In den letzten Jahren hat sich die auf dem Next-generation sequencing basierende Exomsequenzierung (d.h. Sequenzierung der kodierenden Bereiche der DNA, ca. 20.000 Gene) als diagnostische Methode bei der Abklärung von angeborenen Erkrankungen durchgesetzt. So wurde in einem 2021 publizierten Statement des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) der diagnostische Einsatz einer Exom- bzw. Genomsequenzierung bei angeborenen Anomalien oder einer Entwicklungsverzögerung/mentalen Retardierung empfohlen (1). Diese umfassende Sequenzierung geht mit der Möglichkeit von Zusatzbefunden, d.h. genetischen Varianten, die nicht als Ursache der vorliegenden Erkrankung zu werten sind, einher. In der klinischen Praxis sollten lediglich jene genetischen Zusatzbefunde berichtet werden, welche mit einer präventiven oder therapeutischen Konsequenz für Patient:innen einhergehen. Eine Übersicht mit Empfehlungen, welche Zusatzbefunde berichtet werden sollten, wird hierfür regelmäßig vom ACMG veröffentlicht. Der größte Anteil der zu berichtenden Varianten befindet sich vor allem in Genen, welche mit onkologischen oder kardiovaskulären Erkrankungen assoziiert werden (2).
Diese Studie untersucht, welche kardiogenetischen Zusatzbefunde in der Routine-Exomdiagnostik identifiziert werden und wie viele dieser Zusatzbefunde durch eine selektive Auswertung von Indexpatient:innen (klinisch betroffene Patient:innen) bei Familienuntersuchungen übersehen werden.
Exomdaten von 9962 Individuen, die am Institut für Humangenetik (TUM Universitätsklinikum München) erhoben wurden, wurden gemäß den ACMG-Empfehlungen (v3.1) (2) auf kardiale Zusatzbefunde analysiert. Durch eine systematische Suche wurden zunächst Varianten identifiziert, die in der Datenbank ClinVar bereits als „(wahrscheinlich) pathogen“ bewertet wurden. In einem zweiten Schritt wurden Loss-of-Function (LoF)-Varianten in Genen priorisiert, bei welchen ein LoF der bekannte Pathomechanismus ist. Alle Varianten wurden von einem Facharzt für Humangenetik validiert.
52 % der 9962 Individuen (5201/9962) waren Indexpatient:innen. Bei 5677 Patient:innen in dieser Kohorte (5677/9962, 57 %) wurde klinisch das Vorliegen einer nicht-kardiologischen, monogenen Erkrankung vermutet. Die Häufigkeit von relevanten kardiogenetischen Zusatzbefunden lag insgesamt bei 1,4 % (136/9962). In 71 Fällen (52 %) handelte es sich hierbei um Indexpatient:innen. Bei den meisten der betroffenen Individuen traten Varianten im LDLR-Gen (24/136, 17,6 %) auf, die mit einer familiären Hypercholesterinämie (MIM #143890) assoziiert werden, sowie Varianten im TTN-Gen (24/136, 17,6 %), welche mit einer dilatativen Kardiomyopathie (MIM #604145) in Verbindung stehen (Übersicht über die identifizierten kardiogenetischen Erkrankungen in Abbildung 1). 31,6 % (43/136) der Varianten waren zuvor in den diagnostischen Befunden berichtet worden, während das bei 47,1 % (64/136) der Individuen nicht der Fall war. In weiteren 21,3 % der Fälle (29/136), war die Exomsequenzierung im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt und kein schriftlicher Befund erstellt worden. In insgesamt 36 Fällen (36/136, 26,5 %) konnte die relevante Variante lediglich in einem klinisch nicht-betroffenen Eltern von einem Indexpatienten nachgewiesen werden.
Wir konnten zeigen, dass mindestens 1-2 von 100 Individuen eine relevante kardiogenetische Variante tragen. Genetisch beratende Ärzt:innen sollten diesen Aspekt bei der Aufklärung von Exom- oder Genom-basierten Diagnostiken berücksichtigen. Die Zustimmung der Patient:innen bezüglich der Mitteilung von Zusatzbefunden sollte bereits im Rahmen der Aufklärung eingeholt werden.
Abbildung 1 : Zusatzbefundlich identifizierte kardiogenetische Erkrankungen in 9962 Exomen.