Deutscher Ärztetag: Health-in-All-Policy gegen Lieferengpässe, für Gesundheitsbildung

Vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen – steigende Risiken für Pandemien, Klimawandel und internationale Spannungen – hat der 127. Deutsche Ärztetag eine Health-in-All-Policy gefordert, bei der Gesundheit in allen relevanten Ressorts mitgedacht wird. Das gilt nicht zuletzt auch für Lieferengpässe in der Arzneimittelversorgung, aber auch für den Bildungsbereich, der sich dringend der unzureichenden Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen annehmen müsse. Außerdem zeigten sich die Delegierten des Ärztetages besorgt über die Auswirkungen der Krankenhausreform auf die fachärztliche Weiterbildung.

Von Helmut Laschet

 

22.05.2023

Essen. Die zunehmende Zahl von Lieferengpässen bei Arzneimitteln hat in den letzten Monaten zu gravierenden Versorgungsproblemen in Kliniken und Praxen geführt. Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Ärztetag die Bundesregierung aufgefordert, wirksame und nachhaltige Maßnahmen zu ergreifen, die weit über die bisher geplanten Regelungen, die allein Kinderarzneimittel und Antibiotika betreffen, hinausgehen.

Zum einen hat die Zahl der Lieferengpässe, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) registriert, von 300 im September 2022 auf 400 im Februar 2023 zugenommen. Sie betreffen nicht mehr nur Antibiotika und pädiatrische Arzneimittel, sondern beispielsweise mit Statinen und Antiarrhythmika auch Medikamente, die in der kardiologischen Grundversorgung unverzichtbar sind.

Unter anderem fordert der Deutsche Ärztetag:

 

  • Den Aufbau einer nationalen Arzneimittelreserve für versorgungskritische und versorgungsrelevante Arzneimittel
  • Anreize zur Rückführung der Produktion in die EU
  • Eine Diversifizierung der Lieferketten
  • Ein freiwilliges Dispensierrecht für Ärztinnen und Ärzte im Notfall- und Bereitschaftsdienst, um Patient:innen vergebliche Wege zu mehreren Apotheken zu ersparen

 

Ferner sollten Ärztinnen und Ärzten, die in der Folge von Lieferengpässen größere und nicht wirtschaftliche Arzneimittelpackungen verschreiben, von Regressen freigestellt werden. Bereits am Wochenanfang hatte die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gefordert, Ärztinnen und Ärzten den zusätzlichen Aufwand durch die Folgen von Lieferengpässen finanziell zu kompensieren.

Sichere Arzneimittelversorgung erfordert globale Lösungen

Die Ursachen für Lieferengpässe und daraus entstehende Versorgungslücken sind vielfältig. Hier sind insbesondere zu nennen:

 

  • Lange Zeit gewollte niedrige Kosten und Preise im Generikasegment
  • Nachfrageschwankungen
  • Langwierig zu behebende Qualitätsprobleme
  • Klumpenrisiko durch starke Konzentration auf teils wenige Hersteller, überwiegend in China

 

Dies zu bewältigen, ist nicht nur eine gesundheitspolitische Aufgabe. Es sind internationale Lösungen notwendig, etwa auf EU-Ebene, im Rahmen der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund schlägt der Ärztetag die Schaffung eines ressortübergreifenden Deutschen Gesundheitsrates vor, der – etwa nach dem Vorbild des Deutschen Ethikrates – proaktiv alle relevanten Ministerien fachkompetent berät.  

Eine weitere Forderung richtet sich an die Kultusminister und -ministerinnen der Länder: Gesundheitsbildung und -kompetenz möglichst früh in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen zu verankern. Dem Ärztetag war dies ein eigener Tagesordnungspunkt wert. „Mit Sorge“ sähen „Ärztinnen und Ärzte die verbreiteten gesundheitlichen Probleme, die in der jungen Generation im Zusammenhang mit Bewegungsmangel, Übergewicht, Drogenkonsum und psychischen Störungen bestehen“. Jedes siebte Kind sei übergewichtig, jeder sechste Jugendliche rauche, seit einigen Jahren wieder mit zunehmender Tendenz. Mangelnde Gesundheitskompetenz und daraus resultierendes Fehlverhalten in Kombination mit fehlender Verhältnisprävention seien wichtige Ursachen für die Entstehung chronischer Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und daraus folgende Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Pflichtenheft für die Kultusminister und -ministerinnen

Konkret fordert der Deutsche Ärztetag, dass

 

  • die Kultusministerkonferenz eine länderübergreifend abgestimmte Strategie zur Gesundheitskompetenz, die in Schulen vermittelt wird, entwickelt
  • Lehrpersonal systematisch fortgebildet wird,
  • konkrete Lerninhalte zu Themen wie Ernährung, Bewegung, Sexualität, aber insbesondere auch zum Verhalten im Notfall entwickelt werden,
  • und dass diese Inhalte – etwa die Praxis einer Herzdruckmassage, wie von Kardiologinnen und Kardiologen sowie Notfallmediziner:innen dringend gefordert – verbindlich in den Lehrplänen verankert werden.

 

Der Ärztetag kritisiert, dass nach der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged-Children“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutsche Schulkinder im europäischen Vergleich eine geringe Gesundheitskompetenz haben, weil Gesundheitsbildung zu selten und nicht regelmäßig im Unterricht behandelt werde. Ausdrücklich fordert der Ärztetag, konkret jährlich mindestens zwei Schulstunden Wiederbelebungsmaßnahmen ab der Jahrgangsstufe 7 in allen Bundesländern einzuführen.

Krankenhausreform: Was bedeutet das für die Weiterbildung?

Mit erheblicher Sorge sehen die Delegierten des Deutschen Ärztetages die Reform und den Reformprozess bei der Neustrukturierung der Krankenhäuser. Diese Reform sei zweifellos dringend überfällig, eine gestaltende Krankenhausplanung sowie ein echter Neustart der Vergütung von Leistungen und Investitionen erforderlich. Vehement beklagte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, allerdings die mangelnde oder sehr späte Einbeziehung der Betroffenen in die Beratungsprozesse. Die Bundesärztekammer sei keine Lobby, sondern als Selbstverwaltung eine Gemeinwohleinrichtung auch im Interesse von Patientinnen und Patienten.

In den bisherigen Beratungen und in den von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelten Konzepten seien beispielsweise die Auswirkungen der Neustrukturierung in vier Versorgungslevels, denen spezifische Leistungsbereiche zugeordnet werden, auf die fachärztliche Weiterbildung und deren Kapazitäten überhaupt nicht berücksichtigt worden. Der Reformerfolg müsse sich aber auch daran messen lassen, ob in Zukunft in ausreichendem Maße qualifizierte Ärztinnen und Ärzte für die Versorgung weitergebildet werden. Betroffen sind in erster Linie Fächer, deren Inhalte bislang überwiegend in der stationären Versorgung vermittelt und erlernt werden. Verstärkt könnte in Zukunft auch die ambulante Medizin in die fachärztliche Weiterbildung einbezogen werden. Das würde aber erfordern, etwa nach dem Vorbild der Allgemeinmedizin fachärztliche Weiterbildungsverbünde zu organisieren und dabei sowohl deren Finanzierung als auch die Vergütung von Ärztinnen und Ärzten in der fachärztlichen Weiterbildung auf eine sichere Grundlage zu stellen.

Fazit

Der 127. Deutsche Ärztetag brachte wichtige Diskussionen und Vorschläge hervor, die für Kardiologinnen und Kardiologen relevant sind. Dies beinhaltete:

 

  • Health-in-All-Policy: Vorschlag zur Schaffung eines ressortübergreifenden Deutschen Gesundheitsrates, der alle relevanten Ministerien berät
  • Lösungsvorschläge bezüglich Lieferengpässen bei Arzneimitteln wie beispielsweise eine nationale Arzneimittelreserve und ein freiwilliges Dispensierrecht im Notfall- und Bereitschaftsdienst
  • Forderungen nach besserer Gesundheitsbildung in Schulen, insbesondere in Bezug auf Notfallmaßnahmen wie die Herzdruckmassage und um die Prävention unter anderem von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern
  • Neu zu schaffende Möglichkeiten der fachärztlichen Weiterbildung vor dem Hintergrund der Krankenhausreform, beispielsweise über fachärztliche Weiterbildungsverbünde

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