Bluthochdruck schon ab 130/80 mmHg: Wie sinnvoll ist das aus medizinischer Sicht?

Die untere Grenze für Bluthochdruck ist in den USA auf 130/80 mmHg gesenkt worden. Münchner Forscher haben die neue US-Definition der Hypertonie nun auf die reale Welt in Deutschland übertragen – und kommen zu Ergebnissen, die eine Übernahme dieser Klassifikation wenig sinnvoll erscheinen lassen.

Von Peter Overbeck

 

05.12.2018

In der Frage, ab welcher Blutdruckhöhe von Hypertonie als Krankheit gesprochen werden kann, scheiden sich auf beiden Seiten des Atlantiks die Geister. Die kardiologischen US-Fachgesellschaften ACC und AHA haben 2017 als Reaktion auf die SPRINT-Studie in ihre Neufassung der US-Hypertonie-Leitlinien die Kategorie der „Stage 1 Hypertension“ eingeführt. Erstmals gelten damit auch Menschen mit Blutdruckwerten im Bereich 130-139 mmHg / 80-89 mmHg als sogenannte Hypertoniker. In Europa klassifizierte man solche Blutdruckwerte bislang als „hoch normal“ – und will dies auch weiterhin so halten.

Schwelle zur Hypertonie abgesenkt

Im Einzelnen sieht die neue US-Klassifikation so aus: Als „normal" gelten Blutdruckwerte von unter 120/80 mmHg; als „erhöht" werden systolische Werte zwischen 120 und 129 mmHg (bei diastolischen Werten < 80 mmHg) eingestuft. Ab 130/80 mmHg beginnt nach neuer Definition der krankhafte Bluthochdruck:  Zuvor als „prähyperton" erachtete systolische Werte zwischen 130 und 139 mmHg (oder diastolische zwischen 80 bis 89 mmHg) fallen  nun in das Hypertonie-Stadium 1 (S1-Hypertonie). Werte über 140/90 mmHg - erst sie werden in Europa als krankhaft eingestuft – entsprechen in den USA nun einer  „Stage 2 Hypertension“ (S2-Hypertonie).

 

Die Idee hinter der „Tieferlegung“ der Hypertonie-Schwelle war, ein motivationsförderndes Warnsignal für Handlungsbedarf zu installieren, damit Maßnahmen gegen einen weiteren Anstieg des Blutdrucks noch früher als bisher in die Wege geleitet werden. Dabei wurde nicht gleich an die Einnahme von Medikamenten, sondern eher an Umstellungen in Richtung gesündere Lebensweise als in den meisten Fällen zunächst ausreichende Strategie gedacht. Nur bei hohem Risiko wie im Fall einer schon bestehenden kardiovaskulären Erkrankung sollte schon bei „S1-Hypertonie“ die antihypertensive Pharmakotherapie bemüht werden.

Drastisch höhere Hypertonie-Prävalenz als Konsequenz

in Forscherteam um Prof. Karl-Heinz Ladwig von der Technischen Universität München (TUM) und dem Helmholtz Zentrum München wollte nun wissen, welche Konsequenzen eine Übertragung dieser US-Blutdruck-Klassifikation auf  die reale Welt in Deutschland  etwa für die hiesige Hypertonie-Prävalenz haben würde. Für die Studie, deren Erstautorin Seryan Atasoy ist, hat die Gruppe Daten von 11.603 Personen (Durchschnittsalter: 47,6 Jahre) aus einer prospektiven Bevölkerungsstudie (MONICA/KORA) aus der Region Augsburg genutzt.

 

Das erste Ergebnis: Würde die neue Blutdruck-Kategorie „S1-Hypertonie“ für Deutschland gelten,  stiege die Prävalenz der Hypertonie  in der Bevölkerung drastisch von derzeit  34% auf 63%. Das übertrifft sogar für die USA angestellte Berechnungen, wonach dort ein Anstieg der Prävalenzrate von 32% auf 46% infolge der neuen Hypertonie-Definition zu erwarten sei.

Kein höheres Sterberisiko bei „S1-Hypertonie“

Auch der Frage, ob das kardiovaskuläre Risiko von Personen mit  „S1-Hypertonie“ hierzulande  so hoch ist, dass eine frühere Behandlung gerechtfertigt erscheint, ist das Team um Ladwig nachgegangen. Dazu haben die Forscher anhand ihrer Daten das 10-Jahres-Risiko für die kardiovaskuläre Mortalität von Menschen mit „erhöhtem“ Blutdruck sowie mit „S1-Hypertonie“ und „S2-Hypertonie“ mit dem Risiko von Menschen mit normalem Blutdruck verglichen. In dieser Zeit waren insgesamt 370 tödliche kardiovaskuläre Ereignisse aufgetreten.

 

Im „S2-Hypertonie“-Stratum der Studie war die kardiovaskuläre Mortalität im untersuchten Zeitraum erwartungsgemäß signifikant höher als in der Subgruppe mit normalem Blutdruck (Hazard Ratio 1,54, 95% Konfidenzintervall 1,04–2,28, p = 0,03). Im Fall einer „S1- Hypertonie“ war das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben, hingegen nicht signifikant höher (HR 0,93, 95% CI 0,61–1,44, p=0,76). Angesichts weiter Grenzen der Konfidenzintervalle in den Rechenmodellen könne eine erhöhte kardiovaskuläre Sterblichkeit jedoch nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, konzedieren die Studienautoren.

Nachteiliger „Labeling-Effekt“ im Spiel?

Nach ihrer Analyse war die Prävalenz von kardiovaskulären Risikofaktoren wie Rauchen und Bewegungsmangel in der Subgruppe mit „S2-Hypertonie“  am höchsten – trotz festgestellter Hypertonie.  Dies zeige, dass viele Patienten ungeachtet der Konfrontation mit der Diagnose Hypertonie ihren Lebensstil nicht umstellen. Der These, dass eine frühere Diagnosestellung nach den neuen US-Kriterien per se die Motivation zur gesünderen Lebensweise stärken könnte, begegnen Ladwig und sein Team deshalb mit Skepsis.

 

Nach ihrer Ansicht könnten sogar negative Auswirkungen für die Psyche der Betroffenen resultieren. Bei ihrer Untersuchung stellten die Münchner Forscher nämlich fest, dass bei Personen mit „S2-Hypertonie“   seltener  Anzeichen für eine Depression bestanden. Nur bei Personen im „S2-Hypertonie“ -Stratum, die blutdrucksenkende Medikamente einnahmen, verhielt es sich anders: Bei rund der  Hälfte wurden depressive Stimmungslagen festgestellt, was bei Nicht-Behandelten nur zu einem Drittel der Fall war.

 

Die Gruppe um Ladwig sieht im sogenannten „Labeling-Effekt“ eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied. Danach kann sich die Etikettierung von Menschen als „krank“ nachteilig  auf ihre psychische Gesundheit auswirken.

„Übernahme dieser Leitlinie wäre falsch“

Durch  die neue US-Hypertonie-Leitlinie steige der Anteil der Erwachsenen mit der Diagnose Bluthochdruck. Dadurch würden viele Menschen „zusätzlich psychischem Druck ausgeliefert – ohne dass für sie eine signifikant höhere Gefahr bestehen würde, eine tödliche Herz-Kreislauferkrankung zu entwickeln und ohne dass eine Motivationswirkung der Diagnose zu erwarten wäre,“ betont Ladwig in einer Pressemitteilung  der TU München. Eine Übernahme dieser Leitlinie  in Europa wäre daher aus seiner Sicht grundsätzlich falsch.

 

Die für die Änderung der US-Leitlinien verantwortlichen Experten werden sich davon aber wohl kaum beeindruckt  zeigen. Sie gehen offensichtlich von anderen Zahlen aus. Gerade erst haben sie im Fachblatt „Circulation“ eine auf Schätzungen angewiesene „Simulationsstudie“ publiziert, die das vorteilhafte gesundheitliche Potenzial der neuen Hypertonie-Leitlinien vor Augen führen soll.

3,0 Millionen Ereignisse vermeidbar?

Wenn es gelänge, die in diesen Leitlinien empfohlenen Ziele in der Praxis dauerhaft zu erreichen,  könnten innerhalb von zehn Jahren rund 3,0 Millionen kardiovaskuläre Ereignisse verhindert werden, lautet das Ergebnis der Analyse. Das sei weit mehr, als mit der Umsetzung der zuvor geltenden Leitlinien erreichbar gewesen wäre, so die Autoren. Die Kehrseite:  Aufgrund der niedrigeren  Zielwerte und intensiveren Blutdrucksenkung sei mit knapp 3,3 Millionen schwerwiegenden Begleitkomplikationen  als Preis zu rechnen.


Literatur

Atasoy S. et al.:  Association of hypertension cut-off values with 10-year cardiovascular mortality and clinical consequences: a real-world perspective from the prospective MONICA/KORA study. Eur Heart J  2018. DOI:10.1093/eurheartj/ehy694 

 

Pressemitteilung der Technischen Universität München: Frühe Krankheitsdiagnose schützt nicht vor tödlichen Herzerkrankungen - Studie: Neue US-Richtlinie für Bluthochdruck bietet keine Vorteile für Betroffene, 23. November 2018

 

Bress A.P. et al: Potential Cardiovascular Disease Events Prevented with Adoption of the 2017 American College of Cardiology/American Heart Association Blood Pressure Guideline. Circulation 2018, online 19. November.

Diese Seite teilen