Was sind Anlass und Ziel der Publikation?
Es handelt sich um die erste offizielle Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) im Bereich der Gendermedizin (auch geschlechtersensible Medizin) mit Fokus auf kardiovaskuläre Erkrankungen. Noch immer finden geschlechterspezifische und soziokulturelle Faktoren in Gesundheits- und Krankheitsforschung unzureichende Berücksichtigung. Dies wurde erkannt und die Gendermedizin gewinnt seitdem als Fachdisziplin in der Gesundheits- und Krankheitsforschung zunehmend an Bedeutung. Dieses Positionspapier dient dazu, den aktuellen Stand der Forschung zu den biologischen Geschlechterunterschieden in der Kardiologie widerzuspiegeln und Ärzten, Ärztinnen sowie ihren Patienten und Patientinnen mit kardiovaskulären Erkrankungen bei der Entscheidungsfindung zu einer optimierten personalisierten Versorgung mit Berücksichtigung geschlechterspezifischer Aspekte Hilfestellung zu bieten.
Was sind die wichtigsten Take-Home Messages?
- Unterrepräsentation von Frauen in der Forschung: Trotz fortschreitender Erkenntnisse über geschlechterspezifische Unterschiede sind Frauen in wissenschaftlichen Untersuchungen zu kardiovaskulären Erkrankungen aufgrund vielschichtiger Faktoren häufig noch unterrepräsentiert und geschlechterspezifische Analysen werden nicht konsequent durchgeführt.
- Alters- und Komorbiditätsunterschiede bei Diagnosestellung: Frauen sind bei der Diagnosestellung von kardiovaskulären Erkrankungen in der Regel älter und haben mehr Komorbiditäten als Männer, was zu höheren Komplikationsraten und höherer Krankenhaussterblichkeit führt.
- Relevanz geschlechterspezifischer Risikofaktoren: Neben den klassischen atherogenen Risikofaktoren existieren geschlechterspezifische Risikofaktoren, die bei Frauen und Männern in unterschiedlichen Lebensphasen von besonderer Bedeutung sind und das kardiovaskuläre Risiko erhöhen (siehe Abbildung 1). Eine entscheidende Rolle spielt hier auch das Klimakterium mit seinen peri- und postmenopausalen Hormonumstellungen. Es ist essenziell, diese Faktoren im kardiologischen Alltag, z. B. durch Erheben einer geschlechtersensiblen Anamnese, zu berücksichtigen und entsprechend durch Screening-, Präventions- und Therapiemaßnahmen zu adressieren.
- Pharmakotherapie: Geschlechterspezifische Unterschiede in Pharmakokinetik und Dynamik können zu unterschiedlichen Wirkungen, Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten und Therapieadhärenzen bei Männern und Frauen führen.
Eine zentrale Abbildung aus der DGK-Publikation:
Abb.: Verlauf der Hormonspiegel in verschiedenen Lebensphasen bei Frauen und Männern und geschlechterspezifische kardiovaskuläre Risikokonstellationen, den Lebensphasen entsprechend farblich markiert. Bildquelle: Baessler A., Bauer P., Becker M., et al. Geschlechterspezifische Aspekte kardiovaskulärer Erkrankungen; Kardiologie (2024); https://doi.org/10.1007/s12181-024-00694-9
Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung und mögliche Lösungen?
Es ist von zentraler Bedeutung, das Bewusstsein für geschlechterspezifische Unterschiede in Diagnostik, Therapie sowie in der Forschung und Planung klinischer Studien zu schärfen. Studien sollten darauf abzielen, ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu erreichen, festgemacht an geeigneten Kennzahlen (z. B. dem Partizipations-Prävalenz-Quotienten, PPR). Dabei sollte berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Gesundheitswahrnehmungen, soziokulturelle Faktoren, familiäre Verpflichtungen und Bedenken hinsichtlich potenzieller Risiken die Entscheidung für oder gegen eine Studienteilnahme beeinflussen können. Für den klinischen Alltag können geschlechterspezifische Betrachtungen in Praxisleitlinien einerseits und gezielte Weiterbildungen andererseits eine Optimierung der Versorgungsstruktur bewirken.
Welche Punkte sind offengeblieben?
Die umfassende Diskussion aller geschlechterspezifischen Aspekte der Kardiologie kann in einem einzelnen Positionspapier nicht vollständig abgedeckt werden. Es besteht ein anhaltender Bedarf an vertiefter Forschung, umfangreicher Datenerhebung und gründlicher Analyse, um eine solide Evidenzbasis für geschlechterspezifische Aspekte zu schaffen. Eine verbesserte Datenlage, insbesondere für Frauen, würde die Grundlage dafür bieten, gewonnene Erkenntnisse, wo angebracht, als geschlechterspezifische Empfehlungen zu formulieren und in Leitlinien zu integrieren.
Ausblick: Welche Entwicklungen zum Thema zeichnen sich ab?
Im Sinne einer individualisierten Versorgung wird die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Medizin auch in der Kardiologie weiter zunehmen. Eine wachsende Sensibilisierung für geschlechterspezifische Unterschiede in allen Bereichen der Medizin, von der Lehre über die Wissenschaft bis hin zur Klinik, ist sowohl bei Studierenden, dem medizinischen Fachpersonal als auch in Forschungsprojekten erkennbar. Diese Entwicklungen aktiv voranzutreiben, ist entscheidend, um die Datenlage nachhaltig zu verbessern und allen Patientinnen und Patienten die bestmögliche medizinische Versorgung zu bieten. Neue Bereiche wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz könnten hierbei eine zunehmend wichtige Rolle spielen.