Was sind Anlass und Ziel der Publikation?
Im Herbst 2024 wurden die neuen ESC-Leitlinien zum Management des chronischen Koronarsyndroms (CCS) veröffentlicht. Sie definieren das CCS neu, betonen das risikofaktorbasierte Modell zur Abschätzung der Vortestwahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK und unterstreichen den Stellenwert der koronaren CT bei Patientinnen und Patienten mit niedrigem bis mittlerem Risiko sowie die Bedeutung der Myokardrevaskularisation zur Prognoseverbesserung. Zentrale Neuerungen werden von DGK-Expertinnen und -Experten praxisnah aus Sicht des deutschen Gesundheitssystems kommentiert.
Was sind die wichtigsten Take-Home Messages?
- Die klinischen Symptome eines CCS reichen von Angina pectoris, Brustschmerzen und Atemnot bis zur Symptomfreiheit. Ein Fehlen von Angina – etwa bei Diabetikern mit autonomer Neuropathie oder inaktiven Älteren – schließt CCS nicht aus. Symptome mikrovaskulärer, vasospastischer und obstruktiver Angina können sich überschneiden. Studien zeigen, dass der Langzeitverlauf bei typischer und atypischer Angina ähnlich ist – die alte Einteilung hat daher nur geringen prognostischen Wert. Stattdessen sind eine präzise Symptombeschreibung und gründliche Abklärung notwendig, bevor Brustschmerz als nicht-kardial eingestuft wird.
- Die individuelle Ermittlung der Prätestwahrscheinlichkeit (PTW) für eine obstruktive KHK bleibt entscheidend für die Wahl der Diagnostik. Neu ist die Nutzung des RF-CL-Modells, das Symptome, Risikofaktoren sowie Alter und Geschlecht einbezieht. Bei niedriger PTW hilft die Kombination aus dem Koronarkalkscore (CACS) und dem RF-CL (CACS-RF-CL), unnötige kardiale Untersuchungen effektiver zu vermeiden als andere Modelle oder der CACS allein.
- Die weiterführende Diagnostik richtet sich nach der PTW: Bei niedriger bis moderater PTW (5–50 %) wird die CT-Koronarangiographie empfohlen. Bei moderater bis hoher PTW (16–85 %) ist eine funktionelle Bildgebung wie ein PET/SPECT, Stress-MRT oder -Echokardiographie sinnvoll. Eine invasive Koronarangiographie bleibt nur bei sehr hoher PTW (>85 %) indiziert sowie wenn eine koronare CT-Angiographie oder ein nicht-invasive Ischämieverfahren ein hohes Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis zeigen (z. B. ≥50 % Hauptstammstenose, ≥70 % proximale LAD-Stenose mit oder ohne Mehrgefäßerkrankung in der CT-Angiographie oder eine moderate bis ausgeprägte Ischämie in bildgebenden Verfahren).
- Bei CCS sind Lebensstilveränderungen, die konsequente Risikofaktoren-Kontrolle und eine Erkrankungs-modifizierende medikamentöse Therapie, unabhängig vom Schweregrad der KHK und der Revaskularisationsbehandlung, zur Prognoseverbesserung indiziert. Ein LDL-Cholesterin (LDL-C) Zielwert <55 mg/dl (<1,4 mmol/l) sowie eine LDL-C Reduktion >=50 % vom Ausgangswert ist der empfohlen Zielwert für die lipidsenkende Therapie. Bei CCS- Patientinnen und -Patienten, die ein zweites kardiovaskuläres Ereignis innerhalb von zwei Jahren erleiden, kann ein LDL-C-Zielwert <40 mg/dl (<1,0 mmol/l) erwogen werden.
- Neben Symptomlinderung und besserer Lebensqualität optimiert die Myokardrevaskularisation (PCI oder CABG) ergänzend zur bestmöglichen medikamentösen Therapie, insbesondere bei schwerer und ausgedehnter KHK, auch die Langzeitprognose durch ein geringeres Risiko für einen Infarkt und den kardiovaskulären Tod. Die Wahl der Revaskularisationsverfahren bei operablen Patientinnen und Patienten hängt vom KHK-Schweregrad und Diabetesstatus ab. Zentrale Bedeutung hat die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen den Betroffenen und dem Behandlungsteam.
Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung und mögliche Lösungen?
Die Betreuung von CCS-Patientinnen und -Patienten kann nicht allein durch Kardiologinnen und Kardiologen erfolgen, sondern erfordert eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit. Eine zügige Umsetzung evidenzbasierter Leitlinien in die Praxis ist entscheidend. Dazu beitragen sollen die Übernahme der ESC-Empfehlungen in die Nationalversorgungsleitlinien sowie eine allgemeinverständliche Patientenversion.
Welche Punkte sind offengeblieben?
Diagnostische Strategien bei CCS wurden überwiegend bei Personen mit moderater PTW untersucht; Daten für niedrige PTW-Gruppen (<5–15 %) fehlen. Auch zur nicht-invasiven Bildgebung bei ANOCA/INOCA und zur evidenzbasierten Therapie nicht-obstruktiver KHK besteht Forschungsbedarf. Aus Sicht der DGK sollte bei prognostisch relevanter stenosierender KHK die Revaskularisation bevorzugt werden. Unklar sind der Einfluss auf Gesamtmortalität, der optimale Zeitpunkt der PCI-Vollständigkeit sowie der Vergleich von CABG und PCI bei ischämischer Kardiomyopathie und HFrEF unter moderner Therapie. Weitere Studien sind nötig zur Förderung gesunder Lebensstile, Adhärenz sowie zur Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen im Arbeitsumfeld.
Ausblick: Welche Entwicklungen zum Thema zeichnen sich ab?
Zahlreiche laufende randomisierte Studien zur Diagnostik und Therapie von CCS-Patientinnen und -Patienten haben das Potenzial, offene Fragen zu klären und die klinische Praxis über die Leitlinien von 2024 hinaus evidenzbasiert weiterzuentwickeln – etwa zur Identifikation von CCS-Biomarkern, zur Wirksamkeit niedrig dosierter Antikoagulanzien oder antithrombozytärer Therapien sowie zum Nutzen des Koronarsinusverschlusses bei refraktärer Angina trotz leitliniengerechter Behandlung.
DGK-Kommentar zu den Leitlinien der ESC (2024) zum chronischen Koronarsyndrom
Literaturnachweis:
Mehilli, J., Rudolph, T., Wassmann, S. et al.
DGK-Kommentar zu den Leitlinien der ESC (2024) zum
chronischen Koronarsyndrom
Kardiologie (2025). https://doi.org/10.1007/s12181-025-00755-7