Reduktion von Antihypertensiva bei hohem Alter und Gebrechlichkeit?

 

ESC Congress 2025 | RETREAT-FRAIL: Die multizentrische, randomisierte Studie untersuchte, ob eine schrittweise Reduktion der Antihypertensiva bei älteren und gebrechlichen Personen aus Pflegeeinrichtungen mit gut kontrolliertem Blutdruck die Gesamtmortalität verringerte. Prof. Athanase Benetos (Nancy, Frankreich) stellte die Studiendaten vor.1


Prof. Marcel Halbach (Herzzentrum, Uniklinik Köln) berichtet und kommentiert.

Von:

Prof. Marcel Halbach

Herzzentrum, Uniklinik Köln

 

 

08.09.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Songquan Deng / Shutterstock.com

 

Die ESC-Leitlinien zur arteriellen Hypertonie aus dem Jahre 2024 empfehlen einen Zielblutdruck <130/80 mmHg für fast alle Patientinnen und Patienten, gestützt durch mehrere randomisierte Studien (z.B. BPROAD, ESPRIT, SPRINT, STEP).2 Ausgenommen von dieser Empfehlung sind u.a. Patientinnen und Patienten >85 Jahren oder mit moderater bis schwerer Gebrechlichkeit (Frailty). Diese Patientengruppen waren in den großen randomisierten Studien nicht ausreichend repräsentiert, zudem bestehen Bedenken bzgl. eines erhöhten Nebenwirkungs- und Interaktionspotentials einer intensiven antihypertensiven Therapie. Beobachtungsstudien wie die PARTAGE-Studie3 haben sogar eine erhöhte Mortalität bei älteren und gebrechlichen Patientinnen und Patienten mit einem Blutdruck <130 mmHg unter antihypertensiver Therapie nahegelegt. In einer Subgruppenanalyse der SPRINT-Studie war hingegen bei Patientinnen und Patienten mit im Mittel 80 Jahren unabhängig vom Grad der Gebrechlichkeit ein Nutzen der intensiven Blutdrucksenkung beobachtet worden, Heimbewohnende waren jedoch von der Studie ausgeschlossen.4 Weitere randomisierte Studien mit älteren, gebrechlichen Patientinnen und Patienten haben teils widersprüchliche Ergebnisse bzgl. der Sicherheit einer Deeskalation der Antihypertensiva erbracht.5,6

 

Somit ist bislang unklar, ob sehr alte und gebrechliche Patientinnen und Patienten von einer intensiven Blutdrucksenkung profitieren oder ob sogar eine bewusste Deeskalation der Therapie bei gut kontrolliertem Blutdruck prognostisch sinnvoll sein könnte.

Ergebnisse

 

Es wurden 528 Patientinnen und Patienten in die Step-down-Gruppe und 520 in die Kontrollgruppe randomisiert. Das mittlere Alter betrug ca. 90 Jahre, die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit 38,4 Monate. 38,5 % der Patientinnen und Patienten waren sehr gebrechlich gemäß Clinical Frailty Score. Der mittlere systolische Blutdruck lag zu Beginn bei 113±11 mmHg in der Step-down-Gruppe und bei 114±11 mmHg in der Kontrollgruppe.

 

Die adjustierte mittlere Differenz im systolischen Blutdruck während der Nachbeobachtung betrug 4,1 mmHg (95%KI [1,9; 5,7]), nach 24 Monaten lag der systolische Blutdruck bei 133,1±19,3 mmHg vs. 127,1±16,8 mmHg. Die Anzahl der Antihypertensiva sank in der Step-down-Gruppe von durchschnittlich 2,6±0,7 auf 1,5±1,1, während sie in der Kontrollgruppe von 2,5±0,7 auf 2,0±1,1 zurückging. Eine erneute Eskalation der Medikamente aufgrund eines Anstiegs des systolischen Blutdrucks auf 160 mmHg oder mehr war bei 7 Patientinnen und Patienten in der Step-down-Gruppe erforderlich. Während des Studienzeitraums verstarben 326 Personen (61,7 %) aus der Step-down-Gruppe und 313 (60,2 %) aus der Kontrollgruppe (adjustierte HR 1,02; 95%KI [0,86 ;1,21]; p=0,78). Auch kardiovaskuläre Endpunkte, Lebensqualität, kognitive und physische Fähigkeiten sowie die Nebenwirkungsrate waren in beiden Gruppen vergleichbar. 264 Patienten (50,0 %) in der Step-down-Gruppe und 260 (50,0 %) in der Kontrollgruppe erlitten einen Sturz.

Fazit

 

Die Autoren zogen die Schlussfolgerung, dass bei älteren, gebrechlichen Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeheimen, die mehrere blutdrucksenkende Medikamente einnahmen und einen systolischen Blutdruck unter 130 mmHg aufwiesen, eine schrittweise Reduktion der Antihypertensiva nicht zu einer geringeren Gesamtsterblichkeit führte.

Kommentar

 

Zunächst einmal ist es erfreulich, dass die bislang unbefriedigende Datenlage zur antihypertensiven Therapie bei sehr alten und gebrechlichen Patientinnen und Patienten nun durch eine größere randomisierte Studie ergänzt wurde. Basierend auf Erkenntnissen aus Beobachtungsstudien lautete die Hypothese der Studie, dass eine schrittweise Reduktion der antihypertensiven Therapie die Gesamtmortalität um 25 % reduzieren würde - dies wurde durch die RETREAT-FRAIL-Studie nicht bestätigt. Das untersuchte Kollektiv war mit im Mittel 90 Jahren und einem hohen Anteil sehr gebrechlicher Patientinnen und Patienten sicherlich geeignet, um dieser Fragestellung nachzugehen. Die Aussagekraft der Studie wird aber dadurch limitiert, dass die Zahl der Antihypertensiva sich im Studienverlauf nur gering zwischen den Gruppen unterschied (1/2 Medikament) und auch der Blutdruckunterschied mit ~4 mmHg zwar in einem prinzipiell klinisch relevanten Bereich lag, aber nur moderat war und angesichts der konkurrierenden Todesursachen bei 90-Jährigen nicht in einer Größenordnung, von der man einen großen Effekt auf die Mortalität erwartet hätte. 


Welche Schlussfolgerungen lassen sich für die tägliche Praxis ziehen? Die Ergebnisse der RETREAT-FRAIL-Studie deuten darauf hin, dass wir bei gut kontrolliertem Blutdruck nicht aufgrund eines sehr hohen Alters oder einer schweren Gebrechlichkeit Antihypertensiva reduzieren müssen – solange keine Nebenwirkungen vorliegen, die klar der antihypertensiven Therapie zuzuordnen sind. Die hohe Mortalität in Beobachtungsstudien bei sehr alten, gebrechlichen Patientinnen und Patienten unter antihypertensiver Therapie könnte durch eine reverse Kausalität bedingt sein, d.h. Patientinnen und Patienten mit schlechter Prognose neigen eher zu niedrigerem Blutdruck (während eine gute Blutdruckkontrolle nicht zu einer schlechten Prognose führt). 
Auf der anderen Seite zeigt sich kein Hinweis darauf, dass die „the lower the better“-Botschaft der großen randomisierten Hypertonie-Studien der vergangenen Jahre auch für die Patientengruppe der sehr Alten und Gebrechlichen gilt. Der weniger strenge Zielblutdruck gemäß ESC-Leitlinien erscheint hier also akzeptabel, d.h. wir müssen nicht <130 mmHg anstreben und können mit <140 mmHg zufrieden sein, wobei wir selbst das im Versorgungsalltag leider zu selten erreichen. 

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Verträglichkeit der Medikation und niedriger Blutdruckwerte, wobei wir bei gebrechlichen Patientinnen und Patienten insbesondere wegen der Sturzgefahr besorgt sind. Hier liefert RETREAT-FRAIL eine weitere Bestätigung dafür, dass eine Reduktion der Antihypertensiva zur Sturzprophylaxe nicht sinnvoll ist und auch keine Vorteile bzgl. der Lebensqualität oder der kognitiven bzw. physischen Leistungsfähigkeit bietet. 

Prof. Marcel Halbach

Prof. Marcel Halbach ist Oberarzt der Klinik III für Innere Medizin an der Uniklinik Köln und Leiter der Hypertonieambulanz und des Herzkatheterlabors. Darüber hinaus ist er stellvertretender Sprecher der DGK-Arbeitsgruppe Arterielle Hypertonie (AG 43).
privat

Referenzen

 

  1. Benetos A. RETREAT-FRAIL: A randomized controlled clinical trial on the effects of reduction of antihypertensive treatment in very old frail patients. Late-Breaking Clinical Trials: hypertension, 29.08.2025, Madrid, ESC 2025
  2. McEvoy JW et al. 2024 ESC Guidelines for the management of elevated blood pressure and hypertension. Eur Heart J. 2024 Oct 7;45(38):3912-4018.
  3. Benetos A et al. Polypharmacy in the Aging Patient: Management of Hypertension in Octogenarians. JAMA. 2015 Jul 14;314(2):170-80.
  4. Williamson JD et al. Intensive vs Standard Blood Pressure Control and Cardiovascular Disease Outcomes in Adults Aged ≥75 Years: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2016 Jun 28;315(24):2673-82.
  5. Bogaerts JMK et al. Effects of the discontinuation of antihypertensive treatment on neuropsychiatric symptoms and quality of life in nursing home residents with dementia (DANTON): a multicentre, open-label, blinded-outcome, randomised controlled trial. Age Ageing. 2024 Jul 2;53(7):afae133. 
  6. Sheppard JP et al. Effect of antihypertensive deprescribing on hospitalisation and mortality: long-term follow-up of the OPTiMISE randomised controlled trial. Lancet Healthy Longev. 2024 Aug;5(8):e563-e573. doi: 10.1016/S2666-7568(24)00131-4. 

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