Zeitzeugen-Interview: Dr. Hans Günther Kersten

 

Mit Zeitzeugen-Interviews möchte das Historische Archiv der DGK unter Leitung von Dr. Fokko de Haan, spannende historische Entwicklungen aufzeigen und die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten der Kardiologie nachzeichnen. Der Blick in die Vergangenheit hilft, den heutigen Stand und zukünftige Entwicklungen in der Welt der Kardiologie besser zu verstehen.


Im September 2020 sprach Dr. Foko de Haan mit Dr. Hans Günther Kersten (1930–2021).

Von:

Dr. Fokko de Haan

Historisches Archiv der DGK

 

26.03.2025

 

Bildquelle (Bild oben): kanetmark / Shutterstock.com

de Haan: In welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen und wie erlebten Sie nach der Machtergreifung der Nazis 1933 ihre Kinder- und Jugendjahre?

Kersten: Ich wurde im Januar 1930 in Köln-Lindenthal geboren, bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mein Vater war Optiker, meine Mutter war nicht beruflich tätig, und ich hatte keine Geschwister. Ich war also bei Ausbruch des Krieges neun Jahre alt, was mir politische Berührungen ersparte.

 

de Haan: Wie erlebten Sie die Nachkriegsjahre? Was veranlasste Sie, Medizin zu studieren?

Kersten: Wir Jungs wurden gegen Ende des Krieges mit 15 Jahren als Helfer bei Feuerwehr und Luftschutz sowie zum Schanzen am Westwall eingesetzt. Dadurch hatte man zwangsläufig Berührungen mit Verwundeten und Toten. Die Arbeit der medizinischen Dienste in dieser Zeit, aber auch mein starkes Interesse an Naturwissenschaften haben dazu geführt, Medizin zu studieren.

 

Kardiologische Ausbildung in den USA

 

de Haan: Wann machten Sie Ihr Staatsexamen? Schloss sich daran eine MA-Zeit an?

Kersten: 1955 legte ich in Köln das Staatsexamen ab und promovierte 1956 mit dem Thema „Papierchromatographische Untersuchungen von Gallefarbstoffen“. Bis 1957 absolvierte ich eine zweijährige Medizinalassistentenzeit, davon ein Jahr an der Neurologischen Universitätsklinik Köln bei Professor Werner Scheid.
Und dann gab es die Möglichkeit, mit Hilfe der Ventnor Foundation ein einjähriges Internship in dem „gelobten Land“ für Medizin, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika, zu verbringen. Aus dem einen Jahr wurden dann sechs Jahre mit Facharztausbildung Innere Medizin und Kardiologie.

 

de Haan: In den 60er Jahren arbeiteten Sie bereits sechs Jahre in den USA im Bereich der Kardiologie! Was veranlasste Sie, diese Fachrichtung einzuschlagen? Wo arbeiteten Sie in den USA und wie sah Ihr kardiologischer Alltag aus? Was war der Grund für die Rückkehr nach Deutschland?

Kersten: Die Facharztausbildung an der Jefferson Medical School in Philadelphia war für junge Assistenten ausgezeichnet, da die Ausbildungsabschnitte schulmäßig ausgelegt waren in einer Art Curriculum. Besonders das Teilgebiet Kardiologie war interessant, da dort wenige Jahre zuvor (1953) von John Gibbon die Herz-Lungen-Maschine entwickelt wurde und 1954 erstmals beim Menschen eingesetzt wurde, und zwar bei einer Operation eines Vorhofseptumdefektes bei einer 17-jährigen Patientin, die die Operation 30 Jahre überlebte.

 

Dr. Kersten (links) im OP Dr. Kersten (links) im OP

 

Nicht nur ein Ereignis hat mich bewogen, für meine weitere Ausbildung über den Facharzt für Innere Medizin hinaus Kardiologie zu wählen. Wir lernten von ausgezeichneten Lehrern Auskultation, EKG-Befundung und alle Herzkatheteruntersuchungen, auch Linksherzkatheteruntersuchungen wie transseptale Punktion etc.
Am Ende meiner kardiologischen Ausbildung in den USA konnte ich einige langfristige Anstellungen in Philadelphia, aber auch in Louisville / Kentucky und Massachusetts bekommen. Ich beschloss aber trotzdem, zurück nach Köln zu gehen (1962), wie ich dachte, dass die kardiologischen Tätigkeiten auch in Deutschland durchgeführt werden konnten.

 

de Haan: Nach Ihrer Rückkehr aus den USA (1962) arbeiteten Sie wieder an der Uniklinik Köln?

Kersten: Zunächst war ich Assistent an der Uniklinik in Köln unter Professor Hans Schulten, der aufgeschlossen war für die neuen Methoden, die ich aus Amerika mitgebracht hatte. Trotzdem war ich dann doch enttäuscht, dass die kardiologischen Möglichkeiten zu arbeiten sehr gering waren.
Glücklicherweise war der Ordinarius für Chirurgie, Professor Georg Heberer, interessiert an Herzchirurgie und brauchte für seine Tätigkeit exakte kardiologische Katheterdiagnosen. So formte sich um Professor Heberer eine Arbeitsgruppe, bestehend aus einem Assistenten der Chirurgischen Klinik, der eine Zeit lang bei Professor Loogen in Düsseldorf, wie ich mich erinnere, kathetern gelernt hatte. Dazu gehörte noch ein Assistent aus der Anästhesiologie. Wir haben dann bis 1966 in einer kleinen kardiologischen Arbeitsgruppe sämtliche damals verfügbaren Kathetermethoden angewendet. Ich habe auch in der Medizinischen Poliklinik eine Herzsprechstunde einführen können, was sich später als sehr förderlich für meine Praxis auswirkte.

 

Zur Person

Dr. Hans Günther Kersten


Dr. Hans Günther Kersten (1930–2021) war der erste niedergelassene Kardiologe in Deutschland und Gründungsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Niedergelassener Kardiologen (ANK; später BNK, Bundesverband Niedergelassener Kardiologen). 

Prof. Hans-Carlo Kallfelz

 

 

Der erste niedergelassene Kardiologe in Deutschland

 

de Haan: 1966 gründeten Sie gemeinsam mit einem Gastroenterologen eine Praxis in Köln. Was war der Grund? Warum blieben Sie nicht an der Klinik? Welche kardiologischen Untersuchungsmöglichkeiten hatten Sie in der Praxis und gab es schon M-Mode Echo?

Kersten: Ich beschloss dann, die ambulante kardiologische Tätigkeit, die mir besonders gefiel und die ich in der medizinischen Poliklinik machen konnte, in eigener Praxis in Köln fortzusetzen.
Gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Karl Ludwig Tschaikowski, einem Gastroenterologen, schafften wir uns eine Röntgenanlage und eine Laboreinrichtung an, die man als Einzelperson finanziell nicht hätte stemmen können. In den 70er Jahren kaufte ich mir das erste Echokardiographiegerät (M-Mode) und konnte damit besser kardiologisch arbeiten. Ich hatte gute Verbindung zur Thoraxchirurgie, wo ich Patienten vorstellen konnte, ohne durch die Poliklinik zu gehen. Leider war es mir damals nicht möglich, selbständig in der Klinik Herzkatheteruntersuchungen durchzuführen, was ich sehr gerne gemacht hätte.

 

de Haan: Sie waren der erste niedergelassene Kardiologe in Deutschland (1966). Ihren Schritten folgten in den späteren Jahren einzelne Kollegen in Köln, München, Düsseldorf. Wie klappte die Zusammenarbeit mit Allgemeininternisten und Hausärzten?

Kersten: Ja, diesem Muster folgten in den folgenden Jahren weitere Kollegen in Köln, München, Düsseldorf etc.
Die Zusammenarbeit mit den Allgemeininternisten und Hausärzten war sehr gut. Ein wesentliches Moment war, dass ich in den USA und während meiner Herzsprechstunde an der Universität die Patienten nach der Untersuchung mit einem Befundbericht dem Hausarzt zurückgeschickt habe, wodurch die Besorgnis der zuweisenden Ärzte vor Verlusten von Patienten an meine Praxis unbegründet war.

 

Gründung und Vorsitz der ANK (heute BNK)

 

de Haan: 1979 gründeten Sie zusammen mit einigen wenigen Kardiologen den ANK, die Arbeitsgemeinschaft Niedergelassener Kardiologen, aus der 1995 der BNK, der Bundesverband Niedergelassener Kardiologen hervorging. War dieser Zusammenschluss erforderlich?

Kersten: Es gab allmählich 80 niedergelassene Kardiologen in Deutschland, die sich eigentlich nicht kannten. Herr Dr. Grundei von der Pharmasparte der Firma Bayer sprach mich an, ob es nicht sinnvoll sei, dass sich die niedergelassenen Kardiologen zusammenschließen. So kam es im September 1979 zu dem Bürgenstocktreffen oberhalb des Vierwaldstätter Sees in der Schweiz, was das Gründungstreffen der Arbeitsgemeinschaft Niedergelassener Kardiologen (ANK, später BNK) war.
Es wurde eine Satzung aus der Taufe gehoben und die verschiedenen Aufgaben des Verbandes verteilt. Wir hatten einen Schatzmeister (Dr. Tarig Kusus), einen Fortbildungsbeauftragten (Dr. Ferdinand Webering), für den Einkauf und günstige wirtschaftliche Belange (Dr. Krehan), außerdem Regionalvertreter für jeden KV-Bezirk. Ich wurde damals zum 1. Vorsitzenden gewählt und hatte diese Position bis 1984 inne.

 

de Haan: Wodurch unterschied sich Ihre ambulante kardiologische Tätigkeit in den Anfangsjahren von der des Allgemeininternisten? Der Zusammenschluss im ANK diente ja hauptsächlich der kardiologischen Fortbildung, Anschaffung von Geräten (LZ, EKG) gemeinschaftlich. Gab es Kontakte zu den Kliniken?

Kersten: Als niedergelassener Kardiologe achtete ich streng darauf, nur auf Überweisung tätig zu sein. Außerdem pflegte ich das Verhältnis zu den klinischen Kardiologen und den Zuweisern besonders intensiv (s. o.). So unterstützten uns die Kliniken auch gerne bei unseren hochkarätigen Fortbildungsveranstaltungen.
Schwierig war es in den Anfangsjahren, Verständnis zu finden für die besonderen Belange der niedergelassenen Kardiologen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Wir mussten jahrelang darum kämpfen, den besonderen Abrechnungsstatus, verbunden mit höherem Budget, den KVen zu erklären. In diesen Jahren dachte ich oft, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, wenn ich in den USA geblieben wäre, wo manches einfacher war.

de Haan:
Im Laufe der Jahre wurde der Einfluss der Politik auf die medizinische Versorgung in Deutschland immer stärker, so dass sich die ANK (BNK) fast zwangsläufig stärker berufspolitisch betätigen musste. Für einige Jahre waren Sie 1. Vorsitzender der ANK. Sahen Sie schon diese Entwicklung voraus?

Kersten: Ja, das spürte ich auch in meinem Amt als 1. Vorsitzender der ANK.
Obwohl die Berufspolitik nicht meine Stärke ist, habe ich sechs Jahre lang die Position im Vorstand der Sektion Kardiologie des BDI eingenommen sowie als Mitglied der Vertreterversammlung der KV NO. Aus diesen Anfängen heraus ist der BNK ein exzellent geführter Verband geworden, der sich berufspolitisch und medizinisch auf hohem Niveau bewegt.
Ich war qua Amt auch Vertreter in der fachärztlichen Gruppe, die sich mit der Angleichung der europäischen Facharztausbildung befasste.

 

Zukunft und wirtschaftliche Realität der Niederlassung

 

de Haan: Heute sind die niedergelassenen Kardiologen (mehr als 90 % sind im BNK zusammengeschlossen!) eine wesentliche Mitgliedsgruppe in der DGK und als Partner der Kliniken für die Patientenversorgung in Deutschland anerkannt und erforderlich. Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung? Brauchen wir mehr niedergelassene Kardiologen?

Kersten: Ja, ich glaube, dass wir auch in den nächsten Jahren weitere niedergelassene Kardiologen in Deutschland brauchen, insbesondere außerhalb der Großstädte auch in mittelgroßen Städten und ländlichen Regionen.
Die Entwicklung hin zu Gemeinschaftspraxen ist absolut positiv zu bewerten, eine weitere, auch fachliche Differenzierung der einzelnen Praxen sollte angestrebt werden. Die heutigen Möglichkeiten für niedergelassene Kardiologen sind viel besser als früher. Eigentlich gibt es keine kardiologische Disziplin, die nicht ggfs. im Verbund mit den klinischen Kollegen geleistet werden kann.
Gerade die Möglichkeit von Zweigpraxen in mehr ländlichen Regionen und die schwerpunktmäßige Aufstellung der Kollegen ist heute nahezu unbegrenzt möglich. Man denke nur an die Bildgebung und an die Möglichkeit, auch ambulant interventionell tätig zu sein.

 

de Haan: Stärker als in der klinischen Kardiologie müssen die in der Praxis niedergelassenen Kardiologen für eine stabile wirtschaftliche Grundlage sorgen. Ist der Spagat zwischen diagnostischem / therapeutischem Armamentarium und den Vergütungsmöglichkeiten bei Kassenpatienten zu schaffen?

Kersten: Natürlich muss gerade der niedergelassene Kardiologe auch in der Gemeinschaftspraxis lernen, für eine gute wirtschaftliche Grundlage zu sorgen. Dazu gibt es Unterstützung seitens des Verbandes BNK, aber auch abweichende Abrechnungsmöglichkeiten neben dem EBM-Katalog.

 

de Haan: Hedgefonds bemächtigen sich aufgrund der medizinischen/kardiologischen Möglichkeiten zunehmend der Kliniken und Großpraxen. Bleibt der einzelne Kardiologe auf der Strecke?

Kersten: Diese Entwicklung kann man nur mit Sorge verfolgen, und die niedergelassenen Kardiologen sollten unbedingt versuchen, selbstständig zu bleiben und als unabhängige Berufsgruppe tätig zu sein. Gerade das ist das Reizvolle an der ambulanten beruflichen Tätigkeit, die die Kliniker nicht haben. Statt der kardiologischen Einzelpraxis ist heute die Gemeinschaftspraxis oder Praxisgemeinschaft zu bevorzugen.


de Haan: Die Versorgung kardiologischer Patienten bedeutet oft die Anwendung kostspieliger diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Dabei sind selektionistische Tendenzen oft nicht zu übersehen. Wohin führt das? Müssen wir verstärkt Aktivitäten in die Prävention stecken?


Kersten: Eine zunehmende Differenzierung unter den einzelnen kardiologischen Praxen ist wünschenswert und sinnvoll, insbesondere für die Zukunft. Dies setzt natürlich eine Kooperation unter den kardiologischen Praxen voraus. Sie sollten auf eine gute Vernetzung achten, auch wenn aus dem Freundeskreis von früher aufgrund der großen Zahl ein Konkurrenzdenken und ein Wettbewerbsbestreben logischerweise erkennbar ist.
Leider ist Nachsorge (Rehabilitation) und Vorsorge (Prävention) ökonomisch nur schwierig zu leisten, gehört aber als Basis zu unserem Fachgebiet dazu. Zukünftig könnte ich mir vorstellen, dass nicht-ärztliche Mitarbeitende mehr und mehr in diese Aufgaben eingebunden werden. 

 

Rückblick auf ein erfülltes Berufsleben

 

de Haan: Ein langer Lebens-/Berufsweg liegt hinter Ihnen! – Was waren die Highlights? Was waren Ihre Grundsätze?

Kersten:  Mehr als 32 Jahre (von 1966 bis 1998) war ich als niedergelassener Kardiologe tätig. Die Entwicklung der diagnostischen, pharmakologischen und operativen Möglichkeiten über einen so langen Zeitraum mitzuerleben, war schon sehr beeindruckend. Ich hätte mir gewünscht, die heutigen Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, insbesondere die Herzkatheteruntersuchungen, die Gemeinschaft mit 2 bis 3 Kollegen etc.
Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass die kardiologische Tätigkeit im niedergelassenen Bereich sehr gut funktionieren kann und heute eigentlich keine Grenzen kennt. Die Zwänge, unter denen die Kliniker arbeiten, sind ungleich größer.
Persönlich bin ich froh, diesen Beruf gewählt zu haben, ich habe meine Arbeit jeden Tag gerne gemacht und immer als herausfordernd und befriedigend empfunden. Unsere beiden Kinder haben diesen Beruf dennoch nicht gewählt. Die Tochter ist Lehrerin und der Sohn ist Jurist geworden.

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