aller Welt verantwortlich. Viele von ihnen haben eine erfolgreiche Laufbahn in unserem Fach in ihren Herkunftsländern erlebt.
Emeritierung als Ordinarius
de Haan: 1996 wurden Sie als Ordinarius emeritiert. War das für Sie anschließend eine schwierige Phase? Hatten Sie Hobbys?
Borst: Ich empfand die Emeritierung als Erleichterung. Zunächst aber wurde ich der Leiter des Osteuropa-Programms der European Association for Cardiothoracic Surgery, deren Mitbegründer und Herausgeber ihrer Fachzeitschrift ich war. Bis 2004 bestand meine Aufgabe in der Förderung osteuropäischer Zentren und Vermittlung junger Chirurginnen und Chirurgen zur Ausbildung in den Westen.
Anschließend habe ich Kongresse kaum noch besucht. Für mich war die Zeit als Herzchirurg vorbei. Zusammen mit meiner Frau und Freunden bin ich gerne auf Reisen gegangen. Auch habe ich mich als Gärtner in unserem Haus in Österreich betätigt. Besonders interessiere ich mich für Geschichte, insbesondere Zeitgeschichte, und die bildende Kunst.
de Haan: Sie haben 4 Kinder. Wie sah der Alltag während der beruflichen Tätigkeit aus? Wie sieht der Alltag heute aus?
Borst: Während meiner beruflichen Tätigkeit hatte ich wenig Zeit für die Familie, und ich würde auch heute keiner Frau empfehlen, „sich an einen solchen Mann zu hängen!“ Zu meinen Kindern und Enkelkindern habe ich ein überwiegend gutes Verhältnis.
de Haan: Wenn Sie zurückblicken auf Ihr berufliches Leben: was waren die zwei bedeutendsten Ereignisse in den Jahren?
Borst: Die Basis für meinen akademischen Erfolg war mein Studium in den USA. Und meine Berufung an die Medizinische Hochschule Hannover.
Am Ende dieses Interviews möchte ich meiner Freude über die Berufung meines Schülers, Prof. Axel Haverich, auf unseren Lehrstuhl Ausdruck geben. Er hat den Rang der Klinik in Krankenbehandlung und Wissenschaft weiter vermehrt.