Bei der familiären Hypercholesterinämie (FH) handelt es sich, mit einer geschätzten Prävalenzrate von 1:250, um die häufigste monogen vererbte Erkrankung – und sie ist weltweit stark unterdiagnostiziert, so auch in Deutschland. Dabei haben Betroffene ein vielfach erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Eine frühzeitige Diagnose und Therapie kann insbesondere bei heterozygoten Patientinnen und Patienten das Atherosklerose-Risiko auf das Niveau der Allgemeinbevölkerung senken.
Hierzulande gibt es, wie in den meisten europäischen Ländern, bisher kein entsprechendes Früherkennungsprogramm für die Erkrankung. Seit einigen Jahren werden in Studien, wie Fr1dolin und VRONI, ein pädiatrisches FH-Screening erprobt. Prof. Heribert Schunkert vom Deutschen Herzzentrum München leitet die VRONI-Studie, die 2021 in Bayern startete und nun mit „VRONI im Norden“ auf Niedersachsen ausgeweitet wird.
HERZMEDIZIN: Was empfehlen die aktuellen Leitlinien zur familiären Hypercholesterinämie (FH)?
Schunkert: Zunächst sollte bei jeder Person im Erwachsenenalter mindestens einmal LDL-Cholesterin (LDL-C) im Serum bestimmt werden (Klasse-I-Indikation). Falls der LDL-C-Wert zu hoch ist, sollten klinische Kriterien, abgeklopft werden, die den Verdacht einer FH erhärten können: Dutch Lipid Clinic Network Score (DLCN-Score), sehr hohes LDL-C, Gefäßerkrankung, positive Familien-Anamnese, Xanthomata etc.
Bei Patientinnen und Patienten mit der klinischen Diagnose einer FH (DLCN-Score > 8 Punkte) ist eine Überweisung an FH-Spezialisten und eine molekulargenetische Untersuchung indiziert (Klasse-I-Indikation). Bei einem DLCN-Score von 5–8 Punkten besteht eine Klasse-IIA-Indikation.
Ist eine FH-Diagnose genetisch gesichert, sollte bei biologischen Verwandten ersten Grades und ggf. höheren Grades ein Kaskadenscreening durchgeführt werden (Klasse-I-Indikation). Bei FH-Patientinnen und -Patienten sollte schon in der Primärprävention ein LDL-C < 55 mg/dl angestrebt werden (Klasse-IIA-Indikation). Bei Kindern ab 5 Jahren sollte bei Verdacht auf FH (z. B. Elternteil betroffen) ein Screening erfolgen (Klasse-I-Indikation). Therapeutisch sollten bei Kindern eine Diätempfehlung sowie ab dem Alter von 8–10 Jahren eine Therapie mit Statinen erfolgen. Das Therapieziel bei Kindern sollte bei LDL-C < 135 mg/dl liegen (Klasse-IIA-Indikation).
„Oft verlassen selbst junge Herzinfarktpatientinnen und -patienten die Klinik ohne entsprechende Diagnose – mit verpassten Chancen für die betroffene Familie.“
Prof. Heribert Schunkert möchte für familiäre Hypercholesterinämie sensibilisieren
HERZMEDIZIN: In den Niederlanden werden über 70 % der FH-Fälle erkannt. In Deutschland werden derzeit schätzungsweise nur etwa 5 % der Betroffenen adäquat therapiert. Wie erklären sich die Unterschiede?
Schunkert: Die Niederlande hatte ein sehr erfolgreiches nationales Screeningprogramm. Seitdem werden Verdachtsfälle den FH-Spezialisten zugewiesen. Auch besteht ein breiter Konsensus zur Sinnhaftigkeit des FH-Screenings, welcher durch hochrangige Publikationen aus dem Land gestützt ist.1
In Deutschland muss die FH noch besser auf den Radar kommen: Oft verlassen selbst junge Herzinfarktpatientinnen und -patienten die Klinik ohne entsprechende Diagnose – mit verpassten Chancen für die betroffenen Familien.