Das Herz-Kreislauf-Risiko der FH-Betroffenen ist erhöht, weil sie im Blut deutlich erhöhte LDL-Cholesterin-Werte (LDL-C) haben, da zu wenige oder fehlerhafte LDL-Rezeptoren das überschüssige Cholesterin in der Leber nicht entfernen. Eine frühzeitige Erkennung der Betroffenen erlaubt, schwere Folgeerkrankungen (Herzinfarkte und Schlaganfälle) zu verhindern. Dabei nimmt aufgrund der hohen Prävalenz der FH (1 : 250) und dem individuell sehr hohen Risiko für vorzeitige Herz-Kreislauf-Erkrankungen, das Screening für die Familiäre Hypercholesterinämie eine Schlüsselrolle ein. Allein in Deutschland leben mehr als 300.000 Menschen mit FH; die kardiovaskulären Folgeerkrankungen der FH gehören zu den führenden Morbiditäts- und Mortalitätsursachen in Deutschland und führen zu hohen gesundheitsökonomischen Kosten. Die FH kann durch Messung des LDL-C-Spiegels, kombiniert mit gezielten genetischen Analysen, bei Menschen mit erhöhten LDL-C-Werten sicher und einfach diagnostiziert werden.
Auf europäischer Ebene herrscht breiter Konsens für die Durchführung dieses Screening. So wird ein systematisches Programm zur Früherkennung von FH empfohlen, welches auf die präventive Erkennung und Behandlung im Kindesalter abzielt.1,2 Die Evidenz beruht auf den gesicherten Zusammenhängen zwischen der pathophysiologischen Entwicklung der Erkrankung und der Wirksamkeit einer frühen Therapie. Statine und andere cholesterin-senkende Therapien sind effektiv und sicher; entscheidend ist ein frühzeitiger Therapiebeginn.3,4
Das 5.–10. Lebensjahr ist dabei der ideale Screeningzeitpunkt (U9). In dieser Lebensphase sind die LDL-Cholesterin-Wwerte vornehmlich genetisch determiniert und werden weniger durch Ernährung oder hormonelle Einflüsse beeinflusst. Damit lässt sich durch einen Piks in die Fingerbeere, aus wenigen Blutstropfen eine FH diagnostizieren, indem zunächst LDL-C bestimmt und, bei deutlich erhöhten Werten, nach einer genetischen Ursache gefahndet wird. Durch die hohe Teilnahmerate an der U9 (98 %) wird eine flächendeckende Untersuchung gewährleistet.
Da die Erkrankung vererbt wird ist auch immer ein Elternteil bzw. weitere Verwandte betroffen. Ein Kaskadenscreening, d. h. die gezielte genetische Untersuchung von weiteren Familienmitgliedern mit sehr hohen Cholesterinwerten ermöglicht gleichzeitig die Identifizierung und Behandlung weiterer Betroffener. Durch diese kosteneffektive Strategie kann nach ungefähr 19 Jahren nach Einführung eines FH-Screenings mit einer Detektion von aller 50 % Betroffenen in einer Population ausgegangen werden.5
Unter dem Motto „Herzinfarkt mit 35 ohne mich!“ läuft seit 2020 in Bayern ein erfolgreiches FH-Screening. Unter der Leitung des Deutschen Herzzentrums München konnten im Rahmen der VRONI-Studie über 23.000 Kinder gescreent und dabei 225 Familien mit FH identifiziert und behandelt werden. Die VRONI-Studie zeigt wie durch interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Fachdisziplinen ein Früherkennungsprogramm auch praktisch erfolgreich umgesetzt werden kann. [6] Erfahrungen aus der VRONI-Studie belegen die breite Akzeptanz seitens der Kinder, Eltern sowie der Kinder- und Jugendärzte und ärztinnen, und zwar sowohl in Hinblick auf die Blutabnahme und genetischer Testung als auch in Hinblick auf eine Statintherapie ab dem 8. Lebensjahr.
Die hohe Teilnahmerate und die leichtere Erkennung bzw. Behandlung der genetischen Störung im Kindesalter sprechen für eine Implementierung des FH-Screenings zur U9. Zudem sind Kinder in diesem Alter für langfristige gesundheitsfördernde Verhaltensweisen aufgeschlossen. Wir müssen diese Chance nutzen, um die Gesundheit der nächsten Generationen entscheidend zu verbessern und die Prävalenz von Herz-Kreislauf-Erkrankungen langfristig zu reduzieren. Nachdem das Bundesgesundheitsministerium zunächst eine Untersuchung bei der J1 angedacht hatte, wird aufgrund der Erfahrungen bei der VRONI-Studie jetzt auch die U9 als günstiger Zeitpunkt für das FH-Screening angesehen.