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In kardiologischen Fachabteilungen in Deutschland bestehen derzeit Versorgungsdefizite hinsichtlich einer geschlechtersensiblen personalisierten medizinischen Versorgung. Das theoretische Wissen der letzten 15 Jahre zu Geschlechterunterschieden bei kardiovaskulären Erkrankungen soll in die Versorgung und Lehre integriert werden. Das Ausmaß der Umsetzung der medizinischen Leitlinienempfehlungen der ESC[1], DGK[2] und AWMF[3] und Expertenstandards der DNQP[4] auf kardiologischen Stationen ist nicht bekannt.
Das Innovationsfonds geförderte Projekt HeartGap (Laufzeit 01/2023-12/2024) untersucht den Grad der Implementierung von Geschlechterunterschieden bei der kardiovaskulären Versorgung von Patientinnen und Patienten überwiegend mit chronischem oder akuten Koronarsyndrom auf kardiologischen Stationen in Deutschland. In der empirischen Studie werden Einstellung und Wissen zu Geschlechterunterschieden bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Myokardinfarkt von Ärzt:innen und Pflegekräften auf kardiologischen Stationen deutschlandweit erhoben. Ziel des Projektes ist es Implementierungsmaßnahmen sowie fördernde und hemmende Einflussfaktoren zu erfassen. Erwartungen der Patient:innen erweitern die Datenerhebung, um aus der Perspektive der Patient:innen und Versorgenden Handlungsempfehlungen ableiten zu können.
Analysiert wird die Diskrepanz zwischen der Evidenz, basierend auf den medizinischen Leitlinienempfehlungen und der praktischen Umsetzung geschlechtersensibler medizinischer und pflegerischer Inhalte zur Versorgung von Patient:innen mit Myokardinfarkt während des stationären Aufenthalts. Die systematische Analyse bezog sich auf die kardiologischen Leitlinien der DGK, AWMF und ESC für Myokardinfarkt und Expertenstandards der DNQP auf Inhalte zu Geschlechtersensibilität.
Das Projekt hat ein Mixed-Methods Forschungsdesign, bestehend aus systematischen Literaturanalysen in Form eines Scoping-Reviews, qualitativen Erhebungen (Fokusgruppeninterviews, und Eperteninterviews) mit inhaltsanalytischen Analysen und quantitativen Erhebungen (Fragebogenerhebung) mit statistischen Auswertungen (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Methodischer Ablauf der Studie HeartGap. Übersetzt nach Sgraja et al. 2024.
Aus der Triangulation der Forschungsergebnisse werden Umsetzungsempfehlungen entwickelt.
Abbildung 2 zeigt welche Forschungsfrage mit welcher Methodik beantwortet wird.
Abb. 2: Mixed-Methods Ansatz und Forschungsfragen. Eigene Darstellung.
Leitlinien-Screening und Analyse
Das Screening der Leitlinien ergab, dass bisher nur vereinzelte Inhalte und konkrete Handlungsempfehlungen zu geschlechterspezifischen Unterscheidungen enthalten sind.
Aufarbeitung des Hintergrundwissens in Form einer systematischen Literaturrecherche
aus Public Health-Perspektive
Die eingeschlossenen Artikel lassen sich in folgende Dimensionen einordnen: Edukation, Forschung & Wissenschaft, Politik, LGBTQ+-Versorgung & Edukation, Versorgungseinrichtungen und Karriereförderung. Zentrale Ergebnisse beziehen sich auf die Implementierung von geschlechtersensibler Versorgung (GSV+) in die Pflichtlehre der Curricula und Pflegeausbildung (Dettmer et al. 2021). In der Forschung sollte GSV+ berücksichtigt und durch strukturierte Rahmenwerke für geschlechterspezifische Leitlinien gefördert werden. Zukünftige Forschung und Evidenz sind essenziell für die Weiterentwicklung der geschlechtersensiblen Medizin (McGregor & Choo, 2012). Da GSV+ eine Querschnittsthematik darstellt, sollten Implementierungsmaßnahmen interdisziplinär unter Einbeziehung von Forschung, Politik und Lehre entwickelt werden (Miller & Bahn, 2013).
Qualitative Forschung:
Die Inhalte aus den qualitativen Fokusgruppen verdeutlichen, dass das Bewusstsein für die Relevanz und die Umsetzung von GSV+ unter den medizinischen Fachkräften stark variieren. Vielen Versorgenden ist nicht bewusst, dass geschlechterspezifische Unterschiede teilweise in medizinischen Leitlinien und Expertenstandards enthalten sind. GSV+ werde in der Versorgung nur teilweise berücksichtigt. Zeitliche Einschränkungen als zusätzliche Belastung würden ebenfalls dazu beitragen, dass GSV+ im klinischen Alltag oft vernachlässigt wird. Darüber hinaus fehlten in vielen Schulungs- und Ausbildungsmaterialien Inhalte zur GSV+, und die vorhandenen Leitlinien werden als unpräzise und wenig praxisorientiert wahrgenommen. Dennoch konnten im Zuge der Fokusgruppen förderliche Faktoren und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation identifiziert werden. Eine Steigerung des Bewusstseins und eine umfassende Aufklärung zur GSV+ sind unbedingt erforderlich. Zudem ist es essenziell, mehr belastbare Evidenz zum Thema GSV+ zu generieren und diese in Form von komprimierten Handlungsempfehlungen aufzubereiten. Eine stärkere Verankerung von geschlechterspezifischen Merkmalen bei Krankheitsbildern in der medizinischen Ausbildung und deren Prüfungspflicht könnte ebenfalls einen entscheidenden Beitrag leisten.
Quantitative Forschung durch Fragebogenerhebung:
Die quantitative Studie läuft derzeit und die Ergebnisse werden bis Ende Q4 2024 erwartet.
Erhoben wird der Grad der Geschlechtersensibilität und die Umsetzung durch Ärzt:innen und Pflegekräfte.
Die Zwischenergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit, die GSV+ im klinischen Alltag durch konkrete Umsetzungsempfehlungen zu stärken. Sowohl ärztliches als auch pflegerisches Personal fordert praxisnahe Leitlinien, die eine effektive Anwendung von GSV+ unter einer individualisierten Betrachtung der Patient:innen ermöglichen. Die HeartGap-Studie zielt darauf ab, ein strukturiertes Implementierungskonzept zu entwickeln, das auf einem Top-down-Ansatz zur Unterstützung des Changemanagements in Versorgungsinstitutionen basiert und durch Bottom-up-Initiativen, wie Awareness und Aufklärung, ergänzt wird. Dabei sollten bestehende strukturelle Hürden überwunden und das Bewusstsein für die Bedeutung von GSV+ auf individueller und institutioneller Ebene signifikant gestärkt werden.
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