Quick Dive: Polygene Risikoscores

 

In unserer Reihe "Quick Dive" stellen die Autorinnen und Autoren von Publikationen medizinischer Fachgesellschaften prägnant die wichtigsten Hintergründe und Inhalte der jeweiligen Veröffentlichung vor. Dieses Mal wird eingetaucht in:

 

Clinical utility and implementation of polygenic risk scores for predicting cardiovascular disease

A clinical consensus statement of the ESC Council on Cardiovascular Genomics, the ESC Cardiovascular Risk Collaboration, and the European Association of Preventive Cardiology

05.02.2025 | Verfasst von: Heribert Schunkert, Emanuele Di Angelantonio, Michael Inouye, Riyaz S. Patel, Samuli Ripatti, Elisabeth Widen, Saskia C. Sanderson, Juan Pablo Kaski, John W. McEvoy, Panos Vardas, Angela Wood, Victor Aboyans, Vassilios S. Vassiliou, Frank L. J. Visseren, Luis R. Lopes, Perry Elliott, Maryam Kavousi 


Von:

Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

21.02.2025

 

Bildquelle (Bild oben): vovan / Shutterstock.com

5 Fragen an den Erstautor

Prof. Heribert Schunkert, TUM Universitätsklinikum, Deutsches Herzzentrum München

 

Was sind Anlass und Ziel der Publikation?

 

Die genetischen Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen wurden in den letzten Jahren weitgehend entschlüsselt. Insbesondere genomweite Assoziationsstudien (GWAS) erlaubten eine Vielzahl von genetischen Varianten zu identifizieren, die allesamt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Herzerkrankung erhöhen. Dabei zeigte sich, dass ein jeder Mensch eine Vielzahl dieser Risikoallele in sich trägt. Innerhalb einer Bevölkerung gibt es allerdings ein weites Spektrum, inwieweit eine Person somit genetisch belastet ist. Dieses Spektrum lässt sich in polygenen Risikoscores abbilden, die beispielsweise mit dem Risiko für das Auftreten einer koronaren Herzerkrankung korrelieren.  Das Konsensuspapier der ESC sollte nun eine Einordnung der Wertigkeit dieser polygenen Risikoscores für die praktische Anwendung liefern.

 

Was sind die wichtigsten Take-Home Messages?

 

  1. Im Zentrum der Risikoabschätzung für das Auftreten einer koronaren Herzerkrankung stehen weiterhin klinische Risikoscores, wie beispielsweise der SCORE2 von der ESC. Diese Risikoscores integrieren die wichtigsten traditionellen Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, Rauchen, Blutdruck, Cholesterin und Diabetes. Hieraus ergibt sich ein geschätztes 10-Jahres-Risiko, welches je nach Ausprägung der Risikofaktoren zwischen 0,5 % bis 30 % im 10-Jahres-Zeitraum variieren kann. Die klinische Risikoabschätzung ist weiterhin Ausgangspunkt der präventiven Maßnahmen.
  2. Polygene Risikoscores können das klinisch berechnete Risiko in Form eines Multiplikators ergänzen. Dieser „genetische“ Multiplikator variiert wiederum zwischen 0,5 bis 2.
  3. Liegt demnach das klinische 10-Jahres-Risiko bei 10 % (z. B. SCORE2) kann durch Multiplikation mit dem polygenen Risikoscore eine Differenzierung zwischen 5 und 20 % entstehen. Allerdings bleibt für die Mehrzahl der Menschen in der Bevölkerung die Schwankungsbreite geringer, da die meisten Personen einen polygenen Risikofaktor zwischen 0,8 und 1,2 haben.
  4. Andererseits weichen die untersten 10 % und die obersten 10 % in der Bevölkerungsverteilung erheblich von diesem Mittelwert ab, so dass eine klinisch relevante Neubewertung des 10-Jahres-Risikos bei solchen Personen vorgenommen werden kann.
  5. Das Konsensuspapier beschreibt nun klinische Szenarios, in welchen die Anwendung eines polygenen Risikoscores sinnvoll oder wenig hilfreich sein kann:
  • Besteht Unsicherheit, ob beispielsweise mittels Statin das LDL-Cholesterin weiter gesenkt werden soll, weil ein moderates Risiko für die koronare Herzerkrankung besteht, kann die Anwendung eines polygenen Risikoscores eine Entscheidungshilfe bieten.
  • Ist das kardiovaskuläre Risiko dagegen sehr hoch, bietet die Berechnung des polygenen Risikoscores keinen Vorteil, da ohnehin eine maximalpräventive Behandlung indiziert ist.
  • Ist das kardiovaskuläre Risiko sehr gering, besteht ebenfalls keine Indikation für einen polygenen Risikoscore, weil der Multiplikator bei niedrigem Risiko keine klinischen Konsequenzen hätte.

 

Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung und mögliche Lösungen?

 

Um die polygenen Risikoscores in der praktischen Versorgung zu verankern, sind allerdings eine Vielzahl von Voraussetzungen noch zu schaffen. Insbesondere sollten regulatorische Maßnahmen ergriffen werden, die die Indikationsstellung und Vergütung von polygenen Risikoscores regeln.

 

Welche Punkte sind offengeblieben?

 

Augenblicklich gibt es in der kardiovaskulären Medizin keine Leitlinien-unterstützte Applikation und keine Finanzierung der Scores. Dies ist in der Onkologie (z. B. Mammakarzinom) bereits geregelt. Das Konsensuspapier richtet sich damit auch insbesondere an regulatorische Behörden, um die Voraussetzungen für den klinischen Einsatz von polygenen Risikoscores zu schaffen.

 

Ausblick: Welche Entwicklungen zum Thema zeichnen sich ab?

 

Aktuell ist die klinische Anwendung von polygenen Risikoscores weitestgehend auf kommerzielle Anwender beschränkt. Die Autorinnen und Autoren des ESC-Konsensuspapiers hoffen, dass die wachsende Evidenz zu einer Neubewertung der polygenen Risikoscores in zukünftigen Leitlinien der ESC führt und damit die individuelle Risikoabschätzung durch polygene Risikoscores auch den Weg in die klinische Routine findet.

Weiter zur vorgestellten Publikation:

Clinical Consensus Statement: "Clinical utility and implementation of polygenic risk scores for predicting cardiovascular disease"

Literaturnachweis:

Schunkert H et al. Clinical utility and implementation of polygenic risk scores for predicting cardiovascular disease. Eur Heart J. Published online February 5, 2025. doi:10.1093/eurheartj/ehae649.

Zur Person

Prof. Heribert Schunkert

Prof. Heribert Schunkert ist Direktor der Abteilung Kardiologie am Deutschen Herzzentrum München und Professor für Kardiologie an der Technischen Universität München. Er forscht zur Molekulargenetik multifaktorieller Herz-Kreislauf-Erkrankungen und koordinierte mehrere EU- und BMBF-geförderte Projekte sowie ein europäisch-amerikanisches Leducq-Netzwerk zur Identifikation genetischer Wurzeln von Myokardinfarkten. (Bildquelle: Michael Timm / Deutsches Herzzentrum München)

 


Kurzinfo: Die Formate der DGK-Publikationen

Leitlinien sind für Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Stütze im klinischen Alltag, um ihre Patientinnen und Patienten nach neuestem Stand der Wissenschaft bestmöglich zu behandeln. Dabei dienen die Leitlinien als verlässliche Handlungsempfehlungen in spezifischen Situationen.

Pocket-Leitlinien sind Leitlinien in kompakter, praxisorientierter Form. Bei Übersetzungen von Pocket-Leitlinien der ESC werden alle Empfehlungsklassen und Evidenzgrade der Langfassung übernommen.

Master Pocket-Leitlinien stellen eine Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Leitlinienempfehlungen in Form von grafischen Diagnose- und Therapiealgorithmen dar. Als Quelle der Empfehlungen dienen dabei vorwiegend die nach strengen wissenschaftlichen Kriterien erstellten Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) sowie deren deutsche Übersetzung durch die DGK.

CardioCards behandeln im Wesentlichen Themen der Diagnostik und Akuttherapie für den ambulanten Bereich. Hier werden die essenziellen Informationen von Leitlinien komprimiert und übersichtlich zusammengefasst.

Kommentare beinhalten Hinweise, wie sich die neuen von den alten Leitlinien unterscheiden, Hinweise auf wesentliche Neuerungen, die seit dem Erscheinen der ESC-Leitlinien bekannt geworden sind, Diskussion kontroverser Empfehlungen in den ESC-Leitlinien sowie Möglichkeiten und Grenzen der Leitlinienumsetzung im Bereich des deutschen Gesundheitswesens.

Ein Positionspapier behandelt eine Fragestellung von großem allgemeinen Interesse, für die keine aktuelle Leitlinie vorliegt.

Bei einem Konsensuspapier handelt es sich um ein von mehreren Fachgesellschaften getragenes Statement.

Diese Veröffentlichungen enthalten Empfehlungen einer DGK-Arbeitsgruppe zu einer speziellen Frage von großem Interesse.

Stellungnahmen der DGK beziehen sich auf gesundheitspolitische Fragestellungen und erfolgen durch den Vorstand, gemeinsam mit Kommissionen und Projektgruppen. Sofern möglich und sinnvoll, werden auch Fachgesellschaft-übergreifende Stellungnahmen ausgearbeitet.

Ein Manual ist eine praktisch orientierte Expertenempfehlung für wesentliche kardiovaskuläre Prozeduren.

Das könnte Sie auch interessieren

Youngs für Youngs: Transösophageale Echokardiographie

Young Cardiology | Die Reihe gibt einen praktischen Überblick zu wichtigen Verfahren. Folge 2: TEE. Von Dr. L. Wienecke und PD Dr. H. ten Freyhaus.

Nationale Versorgungsleitlinie zu KHK: Versorgung gefährdet?

Die NVL zur chronischen KHK widerspricht in vielen Punkten aktueller Evidenz, so die DGK. Prof. H. Thiele, Prof. J. Mehili und Prof. B. Nowak im Interview.

DGK-Positionspapier zur Schnittbildgebung Teil II: Kardiale Magnetresonanztomographie zur periprozeduralen Planung und Durchführung von kardialen Interventionen

Die kardiovaskuläre Magnetresonanztomographie (k-MRT) als ein zentrales Diagnoseinstrument in der kardiovaskulären Medizin mit umfassender Analysemöglichkeiten von myokardialer Morphologie, Funktion und nicht-invasiver quantitativer Gewebedifferenzierung.

Laden, bitte warten.
Diese Seite teilen