HERZMEDIZIN: Welche besonderen Vorteile hat die Förderung durch den Innovationsfonds?
Werdan: Der besondere Vorteil einer vom Innovationsfonds geförderten Leitlinie ist die gesicherte Finanzierung des Leitlinienprojektes. Für 2020 bis 2024 fördert der Innovationsausschuss die Leitlinienentwicklung mit 5 Mio. Euro jährlich.
Auch wenn die Leitliniendelegierten der Fachgesellschaften in der Regel ihre Tätigkeit ehrenamtlich ausüben, sind die Erstellung und Überarbeitung einer Leitlinie mit erheblichen Kosten verbunden, von der Literatursuche über die Evidenzevaluierung bis zur Leitlinienerstellung. So wird beispielsweise die Leitlinie „LLKVP – S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention“ mit insgesamt 350.000 Euro für eineinhalb Jahre gefördert. Besonders berücksichtigt vom Innovationsfonds werden Empfehlungen hinsichtlich verschiedener Altersgruppen, Ethnien und Geschlechter, sowie Menschen mit Diabetes, Mehrfacherkrankung, Multimedikation und Migrationshintergrund.
HERZMEDIZIN: Zu welchen Erkrankungen gibt es gerade einen besonderen Bedarf, eine Leitlinie zu entwickeln? Bei welchen Erkrankungen wären Weiterentwicklungen notwendig?
Werdan: Für den Bereich der Herzmedizin gibt es qualitativ hochwertige Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC), welche evidenzbasiert und vor allem immer aktuell das gesamte Spektrum der Herz-Kreislauf-Medizin im Erwachsenenbereich abbilden. Hier besteht derzeit kein Defizit bezüglich der Abbildung aller relevanten Herzerkrankungen. Gegebenenfalls lohnt sich auch ein Blick in die entsprechenden internationalen Leitlinien der amerikanischen kardiologischen Gesellschaften.
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK) begleitet die englischsprachigen ESC-Leitlinien mit entsprechenden deutschsprachigen Zusammenfassungen und Kommentaren speziell für die Belange in Deutschland, so dass die Kardiologinnen und Kardiologen in Deutschland einen ausgezeichneten Überblick über alle relevanten Bereiche der Herz-Kreislauf-Medizin erwerben können.
Die Betreuung von Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen erfolgt aber nicht nur von kardiologisch tätigen Ärztinnen und Ärzten, sondern auch von Internist:innen und hausärztlich tätigen Internist:innen und Allgemeinmediziner:innen. Diese orientieren sich bei ihrem breiten Versorgungsspektrum primär nicht an den zahlreichen kardiologischen ESC-Leitlinien, sondern vielmehr an den für das gesamte Ärztespektrum angelegten Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL), welche von dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) unter Einbeziehung aller beteiligten Fachgesellschaften für die wichtigsten Herz-Kreislauf-Erkrankungen erarbeitet werden. NVL-Leitlinien existieren bereits oder befinden sich in Überarbeitung für die chronische koronare Herzkrankheit, die chronische Herzinsuffizienz und die arterielle Hypertonie. Besonders begrüßenswert ist, dass auf Initiative der DGK derzeit eine S3-Leitlinie (höchste Evidenzstufe) zu Vorhofflimmern mit Unterstützung der ÄZQ entwickelt wird.
HERZMEDIZIN: Gibt es bei dem Prozess der Leitlinien-Erstellung noch Optimierungsbedarf?
Werdan: Optimierungsbedarf gibt es immer! Ein wichtiger Aspekt ist die baldige Aktualisierung der Leitlinie nach Erscheinen neuer aktueller Daten. Leitlinien haben in der Regel eine Laufzeit von 5 Jahren, dann müssen sie aktualisiert sein; falls nicht, verfällt deren Gültigkeit. In fünf Jahren gibt es üblicherweise immer wesentliche neue Erkenntnisse, aber nur wenige Leitlinien-Teams erstellen dann aktuell ein Update der Leitlinie. Hier gibt es Bemühungen, die Aktualisierung durch Konzepte wie „Living Guidelines“ zu verbessern. Elektronische Medien können hier wichtige Beiträge leisten.
Auch die Online-Verfügbarkeit der „Point-of-Care-Information“ könnte verbessert werden. S3-Leitlinien haben in der Regel einen Umfang von 50 bis 100 Seiten. Die konkrete Fragestellung – z. B. bei der Patientenvisite: Welches Medikament in welcher Dosierung bei einer bestimmten Erkrankung? – muss dann mühevoll beim Durcharbeiten der Leitlinie gesucht werden. Hier wäre es vorteilhaft, wenn die Leitlinie die Möglichkeit böte, auf gezielte Fragen der Anwendenden gezielte Antworten zu geben oder zumindest auf den entsprechenden Leitlinientext zu verweisen. Bemühungen dieser Art, beispielsweise mit Hilfe von Apps, sind im Gange. Die Young DGK und die Mitglieder des eCardiology-Ausschusses der DGK könnten sich hier möglicherweise sehr wirksam einbringen. Die DGK gibt hier bereits wichtige Hilfestellungen: Sie verfasst zu jeder ESC-Leitlinie einen Kommentar mit den wichtigsten Leitlinieninformationen und weist auf Spezifika der jeweiligen Patientenversorgung in Deutschland hin. Darüber hinaus erstellt die DGK zu jeder ESC-Leitlinie auch eine Pocket-Leitlinie im Kitteltaschenformat, welche auch als App verfügbar ist.
HERZMEDIZIN: Was können Fachgesellschaften noch tun, damit die Leitlinien besser in den Fach- und Hausarztpraxen umgesetzt werden?
Werdan: In der Tat leben kardiologisch tätige und internistisch oder hausärztliche tätige Ärztinnen und Ärzte in zwei „Leitlinien-Welten“! Die Kardiologinnen und Kardiologen verlassen sich auf die zahlreichen ESC-Leitlinien mit den DGK-Ergänzungen, wohingegen Internist:innen und Hausärzt:innen mit ihrem weit über die Herz-Kreislauf-Medizin hinausgehenden Betreuungsspektrum sich aktuell auf die großen Themenbereiche der NVL-Leitlinien „Chronische Herzinsuffizienz“, „Chronische Koronare Herzkrankheit“ und „Arterielle Hypertonie“ beschränken. Zur besseren Umsetzung der Leitlinien in den Fach- und Hausarztpraxen engagiert sich die DGK zum einen dadurch, dass sie bei der NVL-Leitlinien-Entwicklung und -Aktualisierung konstruktiv mit anderen Fachgesellschaften zusammenarbeitet und intensive interdisziplinäre Gespräch sucht. Zum anderen ermöglichen Kurzfassungen der jeweiligen ESC-Leitlinien, wie Pocket-Leitlinien und CardioCards, auch den Nicht-Kardiologinnen und -Kardiologen einen raschen Überblick. Besonders hervorzuheben sind dabei die Master-Pocket-Leitlinien der DGK, welche eine Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Empfehlungen mehrerer zusammenhängender Leitlinien in Form von grafischen Diagnose- und Therapiealgorithmen darstellen. So gibt es z. B. Master-Pocket-Leitlinien für die Akutversorgung und für die ambulante Versorgung. Diesen Master Pocket-Leitlinien kann man nur eine weite Verbreitung weit über den Kardiologenkreis hinaus wünschen!
Die Anträge zur Förderung von Medizinischen Leitlinien für die Themenfelder
- Weiterentwicklung von Leitlinien für die Versorgung bei häufigeren Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte
- Entwicklung und Weiterentwicklung von Leitlinien für die Versorgung bei häufigeren Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes digitaler Technologien sowie des Informationsbedarfs bei Nutzung digitaler Technologien
- Weiterentwicklung von Leitlinien mit zukünftig regelmäßiger Aktualisierung („Living Guidelines“)
- Versorgung rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt
sind bis spätestens 26. September 2023, 12:00 Uhr, beim Projektträger einzureichen.