Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in den Industriestaaten ist einem raschen Anstieg unterworfen. Das mittlere Alter der Bevölkerung in den Industriestaaten, liegt derzeit bei 36 Jahren und wird bis zum Jahr 2050 bei 55 Jahren liegen. Es ist dabei festzuhalten, dass – vor allem auch durch den Fortschritt, den die kardiovaskuläre Medizin in den letzten Jahren erfreulicherweise durchlaufen konnte – eine steigende Lebenserwartung der alternden Bevölkerung verzeichnet werden kann, was in der Konsequenz eine steigende Anzahl von immer älteren und komplex-kranken (auch Komorbiditäten) Patientinnen und Patienten in der kardiologischen Versorgung bedingt.
Diesen Herausforderungen muss sich die moderne klinische Herzkreislaufmedizin in Klinik, Praxis und Forschung stellen und für die alternde Bevölkerung neue Therapieverfahren und Therapiekonzepte entwickeln. Hierbei ist eine interdisziplinäre Öffnung vor allem in den Bereich der Altersmedizin unerlässlich. Von großer Bedeutung ist dabei, dass ein fortgeschrittenes Lebensalter bislang oft Ausschlusskriterium für den Einschluss in nahezu alle bedeutsamen kardiologischen Studien war, so dass die wissenschaftliche Evidenz für Therapien – meist an jüngeren Populationen gewonnen – zwangsweise auf ältere Patientengruppen übertragen werden muss.
Dies wird dem Anspruch der Herz-/Kreislaufmedizin nach „evidence-based medicine“ (EBM) weder gerecht, noch trägt es der Tatsache Rechnung, dass die Studien-Patientenkohorten und betagte Patientinnen und Patienten differente Patientenkollektive mit unterschiedlichen Therapiezielen darstellen. Andererseits werden immer noch bestimmte intensivere bzw. invasivere Therapieoptionen betagteren Patientinnen und Patienten mit Verweis auf das fortgeschrittene Lebensalter vorenthalten.
Dies zeigt, dass das Thema „Gerontokardiologie“ (klinische Kardiologie bei Patientinnen und Patienten > 75 Jahre) auch ethische und gesundheitsökonomische Gesichtspunkte tangiert, denen wir uns als Kardiologinnen und Kardiologen künftig stellen müssen. Invasive kardiale Therapien wie eine koronare Bypass-OP-Prozedur, komplexe interventionelle Therapieverfahren, die primärprophylaktische ICD-Implantation: Für die meisten dieser Therapieverfahren ist es gänzlich unbekannt, ob und in welcher Weise diese auch für ältere Patienten geeignet sind. Auch pharmakokinetische Eigenschaften und Sicherheitsprofile unserer angewandten adjunktiven Pharmakotherapie zur Risikofaktorenkontrolle, zur Thromobozytenaggregationshemmung, zur Antikoagulationstherapie, zur Vorhofflimmertherapie, aber auch moderne pharmakologische Therapieoptionen der chronischen Herzinsuffizienztherapie sind größtenteils für ältere Patientinnen und Patienten nicht untersucht.
Um unseren älteren Patienten, angesichts der bislang in weiten Bereichen für diese Altersgruppe fehlenden Evidenz besser gerecht werden zu können, wird es zunehmend unsere Aufgabe sein, individualisierte, an Leitlinien orientierte Entscheidungen zu treffen, welche die spezifische Risikokonstellation, die „Frailty“ und die Komorbiditäten des einzelnen älteren Patienten berücksichtigt und neue Versorgungskonzepte für diese Patientengruppen interdisziplinär evaluiert.
Die Arbeitsgruppe wurde als AG Herzerkrankungen im Alter gegründet (geschlossen 2012) und 2019 als AG Gerontokardiologie reaktiviert.