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Rückblick ESC Digital & AI Summit 2025

ESC Digital & AI Summit 2025 | KI-Kontroversen, EU-Regulatorik und Mensch-KI-Kooperation – im Interview mit Dr. Konstanze Betz, Rubrikleiterin Digitale Kardiologie, spricht Prof. Sandy Engelhardt, Program Chair des Kongresses, über die Highlights und Debatten der Veranstaltung. Abschließend gibt sie einen Ausblick auf den Summit im nächsten Jahr.

Von:

Dr. Konstanze Betz

Rubrikleiterin Digitale Kardiologie

 

10.12.2025

Bildquelle (Bild oben): Pani Garmyder / Shutterstock.com

Ökosystem für Innovation und Austausch

HERZMEDIZIN: Bevor wir auf den Summit zurückschauen: Wie verliefen im Vorfeld die Planung und Zielsetzung für den Debüt-Kongress?


Engelhardt: Es war mir eine Ehre, das Programm für den ersten ESC Digital and AI Summit zusammen mit Herrn Prof. Asselbergs und Herrn Prof. Bruining zu gestalten. Es hat uns etwa ein Jahr Vorbereitungszeit gekostet und unsere Ambitionen waren hoch – wir wollten die innovativsten Keyplayerinnen und Keyplayer aus vielen verschiedenen Bereichen der KI-Methodenentwicklung und Digitalisierung, der Kardiologie und Herzchirurugie, der Regulatorik sowie der Firmen und Startups im Bereich Digital Health zusammenzubringen. Das langfristige Ziel ist es, ein diverses Ökosystem zu kreieren, dass Innovation befördert und einen engen Austausch ermöglicht, denn KI kann nur durch die Bündelung von verschiedenen Kompetenzen ihr volles Potential entfalten.

Zur Person

Prof. Sandy Engelhardt

Prof. Sandy Engelhardt ist Leiterin des Instituts für Künstliche Intelligenz in der Kardiovaskulären Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg und der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Ihr Schwerpunkt liegt auf neuen Verfahren für die multizentrische und multimodale Datenanalyse, inkl. Aufbau eines nationalen KI-Netzwerks zum föderierten Training zwischen Kliniken (Tölle et al.).

Prof. Sandy Engelhardt

Zukunft liegt in Mensch-KI-Kooperation

HERZMEDIZIN: Das Programm beinhaltete zwei spannende Keynote Sessions – was sollten wir daraus mitnehmen?


Engelhardt: Die Keynote „AI decoded: how researchers, practitioners and clinicians can leverage AI for the future of healthcare“ hielt Dr. Max Tschochohei, Head of AI Engineering bei Google Cloud. Es war eine fantastische Keynote, für die ich gern auf das bereits erschienene, ausführliche Interview auf Herzmedizin.de verweise.


Die Keynote „AI and the future of medicine“ hielt Prof. Daniel Rückert, Alexander-von-Humboldt-Professor für „AI in Medicine and Healthcare“ an der TU München und Professor am Imperial College in London. Er hat den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis (2025) gewonnen, Deutschlands wichtigsten Wissenschaftspreis gefördert mit 2,5 Mio. Euro durch die DFG. Es war uns eine Ehre, ihn als Keynote-Sprecher in Berlin begrüßen zu dürfen.


Der Vortrag adressierte verschiedene Themen der KI-beschleunigten Bildrekonstruktion, dem Trainieren von MRT-basierten Foundation Models, der multimodalen Analyse von EKG und MRT sowie die Risikoanalyse von unterschiedlichsten Krankheiten anhand der UK Biobank – ein wichtiger Schritt in der Prävention von Krankheiten. 


Die großen Sprachmodelle (LLMs) sind auf den klinischen Konferenzen weiterhin das Thema Nr. 1 und so durfte auch in seinem Vortrag dieses Thema nicht fehlen. Er zeigte, dass das Benchmarking solcher Modelle hinsichtlich der Beantwortung von Examensfragen, wie sie beispielsweise beim United States Medical Licensing Examination (USMLE) verwendet werden, nicht der klinischen Realität entspricht. Hier wird die richtige Diagnose schrittweise eingegrenzt durch das Gegenüberstellen verschiedener möglicher Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können. Entsprechend werden unterschiedliche Untersuchungen angefordert und durchgeführt.


Prof. Rückert wies darauf hin, dass LLMs keine präzisen Diagnosen aller Krankheitsbilder stellen können, sich weder an Diagnose- noch an Behandlungsleitlinien halten oder etwa empfindlich auf die Menge und Reihenfolge von Informationen reagieren. Gleichzeitig zeigte er auch das immense Potential, um medizinische Fehler zu reduzieren und das Gesundheitssystem demokratischer zu machen: Momentan führt der durch Diagnosefehler in den USA verursachte Schaden („ohne KI im System“) bei schätzungsweise 800.000 Personen zum Tode oder sie erleiden dauerhafte Behinderungen aufgrund dieser Fehler, was sie zur größten Einzelursache für schwerwiegende medizinische Schäden macht. 

Er schlussfolgerte, dass die Zukunft in der Kooperation zwischen KI und den Ärztinnen und Ärzten liegt, im Spannungsfeld zwischen Human-Deskilling und der Experten-basierten Analyse, die KI als Zweitprüfung („Co-Pilot“) verwendet.

Prof. Sandy Engelhardt und Prof. Nico Bruining bei Eröffnung ESC Digital & AI Summit 2025
© European Society of Cardiology, ESC
Prof. Sandy Engelhardt (Program Chair) und Prof. Nico Bruining (Program Co-Chair) während der Eröffnung des ESC Digital & AI Summit 2025 in Berlin.

Debatte: Humanere Medizin oder Dehumanisierung durch KI?

HERZMEDIZIN: Die Debate Session stellte zwei unterschiedliche Szenarien aufgrund des Einflusses von KI gegenüber: „AI in cardiology – a force for progress or a path to big tech control of healthcare, dehumanised medicine, and the obsolescence of physicians and medical specialties?“ Können Sie für uns die beiden Positionen zusammenfassen?


Engelhardt: Prof. Gerhard Hindricks (Charité, Berlin) hat eindrücklich die Position des Fortschritts vertreten, die zu einer humaneren Medizin führt, wo die Ärztinnen und Ärzte mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben, z. B. durch automatische Dokumentation und Ambient Listening. Er beschrieb eine notwendige Transformation über alle medizinischen Disziplinen hinweg. Unser momentanes Gesundheitssystem ist finanziell überlastet, wir benötigen eine technische Disruption, um eine flächendeckende Versorgung gewährleisten zu können.


Prof. James Moon (Barts Heart Centre, London) zeigte eigene Beispiele von raren Fällen, in denen jetzige LLMs missverständliche und falsche Diagnosen stellten und hier der Experten-basierte Entscheidungsweg weiterhin unumgänglich ist. Die Kontra-Position beinhaltete die Argumente, dass wir uns momentan in einer Hype-Phase befinden, und das eigentliche Potential wesentlich niedriger einzuschätzen ist. Kardiologinnen und Kardiologen sollten sich mehr einbringen und die Transformation in der kardiovaskulären Medizin pro-aktiv steuern.


HERZMEDIZIN: Was waren aus Ihrer Sicht die größten Kontroversen?


Engelhardt: Sie zeigten sich besonders im Feedback des Patientenvertreters: Die Wahrheit liegt zwischen beiden Welten. Das Risiko für Fehldiagnosen ist momentan noch zu hoch, aber das große Potential, gerade in der Beschleunigung der Prozesse, ist sichtbar. Kontrovers zu betrachten sind die ethischen Fragen, die sich durch Fehldiagnosen von automatischen und autonomen System ergeben.


HERZMEDIZIN: Sind die möglichen Sorgen gerechtfertigt?


Engelhardt: Ja, LLMs sind bisher noch zu sensitiv bezüglich des Inputs. Sie müssen robustere Entscheidungen mit hoher Reproduzierbarkeit treffen und Unsicherheiten ausdrücken können. Momentane Modelle sind zu „overconfident“ in ihren Antworten. Es gibt aber interessante technische Möglichkeiten (zum Beispiel durch Retrieval Augmented Generation, RAG), diese Fehlerraten deutlich zu reduzieren. Ich bin gespannt, was hier in Zukunft noch möglich ist.


Die ESC hat es vorgemacht und dieses Jahr einen eigenen Chatbot veröffentlicht, der auf den momentanen Guidelines trainiert wurde. 


HERZMEDIZIN: Wie sieht aus Ihrer Sicht die Kardiologie der Zukunft in diesem Sinne aus?


Engelhardt: Generell wünsche ich mir ein Gesundheitssystem mit demokratisiertem Zugang zu Wissen; Menschen sollten vertrauenswürdige, personalisierte Einblicke in ihre eigene Gesundheit erhalten, damit sie ihre Prognose verstehen, Behandlungsoptionen erkunden und fundierte Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen treffen können, die auf sie zugeschnitten sind.

Hürden: Regulatorik und Mangel an RCTs

HERZMEDIZIN: Gab es darüber hinaus andere, vielleicht auch wiederkehrende Diskussionspunkte während des diesjährigen Summits?


Engelhardt: Ja, die strenge europäische Regulatorik erschwert es den Firmen und Startups, neue Produkte auf den Markt zu bringen, sodass KI effizient in den Kliniken genutzt werden kann. China ist hier bereits wesentlich weiter. In China nutzen bereits ca. 300 Kliniken DeepSeek zur Diagnoseunterstützung (Stand: März 2025).


In UK nutzen 20 % der Ärztinnen und Ärzte bereits generative KI im Alltag. Auch hierzulande nehme ich an, dass es eine Schattennutzung der großen Sprachmodelle im Gesundheitssystem gibt, weil die Kliniken nicht schnell genug reagieren und eigene Installationen anbieten. Hier müssen wir dringend nachbessern. Der European Health Data Space und Federated Learning sind wichtige europäische Entwicklungen, um den Zugang zu multizentrischen Daten zu erleichtern.


HERZMEDIZIN: Was waren die Top-Studien des diesjährigen Summits?


Engelhardt: Festzustellen ist, dass es global gesehen zu wenig prospektive randomisierte klinische Studien (RCTs) in der kardiovaskulären Medizin gibt, in der KI-Anwendungen gegen eine Kontrollgruppe getestet werden – andere medizinische Disziplinen sind bereits weiter. Auf dem Summit gab es zwei zusammenfassende Vorträge zu dem Thema.

 

Beispiele für randomisierte klinische Studien mit KI für Echo und EKG lieferten He et al. 2023 bzw. Tsai et al. 2025. Eine aktuelle Übersichtsarbeit diskutiert insgesamt 11 RCTs zwischen 2021 und 2024. Fünf Studien (45,5 %) berichteten über Verbesserungen bei klinischen Ereignissen, 6 (54,5 %) zeigten eine erhöhte diagnostische Genauigkeit und Früherkennung, und 3 (27,3 %) wiesen eine verbesserte Ressourcennutzung nach. Einen großen Einfluss kann KI in der automatischen Auswahl der geeigneten Patientinnen und Patienten haben (representitive population selection) und damit die Aussagekraft von Studien erhöhen.


Prof. Philipp Wild (Universitätsmedizin Mainz) zeigte außerdem in seinem Vortrag eindrücklich, wie mit Digitalen Zwillingen die Entwicklungen von Medikamenten beschleunigt werden kann. Die Kombination von phenotypisierten Kohorten und Multi-Omics erlaubt eine bessere Erkennung der richtigen Targets – eine wichtige Voraussetzung, um die Kosten von diesen teuren Studien zu reduzieren, indem im Vorfeld eine realistischere Einschätzung der Erfolgschancen erfolgen kann.


Insgesamt glaube ich, dass wir in zukünftigen Editionen des Summits die Ergebnisse von Top-KI-Studien auch prominent zeigen können.


HERZMEDIZIN: Welche der vorgestellten Innovationen werden Ihrer Meinung nach den zukünftigen klinischen Alltag besonders prägen?


Engelhardt: LLMs, angepasst an den jeweiligen Use-Case, werden definitiv in der Medizin nicht mehr wegzudenken sein.


HERZMEDIZIN: Welche Preise und Auszeichnungen wurden während des Summits vergeben?


Engelhardt: Das wissenschaftliche Programm wurde durch die Präsentation von 179 Abstracts durch 155 Vortragende aus 34 Ländern gestaltet. Diese präsentierten ihre Beiträge entweder in der eigens dafür eingerichteten Sitzung „Advances in Science“ auf der Digital Stage, als moderierte E-Poster oder als gedruckte Poster. Insgesamt gab es 11 Best Abstracts Awards, aus jeder Session wurde eine Gewinner oder ein Gewinner prämiert.


Außerdem hatten wir einen Technology and Innovation Track: Startups und akademische KI-Ingenieurinnen und -Ingenieure konnten ihre Innovationen auf der Digital Stage präsentieren und ihre Entwicklungen einen halben Tag lang im Technology and Innovation Demo Room live demonstrieren und mit den Endanwenderinnen und Endanwendern ins Gespräch kommen. Insgesamt wurden 33 Einreichungen akzeptiert und zwei ausgezeichnet.

Ausblick

HERZMEDIZIN: Können Sie bereits einen Ausblick auf den ESC Digital & AI Summit 2026 geben?


Engelhardt: Wir haben viele neue Ideen bezüglich neuer Formate und Inhalte – das Feld entwickelt sich stetig weiter. Wir werden Inhalte sowohl für Kardiologinnen und Kardiologen als auch für AI Engineers der Universitäten und aus der Health-Tech-Szene bieten. Außerdem werden wir die Hürden ausgehend von der Regulatorik noch weiterführend betrachten. Ich bin mir sicher, dass sich der Summit als Kernelement für die Weiterentwicklung der Kardiovaskulären Medizin etablieren wird.


Der Summit wird vom 12. bis 13. November 2026 in Basel stattfinden. AI Agents und Robotik werden voraussichtlich nächstes Jahr eine größere Rolle spielen, Näheres darf ich aber noch nicht verraten.


HERZMEDIZIN: Wenn Sie eine Prognose wagen würden, in welchen Bereichen wird KI in der digitalen Kardiologie in 5 Jahren nicht mehr wegzudenken sein?


Engelhardt: In meiner Hoffnung schaffen wir eine wesentlich bessere Vorsorge und Prävention, durch häufige Messungen von Vitalparametern, z. B. mittels Wearables. Momentan ist der Gang zu Spezialistinnen und Spezialisten noch unumgänglich, was oft erst bei ausgeprägter Symptomatik erfolgt.

FAQ: Schlüsselbegriffe zu Künstlicher Intelligenz

Ambient Listening bezeichnet ein Verfahren, bei der aus Gesprächen mittels KI automatisch strukturierte Notizen erstellt werden, die anschließend z. B. zur Dokumentation weiterbearbeitet werden können. Im medizinischen Kontext ermöglicht dies Ärztinnen und Ärzten, sich auf die Interaktion mit den Patientinnen und Patienten zu konzentrieren und den manuellen Verwaltungsaufwand zu reduzieren.

Federated Learning ist ein dezentrales Verfahren des Machine Learning, das den Datenschutz wahren soll. Ein zentraler Server stellt das Ausgangs-KI-Modell zur Verfügung. Auf teilnehmenden Geräten wird das Modell mit lokalen Datensätzen trainiert. Nur die Modell-Aktualisierungen wie Gewichtungen und Gradienten werden zurück an den zentralen Server übermittelt, nicht die lokalen Daten. Der zentrale Server poolt die Ergebnisse der teilnehmenden Geräte und überarbeitet das globale KI-Modell, ohne auf die lokalen Daten zurückzugreifen. Der Prozess kann fortlaufend wiederholt werden.

Deskilling beschreibt im Arbeitskontext den Prozess, bei dem durch technologischen Fortschritt bestimmte Kompetenzen bei Personen nicht mehr oder deutlich verringert erforderlich sind. Zentrale Risiken dieses auf Dauer personellen Kompetenzverlustes sind u. a., dass die Überwachung der jeweiligen Technologie und menschliches Eingreifen im Störungsfall nicht mehr oder nur schwer möglich sind.

Retrieval Augmented Generation (RAG) ist eine KI-Technik zur Optimierung von Large Language Models (LLM). Dabei erhält das LLM einen Zugriff auf spezifische, oft interne Daten, um Fragen präziser, jenseits der allgemeinen zugrundeliegenden Trainingsdaten zu beantworten.

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