In der retrospektiven Kohortenstudie wurden über das TriNetX-Netzwerk Daten von 53 US-amerikanischen Gesundheitseinrichtungen ausgewertet. Eingeschlossen wurden über 4,6 Millionen Erwachsene ≤50 Jahre (Beobachtungszeitraum: 2010–2018), die keine bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes, Dyslipidämie, vorbestehende Myokardinfarkte oder Nikotinkonsum aufwiesen.
Es wurden zwei Kohorten definiert: Cannabis-Konsumierende (n=93.267), identifiziert über ICD-10-Codes (F12.1, F12.9, F12.90), und Nicht-Konsumierende (n=4.543.361).
Um Störfaktoren zu minimieren, erfolgte ein 1:1-Propensity-Score-Matching (n=89.776 je Gruppe) anhand klinisch relevanter Kovariablen: Alter, Geschlecht, Ethnie, Nierenerkrankung, depressive Episoden, familiäre Vorbelastung mit ischämischer Herzkrankheit, Schwangerschaft, Krebserkrankungen, Kreatinin, LDL-C, HbA1c, BMI und systolischer Blutdruck.
Primärer Endpunkt war das Auftreten eines Myokardinfarkts. Sekundäre Endpunkte waren MACE, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Gesamtmortalität.
Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 35,7 Monate in der Cannabisgruppe und 44,2 Monate in der Kontrollgruppe.
Im Ergebnis zeigte sich eine deutliche Risikozunahme in allen Endpunkten. So war beispielsweise das Risiko für einen Myokardinfarkt bei Cannabis-Konsumierenden über 6-mal höher als bei Nicht-Konsumierenden (RR: 6,19; 95%KI[4,89;7,82]). Auch das Hazard Ratio aus der Kaplan-Meier-Analyse bestätigte diesen Zusammenhang mit einem HR von 7,57 (95%KI[5,98;9,58]):
Das Forschungsteam merkt an, dass diese Risiken bei jungen Erwachsenen ohne klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren bestehen, was auf Cannabis als potenziell unabhängigen und bislang unterschätzten Risikofaktor hinweist.
Die Ergebnisse stehen im Einklang mit früheren Studien, die akute koronare Syndrome nach Cannabis-Konsum dokumentieren. Insbesondere in der ersten Stunde nach dem Konsum kann das Infarktrisiko auf das fast 5-fache ansteigen. Besonders betroffen sind anscheinend junge, zuvor kardiologisch unauffällige Personen, die sich mit Brustschmerzen vorstellen.
Als mögliche pathophysiologische Mechanismen führen die Forschenden endotheliale Dysfunktion, Freisetzung proinflammatorischer Zytokine und oxidativen Stress an, was zu koronarer Gefäßdysfunktion und Plaquedestabilisierung beitragen kann.
Zu den Einschränkungen der Studie zählt das Fehlen detaillierterer Angaben zum Cannabiskonsum. Auch eine potenzielle Fehldokumentation in den zugrundliegenden Real-World-Daten kann nicht ausgeschlossen werden. Für die zukünftige Forschung schlagen die Forschenden Untersuchungen zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen und zu Effekten von synthetischen Cannabinoiden vor. Zudem fordern sie öffentliche Gesundheitsinitiativen und eine erhöhte klinische Wachsamkeit bei dem Thema.
Mit dem neuen Cannabisgesetz 2024 hat die Bundesregierung die Hemmschwelle zum regelmäßigen Konsum gesenkt. Möglicherweise wird diese Entscheidung auch zu einem höheren Aufkommen von Cannabis-Konsumentinnen und -Konsumenten im Bereich der kardiovaskulären Medizin führen. Die Studie von Kamel verdeutlicht nun, dass die Erhöhung des kardiovaskulären Risikos auch in Kollektiven ohne traditionelle Risikofaktoren nachzuweisen ist, was die potentielle Eigenständigkeit als Risikofaktor hervorhebt.
Eine relevante Limitation der Studie besteht darin, dass ICD-Diagnosen zur Selektion der Cannabis-Konsumentinnen und -Konsumenten genutzt wurden. Die Angabe der Einnahme von Cannabis als Diagnose stellt höchst wahrscheinlich bereits eine Vorauswahl von Patientinnen und Patienten dar, die weitere Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse mit sich bringen, auch wenn diese im bestehenden Studiendesign nicht weiter messbar sind. Dies ist ein Manko, welches auch in vielen vorherigen Studien präsent ist und dem Einfluss weiterer Drogen bei Misch-Konsum sowie der mit inhalativer Einnahme verbundenen Feinstaubexposition etc. nicht gerecht wird.
Dass Cannabis-Konsum mit dem Auftreten von Myokardinfarkt assoziiert ist, wurde jedoch bereits in mehreren Studien gezeigt.2,3 Auch das Auftreten von Arrhythmien scheint erhöht.4 Vermutet wird eine durch die partiell agonistische Wirkung an Cannabinoid-Rezeptor 1 und 2 hervorgerufene Änderung der Calcium- und Kaliumkanalaktivität und auch Auftreten von Hypertonie und arterieller Steifigkeit,4,5 wobei es noch wenige Daten zum Unterschied der Effekte von Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol sowie der verschiedenen Konsumformen gibt.
Übersetzt in die klinische Praxis sollte die explizite Drogenanamnese auch bei nur kurzem kardiologischem Kontakt Beachtung finden, um das kardiovaskuläre Risikoprofil umfassend einschätzen zu können. Patientinnen und Patienten mit regelmäßigem Cannabis-Konsum sollten auf die bisherige Datenlage hingewiesen werden.
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