Zeitzeugen-Interview: Prof. Tassilo Bonzel

 

Mit Zeitzeugen-Interviews möchte das Historische Archiv der DGK unter Leitung von Dr. Fokko de Haan, spannende historische Entwicklungen aufzeigen und die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten der Kardiologie nachzeichnen. Der Blick in die Vergangenheit hilft, den heutigen Stand und zukünftige Entwicklungen in der Welt der Kardiologie besser zu verstehen.


Im Oktober 2020 sprach Dr. Fokko de Haan mit Prof. Tassilo Bonzel.

Von:

Dr. Fokko de Haan

Historisches Archiv der DGK

 

25.06.2025

 

Bildquelle (Bild oben): kanetmark / Shutterstock.com

de Haan: 1944 wurden Sie in Olpe im Sauerland geboren. Wie erlebten Sie als Kind die Nachkriegszeit? 

 

Bonzel: Mein Vater und mein Großvater waren Ärzte, mein Vater nach dem Krieg in einer Landarztpraxis. Bis ich zwölf war, wohnten wir bei Gummersbach. Die „Kriegsehe“ meiner Eltern hielt nicht lange, und unsere Mutter lebte mit meinem Bruder und mir im Rheinland. Zum Bruder, Professor für Kindernephrologie, habe ich bis heute ein sehr herzliches Verhältnis. Auf dem Lande litten wir Kinder keine Not. Im Alter von fünf Jahren kam ich in eine typische Zwergschule, und wir sammelten Brennholz für den Lehrer. Unsere Sandalen hatten Holzsohlen, und meine „Lederhose“ bestand aus alten Feuerwehrschläuchen. 

 

de Haan: Mussten Sie auch zum Militärdienst? 

 

Bonzel: Vor dem Studium war ich zu jung – später kurz Sanitätsarzt bei der Bundeswehr. 

 

de Haan: Sie studierten Medizin in Berlin, München und Münster.

 

Bonzel: Es war ein Glück, dass ich die Studienzulassung in Berlin hatte. Noch heute bin ich ein begeisterter „Berliner“. Als Student war ich ziemlich mittellos und musste alle möglichen Jobs annehmen – und lernte viel dabei. Nach dem Physikum in Berlin war ich drei Semester im schönen München, u. a. bei Prof. Bodechtel. Weil meine Mutter in Münster lebte, verbrachte ich die letzten klinischen Semester dort. Die zweijährige Assistentenzeit mit breiter praktischer Ausbildung in Innerer Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Pathologie fand ich sehr interessant. Vielseitigkeit und menschliche Zuwendung zu Patientinnen und Patienten machten die Hausarzttätigkeit für mich damals zur Option.

 

Zur Person

Prof. Tassilo Bonzel

Prof. Tassilo Bonzel war über 20 Jahre Direktor an der Kardiologischen Klinik Fulda mit vorangegangenen Stationen in Bad Oeynhausen, den USA und Freiburg. 1984 entwickelte er den Monorailkatheter zur Koronardilatation. Bei der DGK und ALKK übernahm er zahlreiche Ehrenämter.

Prof. Tassilo Bonzel

   

   

Einstieg in die Kardiologie

 

de Haan: 1971 begann Ihre internistische Ausbildung an einer kleinen Klinik (Neustadt am Rübenberge). Warum gingen Sie später nach Bad Oeynhausen? 

 

Bonzel: In dem kleinen Krankenhaus lernte ich viel. Mit Unterstützung der Chefärzte konnte ich das rechte Herz katheterisieren. Schon seit dem Physiologieunterricht im Studium bei Prof. Gauer in Berlin fand ich kardiologische Inhalte der Inneren Medizin besonders spannend. Während der Assistentenzeit in Münster war ich fasziniert von der Hochdruckforschung bei Prof. Losse und von linksventrikulären Druckmessungen im Katheterlabor von Prof. Bender.

 

Die Kreislaufphysiologie war bestechend durch ihre Logik. Bei Prof. Gleichmann und Dr. Sigwart (der spätere Stent-Pionier) in Bad Oeynhausen konnte ich das weiter vertiefen. Der Eine beeindruckte durch seine Dynamik im Aufbau einer umfassenden Kardiologie, der Andere durch seine kluge Ruhe bei der neuen Koronarangiographie. So lag es nahe, dass ich bei Prof. Gleichmann gestützt von Prof. Loogen und Prof. Seipel in Düsseldorf über „simultane Vergleiche zwischen linksventrikulärem enddiastolischem Druck und Pulmonalarteriendruck in Ruhe und bei Belastung“ promovierte. Diese Zeit weckte endgültig mein wissenschaftliches Interesse. 

 

de Haan: Warum gingen Sie 1977 in die USA? 

 

Bonzel: Dr. Sigwart erzählte von seinen USA-Erfahrungen, und das fand ich so spannend, dass ich mich um eine Fellow-Stelle bei dem Koronarexperten Prof. Gensini erfolgreich bewarb und mit meiner Frau und drei kleinen Kindern nach Syracuse ging. Wir hatten ein altes zerbeultes Auto, 1.000 Dollar pro Monat an Gehalt und eine kleine Dienstwohnung. Meine Frau Helen studierte nebenbei „Creative Arts“, und damals hatte sie die Idee, ein Kindermuseum in Deutschland zu entwickeln.

 

Neben der Weiterbildung bei der Koronarangiographie waren die klinischen Falldiskussionen in kleinen Gruppen in den USA großartig. Stationssekretärinnen und „Phlebotomists“ befreiten uns von allem Ballast. 1977 traf ich in Miami auf dem AHA-Kongress Andreas Grüntzig, der seine ersten vier Fälle der Koronardilatation vorstellte. Das hat mich fasziniert und für dieses Thema begeistert. 

 

 

Leidenschaft für die interventionelle Kardiologie

 

de Haan: Bis 1988 setzten Sie Ihre kardiologische Ausbildung an der Universitätsklinik Freiburg fort. Wie kamen Sie zur interventionellen Kardiologie? 

 

Bonzel: 1979 kehrten wir aus den USA nach Bad Oeynhausen zu Prof. Gleichmann zurück, wo ich mich habilitieren wollte, und wechselte dann an die Universitätsklinik nach Freiburg, weil mich Prof. Just eingeladen hatte. Ich sollte dort zusammen mit Prof. Löllgen das Katheterlabor aufbauen. 1981 konnte Prof. Just eine hochmoderne Angiographie-Einheit einrichten: Die neue Technik lieferte schon während der Durchleuchtung gute Bilder für die Koronardilatation. 1985 wurde ich Oberarzt und war für das Herzkatheterlabor zuständig. 

 

de Haan: In Freiburg entwickelten Sie das Kathetersystem mit dem sogenannten Monorail-System weiter. Wie kam es dazu? 

 

Bonzel: Das Thema „Weiterentwickeln und Verbessern“ war mir immer wichtig. Die Koronardilatation mit dem Ballonkatheter von Grüntzig fand ich technisch unzureichend, da die Katheterspitze zu wenig steuerbar war. Die Weiterentwicklung ‒ besonders von Prof. Kaltenbach ‒ zeigte extrem lange Führungsdrähte und das Vorbringen und Austauschen koronarer Ballonkatheter war umständlich und nicht ungefährlich.

 

Lange habe ich darüber gebrütet, wie es besser ginge, bis mir die Idee kam, den Schaft des Ballonkatheters seitlich aufzuschlitzen, damit man beim Katheterwechsel den Draht in der Koronararterie liegen lassen konnte. Der neue Katheter ließ sich so ungefährlich über den liegenden Draht schieben und daneben viel Kontrastmittel einspritzen. Der Vorteil dieses Monorail-Katheters lag also an der Austauschbarkeit bei liegendem Draht, der Schaft des Ballonkatheters konnte dünner sein, und es konnte mehr Kontrastmittel gegeben werden.

 

Skizze eines Monorail-Ballonkatheters Erste Skizze eines Monorail-Ballonkatheters von Prof. Tassilo Bonzel, 1984.

 

Das verbesserte die Sichtbarkeit der dilatierten Stenose auf dem Monitor, man erkannte sofort, ob eine kleine Gefäßdissektion aufgetreten war und die Informationen waren genauer als bei der Messung des transstenotischen Druckgradienten. Der Ablauf der Herzkatheteruntersuchung vereinfachte sich, denn anstatt wie bisher zwei Ärztinnen oder Ärzten genügte nun manchmal nur eine Person am Tisch. Es ging wesentlich schneller und sicherer für den Betroffenen, und in den Folgejahren war das Stenten viel einfacher, was eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Notfall-Rekanalisation beim akuten Herzinfarkt war. 

 

de Haan: Als Direktor der kardiologischen Klinik in Fulda veranstalteten Sie mit der Kardiologie in Bad Nauheim (Prof. Hamm) jährlich hochkarätige Fortbildungsveranstaltungen. Was waren Ihre Ambitionen? 

 

Bonzel: Fulda reizte mich besonders deshalb, weil es eine Herzchirurgie gab. Zudem hatte die Klinik einen sehr großen Einzugsbereich. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe ich nach bestem Wissen und Gewissen gefördert, und noch heute haben wir ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Ein elektro-physiologisches Labor wollte damals der Träger aber nicht einrichten.

 

Bei Andreas Grüntzig, Bernhard Meier und anderen hatte ich gesehen, wie interessant und informativ Live-Demonstrationen in Vorträgen für die Zuhörerinnen und Zuhörer waren. Dies habe ich gerne übernommen und mit den Beteiligten weiterentwickelt. Alle engagierten sich und fanden das fortschrittlich und professionell. Aus den Einnahmen des Seminars wurden auch die Überstunden bezahlt. 2019 konnte Prof. Schächinger das 30. Seminar durchführen.

 

Prof. Tassilo Bonzel in der Kardiologischen Klinik Fulda. Prof. Tassilo Bonzel in der Kardiologischen Klinik Fulda.

   

   

Blick auf die heutige Kardiologie

 

de Haan: Wie sehen Sie die interventionelle Kardiologie heute? Kritisiert wird, dass Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern zu viel „herzkathetert“. 

 

Bonzel: Einfachheit und Sicherheit von Monorail-System und Stents führten zu einem Anstieg der Herzkatheterzahlen. In großen kardiologischen Abteilungen mit hohem Anteil akuter Koronarsyndrome (in Fulda ca. 60 %) muss eine höhere Katheterzahl entstehen, wenn die Herzinfarktzahlen hoch ist und Rekanalisationen bis ins sehr hohe Alter ausgedehnt werden. Über die Häufigkeit invasiver Nachuntersuchungen wird viel gesprochen, aber nur selten ist eine geplante Nachangiographie sinnvoll.  

 

Unter der Führung der Profs. Neuhaus, Kassel, Harmjanz, Celle, von Leitner, Hannover und mir begannen wir schon 1992 mit der Qualitätssicherung der PTCA. Es ist der Verdienst von Prof. Neuhaus, die Datenerhebung so einfach zu gestalten (Fragebogen per FAX), dass sich fast 100 % aller ALKK-Kliniken beteiligten, und das stellte den Beginn der Versorgungsforschung dar. 

 

de Haan: Die Arbeitsgemeinschaft Leitende Kardiologische Krankenhausärzte (ALKK) wurde von Ihnen sowie Kolleginnen und Kollegen mit Leben erfüllt. Konnten Sie so die Interessen nicht-universitärer kardiologischen Klinikerinnen und Kliniker besser vertreten? 

 

Bonzel: Die ALKK beanspruchte immer die Interessenvertretung und die klinische Forschung. Durch engagierte hochqualifizierte Mitglieder aller Gruppierungen der Kardiologie nahm das politische Gewicht der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) deutlich zu. Lange war ich Vorsitzender der AG Interventionelle Kardiologie der DGK. Die Tätigkeit in berufspolitischen Verbänden ist wichtig, obwohl ich diesbezüglich nicht sehr ehrgeizig war. Gerne habe ich aber immer meine Sachkunde eingebracht, z. B. bei der Qualitätssicherung oder bei wissenschaftlichen Studien. Ich möchte alle jungen Kardiologinnen und Kardiologen auffordern, sich und ihre Fachkenntnisse auch neben der täglichen Arbeit einzubringen, um Gremienkompetenz zu erwerben. 

 

de Haan: Was würden Sie heute jungen Kardiologinnen und Kardiologen hinsichtlich einer Kliniklaufbahn raten? 

 

Bonzel: Wer neugierig auf Fortschritt und Wissenschaft ist, sollte eine Laufbahn an der Klinik oder an einer Universitätsklinik wählen. Aber auch anderswo, z. B. in großen kardiologischen Praxen, kann Medizin sehr befriedigend sein. Leider sind die politischen Rahmenbedingungen überall kompliziert und teilweise sehr frustrierend. 

 

de Haan: Was meinen Sie dazu, dass kardiologische Kliniken oder große kardiologische Praxen zunehmend in den Fokus von Hedgefonds geraten? 

 

Bonzel: Ich war immer dagegen, finanzielle Gewinne aus der Behandlung von Patientinnen und Patienten an externe Nutznießer weiterzuleiten. Gegebenenfalls sind gesetzliche Hilfen erforderlich, um das besondere Vertrauensverhältnis der Ärztinnen und Ärzte mit ihren Patientinnen und Patienten zu schützen. Für die nötige Effizienz kann auch ökonomische Beratung sorgen. Natürlich gehören dazu selbstbewusste, gut ausgebildete Kardiologinnen und Kardiologen, die nicht profitorientiert sind, sowie eine Interessenvertretung mit ethischen ärztlichen Ansprüchen. 

 

Kinder erhalten von Prof. Tassilo Bonzel eine Lehrstunde am begehbaren Herzen Kinder erhalten eine Lehrstunde am begehbaren Herzen.

   

   

Highlights und Tiefpunkte

 

de Haan: Außerhalb Ihrer Kliniktätigkeit in Fulda engagierten Sie sich insbesondere für Kinder. Warum?

 

Bonzel: Meine Frau Helen gründete 1991 die Kinder-Akademie Fulda, die schnell über 40.000 Besucher im Jahr hatte. Ihre Idee war ein begehbares Herz, das immer wieder von der Deutschen Herzstiftung unterstützt wird. Mindestens 300.000 Kinder haben bei Herzführungen erste Kenntnisse über das Herz und seine Funktion erhalten und hoffentlich dadurch mehr Verständnis dafür, zukünftig auf ein gesundes Herz zu achten. 

 

de Haan: Ist für einen erfolgreichen Kardiologen eine stabile Familie immer ein guter Rückhalt?

 

Bonzel: Meine Frau hat es nie als ihre Hauptaufgabe verstanden, für meine Karriere da zu sein. Aber viele Jahre war sie es gerne. Umgekehrt habe ich ihr Engagement z. B. im Augustinermuseum in Freiburg und später in Fulda so gut es ging unterstützt. Wir haben uns absolut aufeinander verlassen, und die Kinder bekamen trotzdem volle Zuwendung, lernten einige Au-pair-Mädchen kennen und aßen häufig Nudeln mit Tomatensoße. Entschuldigt haben wir uns mehrfach bei den Kindern für allzu häufige Umzüge, die man vermeiden sollte. 

 

de Haan: Was sind Highlights und Tiefpunkte Ihrer kardiologischen Karriere gewesen? 

 

Bonzel: Highlights gab es viele: Der USA-Aufenthalt mit der ganzen Familie war damals etwas Besonderes, und natürlich der Monorail-Katheter mit den Folgen. Oder persönliche Erlebnisse: Das vollbepackte Urlaubsauto steht vor der geschlossenen Haustür, aber das Telefon läutet. 1982 gab es noch keine Herzkatheter-Rufbereitschaft. Ich schließe wieder auf, nehme den Hörer ab. „Junger Familienvater mit frischen ST-Hebungsinfarkt im Präschock“, höre ich meinen Freund Helmut Wollschläger. Die Kinder klettern wieder aus dem Auto, in der Klinik können wir erfolgreich rekanalisieren, wir fahren zwei Stunden später.  

 

Solche Momente sind Lohn für alles. Die Tiefpunkte gab es am gleichen Ort: Permanent 90 Wochenstunden für Klinik und Forschung säten berechtigte Zweifel am Sinn des Systems, Arztzeit wurde unnütz verbraucht, z. B. durch Röntgentüten holen, Terminorganisation etc. – heute klagen junge Ärztinnen und Ärzte über ausufernde Dokumentationen.  

 

PS: In der Zeit der Entwicklung neuer Kathetertechniken gab es in verschiedenen kardiologischen Instituten Bemühungen die Ischämiedauer während der Katheterintervention zu verkürzen. So gelang es beispielsweise Prof. Erbel in Mainz mit der Entwicklung eines CPC-Katheters (Continuous Perfusion Catheter) den Blutfluss während der Intervention aufrecht zu erhalten.

 

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