Robotik, AR und Digital Twins – bald Standard?

 

ESC Digital & AI Summit 2025 | Inwieweit Kardiologie und Herzchirurgie vor einem digitalen Umbruch stehen, beleuchtet der Herzchirurg und ehemalige Präsident der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) Prof. Friedhelm Beyersdorf im Interview. Auf dem Kongress leitete er Sitzungen zu den Themen (Tele-)Robotics, Augmented Reality und digitale Zwillinge.

Von:

Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

04.12.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Pani Garmyder / Shutterstock.com

HERZMEDIZIN: Bevor wir näher auf einzelne Themen eingehen: Welche Eindrücke haben Sie insgesamt vom Kongress mitgenommen?


Beyersdorf: Es wurde zunächst einmal das bestätigt, was wir alle schon wissen und oft gehört haben: KI hat das Potential, unser gesamtes Leben und damit auch die Medizin komplett zu verändern und – bei dem richtigen Gebrauch – auch zum besseren für Patientinnen und Patienten, dem gesamten Gesundheitssystem und sogar der Wirtschaft allgemein. Erfreulicherweise gibt es in Europa – und in Deutschland – bereits viele Start-ups mit sehr interessanten, innovativen und praktisch bedeutenden Algorithmen für die KI.


Aber: Es mangelt noch deutlich an a) qualitativ guten Daten in quantitativ großen Mengen, b) Studien zur Validierung der durch KI generierten Ergebnisse, und vor allem auch an c) klaren Konzepten, wie man konkret mit KI, Geld sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für das Gesundheitssystem einsparen kann, und demzufolge d) bisher eine nur geringe Implementierung in den Kliniken erfolgt.


Die KI im Jahr 2025 ist vergleichbar mit einem 3-jährigen Kind – von dem man auch nicht erwarten kann, dass alles perfekt ist. Es wird sich ohne Zweifel weiter entwickeln – aber ohne die Beantwortung der o. g. Punkte wird sich die Akzeptanz, Einführung und Weiterentwicklung der KI weiter verzögern.

Zur Person

Prof. Friedhelm Beyersdorf

Prof. Friedhelm Beyersdorf ist Herzchirurg und war Präsident der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) (2021–2022) sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG) (2009–2011). Seit April 2022 ist er nicht mehr klinisch tätig, aber weiter als Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg angestellt.

Bildquelle: Universitätsklinikum Freiburg

AR und Digital Twins gewinnen an Bedeutung

 

HERZMEDIZIN: Sie hatten den Co-Vorsitz in der Session „Augmented reality and digital twinning“ inne. Können Sie uns einen Überblick zu den vorgestellten Entwicklungen geben?

 
Beyersdorf: Alle vier Vorträge verdeutlichten das Potenzial von immersiven Technologien wie Augmented Reality sowie von digitalen Zwillingen in der kardiovaskulären Medizin. Sie ermöglichen prinzipiell eine anschauliche Patientenaufklärung, eine präzise präoperative Planung und Simulationstrainings an patientenspezifischen Modellen. Daraus ergeben sich steilere Lernkurven sowie kürzere Durchleuchtungs- und Eingriffszeiten. Ein umfassender „Digital Twin“ – der z. B. auch Genetik und Proteomik der Person berücksichtigt, was beispielsweise auch für die Medikamentengabe interessant wäre – existiert allerdings noch nicht. Der Begriff wurde im Rahmen der Sitzung für 3D-Modelle genutzt, die auf personenspezifischen CT- oder MRT-Daten beruhen.


Die vorgestellten virtuellen Herzen auf Basis von CT/MRT-Daten erlauben eine Navigation im 3D-Modell, inklusive Eindringen in Herzstrukturen und Gefäße sowie der Darstellung von Endotheloberflächen, und können so die Prozedurplanung vereinfachen. Auch 3D-Drucke (statt virtueller Modelle) kommen als „Digital Twin im weiteren Sinne“ bereits zum Einsatz, z. B. in Freiburg, vor allem als Anschauungsobjekte bei komplexen angeborenen Herzfehlern. Der klinische Einsatz ist aber aus Kostengründen begrenzt. Noch interessanter wird es, wenn die virtuellen Modelle auf Basis von Photon-Counting-CT und durch multimodale Kombination z. B. mit Echodaten noch präzisere Einblicke schaffen.


In der Kongresssitzung wurde zudem ein komplexer hämodynamischer Simulator vorgestellt, in dessen Apparatur patientenspezifische Mitralklappen aus dem 3D-Drucker eingesetzt werden können. So kann in vitro am anatomischen Modell der Eingriff geübt werden, einschließlich Überprüfung einer evtl. Klappen-Restinsuffizienz. Das Gerät ist aber „homemade“ und (noch) nicht auf dem Markt erhältlich.

Roboterchirurgie hält Einzug in die Kliniken

 

HERZMEDIZIN: Auch die Joint Session mit der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) haben Sie mitgeleitet. Der Titel lautete: „Augmented reality, telerobotics and 5G for surgical approaches“. Was tut sich auf diesem Gebiet?

 

Beyersdorf: Die robotergestützte oder roboterassistierte Herzchirurgie wird technisch immer ausgereifter und steht vor der flächendeckenden Einführung, wie auch die Vorträge der Kongresssitzung zeigten. Bisher wurde die robotergestützte Herzchirurgie allerdings in Europa zum größten Teil aus regulatorischen Gründen gebremst. So sind in den USA intrakardiale Eingriffe mit Robotern seit vielen Jahren verbreitet. In Europa hat das die MDR (Medical Device Regulation) bisher verhindert. Eine regulatorische Anpassung ist nun absehbar und für Ende 2026 erwartet; Hersteller investieren bereits in neue, deutlich weiterentwickelte herzchirurgische Robotersysteme für die EU.


Inzwischen gibt es Robotersysteme mit taktilen Fähigkeiten, sodass Widerstände für die Operierenden spürbar werden. KI unterstützt dabei, verdeckte Strukturen, wie z. B. Koronararterien unter Fett, besser zu erkennen. Immer feinere Visualisierungen und Instrumente ermöglichen „Supermicrosurgery“, wobei die Robotersysteme jeglichen Tremor unterdrücken können. Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das ein geringeres chirurgisches Trauma, weniger Schmerzen und Komplikationen und damit eine schnellere Erholung. Dadurch wird sich auf Dauer auch Geld einsparen lassen. Also die Roboterchirurgie wird sich weiter durchsetzen.


Bei der 5G-Telerobotik oder „Remote Surgery“ sehe ich noch viele Fragezeichen. Bereits 2001 wurde transatlantisch erstmals ein solches Tele-Verfahren eingesetzt. 2019 folgte China. Aber es tut sich insgesamt nicht viel auf dem Gebiet. Ich bin da auch etwas skeptisch, was den Nutzen angeht. Mir würde es schlaflose Nächte bereiten, wenn ich beispielsweise von Freiburg aus in New York eine Person operiere und dann kommt es zu Nachblutungen oder Ähnlichem. Es birgt das Potenzial, das gewisse Spezialistinnen und Spezialisten irgendwo zentral sitzen können, aber Stand heute ist das im wahrsten Sinne erst mal sehr weit weg.


Ein anderes Thema der Session war noch Extended Reality bzw. Augmented Reality in der herzmedizinischen Ausbildung. Das ist schon beeindruckend, was damit alles virtuell geübt werden kann: Priming der extrakorporalen Zirkulation, Wiederbelebung (CPR), TAVI, koronare Bypass-OP (CABG). Dabei wird die Teamsituation virtuell nachgestellt und jede Person kann unterschiedliche Rollen üben. Aber auch da kommen wir zur Kostenfrage: Lohnt sich ein kostspieliges Simulationssystem oder reicht z. B. auch eine Trainingspuppe? Also da müssen wir hinkommen: Mit KI und digitalen Systemen die Kosten im Gesundheitswesen tatsächlich senken. Aber da waren sich auch alle einig, dass die Kostenreduktion auf Dauer gelingen wird.

Daten, Validierung, Wirtschaftlichkeit

 

HERZMEDIZIN: Was braucht es jetzt, um digitale und KI-Technologien weiterzuentwickeln und in den klinischen Alltag zu integrieren?


Beyersdorf: KI, Digitalisierung und roboterassistierte Prozeduren werden fester Bestandteil in der Medizin werden. Aber das Gebiet steckt noch in den Kinderschuhen – es ist – wie bereits gesagt – wie ein 3-jähriges Kind. Deswegen darf man da auch nicht zu kritisch sein. Was wir jetzt brauchen, sind hoch-qualifizierte Daten. Viele Referierende haben in ihren Vorträgen geklagt, dass es an Daten mangelt. Auch Datenschutz war ein großes Thema. Ohne umfassende, qualitativ gute Daten kommen wir aber keinen Meter weiter. Darüber hinaus brauchen wir Validierungsstudien, d. h. große Register- und auch ausgewählte prospektiv randomisierte Studien, sonst bewegen wir uns wissenschaftlich auf sehr dünnem Eis. Und schließlich muss mit den Systemen Geld verdient oder eingespart werden. Wir brauchen greifbare finanzielle Vorteile. Bislang kostet es vor allem – Zeit, Geld und Nerven. In den Kliniken bedarf es zudem mehr Expertise, durch Fachleute aus Data Science, Informatik und KI.


HERZMEDIZIN: Zum Schluss – in einem Satz: Wie sieht die digitale Zukunft aus?


Beyersdorf: Digitalisierung und KI werden die Medizin in jeder Hinsicht revolutionieren, in einem Ausmaß, das wir noch nicht gesehen haben: Qualitätssicherung, Training, Simulation, Durchführung, Nachsorge, Prävention und vieles mehr werden sich grundlegend ändern.

 

FAQ: Schlüsselbegriffe zu Digitalisierung

Extended Reality (XR) ist der Oberbegriff für immersive Technologien wie Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und Mixed Reality (MR). AR fügt der realen Umgebung virtuelle Elemente hinzu, z. B. Overlays mit Texten und Bildern oder auch komplexe 3D-Objekte wie beispielsweise ein virtuelles Herz. Gesten oder Eingabegeräte können eine einfache Steuerung und Interaktionen ermöglichen. Bei VR wird die Realität vollständig ausgeblendet, stattdessen befinden sich die Nutzenden in einer Computer-generierten Umgebung. MR wurde ursprünglich zur Bezeichnung des gesamten Spektrums zwischen physischer und virtueller Welt, einschließlich AR und VR eingeführt. Heute beschreibt es vor allem Umgebungen, in denen die virtuellen Objekte auf reale Objekte oder (komplexe) Handlungen der Nutzenden reagieren.

In der Medizin bezeichnet ein digitaler Zwilling ein möglichst exaktes virtuelles Modell von z. B. Organen, Organsystemen oder ganzen Personen. Idealerweise sind sämtliche Informationen des realen Gegenstücks enthalten, wie Genetik, Proteomik, Zell-, Gewebestrukturen, physiologische Parameter etc. Dabei wird das Modell idealerweise laufend (mit Echtzeitdaten) aktualisiert. Das Nutzenspektrum ist vielfältig: vereinfachte Arzneimittelentwicklung, individualisierte Prognosen zu Gesundheitsrisiken, Krankheitsverläufen und Therapieansprechen, verbesserte Patientenaufklärung, Eingriffsplanung und -durchführung uvm. Gleichzeitig gibt es Datenschutzbedenken. Ein umfassender Digital Twin ist bisher nicht realisiert, aber es gibt bereits zahlreiche Ansätze mit unterschiedlichem Detailgrad.

5G bezeichnet die fünfte Mobilfunkgeneration. Sie bietet u. a. höhere Datenraten und geringere Latenzzeiten (im Millisekundenbereich), weshalb die Technik eine Grundlage für telechirurgische Anwendungen bietet, da Robotersysteme bei einer Operation aus der Ferne weitgehend verzögerungsfrei gesteuert werden können. KI-Integration kann potenziell die zeitliche Verzögerung weiter reduzieren und so auch ein haptisches Feedback in Echtzeit ermöglichen.


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