Im Vergleich zu kostenintensiven und zeitaufwändigen Bildgebungsverfahren wie CT oder MRT ist das EKG günstig, schnell verfügbar und bereits in vielen Devices und Wearables integriert, betonte Prof. Duncker. Damit eröffnen sich breite Anwendungsmöglichkeiten für KI, auch weit über die klassische Rhythmusanalyse hinaus.
Die Fähigkeit, ein EKG selbstständig interpretieren zu können, werde wahrscheinlich schon „in sehr naher Zukunft“ deutlich an Bedeutung verlieren, so der Referent. Bereits in einer Studie von 2019 (Hannun et al.) übertraf ein Deep-Learning-Algorithmus Kardiologinnen und Kardiologen in der Detektion von Arrhythmien wie Vorhofflimmern (VHF) oder AV-Block eindeutig.
Aktuelle KI-Studien, die Duncker anführt, lassen zudem annehmen, dass im EKG mehr Informationen enthalten sind, als noch vor wenigen Jahren vermutet. Eindrucksvoll sind die KI-Vorhersagen physiologischer Parameter, die üblicherweise nicht mit dem EKG in Verbindung gebracht werden.
In der Kardiologie finden sich zudem Studien, die zeigen, dass sich Aortenklappenstenose (Cohen-Shelly et al. 2021) oder systolische Dysfunktion (Attia et al. 2019) mittels KI aus dem EKG ableiten lassen. Auch bei der Einschätzung des VHF-Risikos bei Personen in Sinus-Rhythmus und ohne VHF-Vorgeschichte können KI-Modelle helfen (Attia et al. 2019). Derlei Anwendungen seien besonders auch zur Risikostratifizierung und Patientensteuerung im hausärztlichen Bereich perspektivisch interessant.
Erfasste Merkmale, die auf den ersten Blick klinisch irrelevant erscheinen, könnten ebenfalls nützliche Informationen liefern – der Referent nannte hierzu als Beispiel das vom Algorithmus anhand des EKGs geschätzte Patientenalter (Attia et al. 2019, Lopez-Jimenez et al. 2024), das Hinweise auf die „Frailty“ der Personen liefern und so bei Entscheidungen zu Eingriffen unterstützen könne.
Eine diesjährige Publikation im European Heart Journal stellte Duncker besonders heraus.2 Dort wurde untersucht, ob sich anhand eines 1-Kanal-EKG aus den ersten 24 Stunden eines 14-Tage-Monitorings mittels KI-Modell lebensbedrohliche ventrikuläre Tachykardien für die folgenden 13 Tage vorhersagen lassen. Die retrospektive Studie umfasste >247.000 ambulante 14-Tage-EKG-Aufzeichnungen aus 6 Ländern. Bei der Validierung erreichte das KI-Modell eine „area under the receiver operating characteristic curve“ (AUC) von 0,957 (intern) und 0,948 (extern). Bei einer fixierten Spezifität von 97 % lag die Sensitivität bei 70,6 % in der internen und bei 66,1 % in der externen Validierung. Dabei waren die prädiktiven Merkmale wie ventrikuläre Extrasystolen oder fragmentierter QRS-Komplex nicht überraschend. Aber die Kombination aus Real-Time Monitoring, zuverlässiger KI-Auswertung und einfacher Smartphone-Integration ermögliche Chancen einer neuen Art des „Live-Risikomanagements“, jenseits des klinischen Settings.
Abschließend betonte der Referent die Notwendigkeit einheitlicher Qualitätsstandards für KI-Studien. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten der European Heart Rhythm Association (EHRA) hat er eine umfassende Checkliste für KI-Studien in der Elektrophysiologie entwickelt, ähnlich wie z. B. bei Meta-Analysen.3 Sie soll helfen, Methodik und Reporting zu standardisieren, was angesichts der Vielzahl neuer Publikationen dringend notwendig sei.