Jedes Jahr unterziehen sich Millionen Menschen auf der ganzen Welt Eingriffen am Herzen unter Sedierung, wie Herzkatheteruntersuchungen oder Schrittmacherimplantationen. Sowohl die amerikanische Gesellschaft für Anästhesiologie (ASA) als auch die deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) empfehlen, die Nüchternheitsregeln für Nahrung (6 Stunden) und für klare Flüssigkeiten (2 Stunden) vor diesen minimalinvasiven Eingriffen einzuhalten.1,2 Allerdings ist die Evidenz für diese Regeln gering und bereits mehrere klinische Studien, darunter die CHOW NOW, wiesen darauf hin, dass das Fasten keine Vorteile bringt.3-5
In der multizentrischen randomisierten SCOFF-Studie wurde die Nicht-Unterlegenheit der Nicht-Nüchternheit gegenüber der Nüchternheit vor elektiven minimalinvasiven Herzeingriffen untersucht. Die Studie wurde auf dem ESC-Kongress vorgestellt und zeitgleich publiziert.6,7
Die multizentrische, randomisierte Nicht-Unterlegenheitsstudie wurde an 6 Zentren in Australien durchgeführt. 716 Personen wurden vor minimalinvasiven Eingriffen (Koronarangiografie, Koronarintervention oder Schrittmacherimplantation) randomisiert entweder in die Nüchtern-Gruppe (keine Nahrung 6 Stunden und keine Flüssigkeiten 2 Stunden zuvor) eingeteilt oder durften Essen und Trinken wie gewohnt. Der primäre kombinierte Endpunkt setzte sich zusammen aus dem Auftreten von Hypotonien, pulmonalen Aspirationen, Hyperglykämien oder Hypoglykämien. Zu den sekundären Endpunkten zählten u.a. die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten, die Übernahme auf eine Intensivstation und die 30-Tages-Mortalität.
Die Patientencharakteristika waren in beiden Gruppen ähnlich: 65 % Männer, mittleres Alter 70 Jahre, BMI 29,6 kg/m2 und 27 % mit Diabetes mellitus Typ 2 (Mittelwerte). In der Nüchtern-Gruppe hatten die Teilnehmenden im Schnitt jeweils 13,2 Stunden vor dem Eingriff nichts gegessen und 7,0 Stunden nichts getrunken gegenüber 3,0 bzw. 2,4 Stunden in der Nicht-Nüchtern-Gruppe. Der primäre Endpunkt (Hypotonien, pulmonale Aspirationen, Hyperglykämien oder Hypoglykämien) trat häufiger in der Nüchtern-Gruppe gegenüber der Nicht-Nüchtern-Gruppe auf: 19,1 % vs. 12,0 %.
Weiterhin wurde eine signifikant höhere Zufriedenheit in der Gruppe ohne Nüchternheitsregeln dokumentiert: 11 Punkte vs. 14 Punkte, wobei ein niedriger Score einer höheren Zufriedenheit entspricht.
Nüchternheit vor elektiven minimalinvasiven Herzeingriffen bringt keine Vorteile für die Sicherheit und Personen, die essen und trinken dürfen, sind zufriedener. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren liegt nun genügend Evidenz vor, um die Leitlinien-Empfehlungen zu überarbeiten und die Nüchternheitsregeln vor minimalinvasiven Herzeingriffen komplett abzuschaffen.
Fasten stellt eine Stress-Situation für den Organismus dar und hat unter anderem dramatische Auswirkungen auf das Immunsystem, die wir noch nicht ganz verstehen. In Tierstudien konnten wir beobachten, dass Leukozyten beim Fasten aus dem Blut ins Knochenmark abwandern und dort ausharren, während gleichzeitig die Produktion an neuen Leukozyten herunter gedrosselt wird.8 Die Auswirkungen des Fastens sind komplex und ein spannendes Forschungsgebiet, zu dem wir in Aachen auch gerade eine klinische Studie initiiert haben.
Bei der Patientenpopulation der SCOFF-Studie handelte es sich um eine breitgefächerte Kohorte mit einem mittleren bis niedrigen Risiko, die unserem Klinik-Alltag entspricht. Im primären Endpunkt zeigte sich, dass das Nicht-Fasten nicht nur nicht-unterlegen, sondern sogar überlegen war. In der Fasten-Gruppe traten mehr Ereignisse des kombinierten primären Endpunktes auf, allerdings kein einziger Fall einer Aspiration. Interessanterweise waren die Haupttreiber des primären Endpunktes Hypotonien und Hyper-/Hypoglykämien - möglicherweise als Stressantwort auf das Fasten.
Insgesamt hat die SCOFF-Studie klar gezeigt, dass Fasten vor elektiven Herzkatheteruntersuchungen und in Sedierung durchgeführten Schrittmachereingriffen nicht nötig ist und sogar zu mehr Ereignissen (Hypotonie, Hyper-/Hypoglykämien) führt. Obwohl SCOFF eine kontrollierte klinische Studie ist, spiegelt sie das Real-World-Setting wider mit dem typischen Patientenkollektiv, das wir jeden Tag in der Klinik sehen. Daher haben wir dieses Studienergebnis bereits in die Praxis implementiert. Schon vor der SCOFF-Studie war ein kleines Frühstück vor dem Eingriff erlaubt, aber diese Regel wurde nochmals weiter gelockert, so dass vor elektiven Herzkatheter-Eingriffen bei stabilen Patientinnen und Patienten bei uns jetzt nicht mehr gefastet wird.