Noch immer hält sich in der Bevölkerung das Gerücht, Statine verursachten zahlreiche Nebenwirkungen, befeuert durch Medienberichten. Eine große Metaanalyse widerlegt das erneut. Experten fordern nun endlich Konsequenzen.
Noch immer hält sich in der Bevölkerung das Gerücht, Statine verursachten zahlreiche Nebenwirkungen, befeuert durch Medienberichten. Eine große Metaanalyse widerlegt das erneut. Experten fordern nun endlich Konsequenzen.
Von Veronika Schlimpert
21.10.2022
„Cholesterinsenker können krank machen“, lautete die Überschrift eines im SPIEGEL 38/2020 erschienenen Beitrages, „Cholesterin, der große Bluff“ war eine auf ARTE erschienene Doku, die viel Aufmerksamkeit erzeugte und noch immer auf Youtube angesehen werden kann. Es sind solche Berichte, welche die Menschen verunsichern und zum Teil sogar zum Absetzen ihrer Statintherapie bewegen. Und die aufgrund der andauernden Warnung vor angeblicher Nebenwirkungen bei nicht wenigen Menschen einen sog. Nocebo-Effekt auslösen. Die Patienten verspüren also aufgrund ihrer negativen Erwartungshaltung Muskelbeschwerden, die sie der Statintherapie zuschreiben, obwohl der Wirkstoff selbst gar nicht dahintersteckt.
Dass dieser Effekt für die große Mehrheit der unter Statin-Gabe verspürten Muskelbeschwerden verantwortlich ist, machen nun die Ergebnisse einer umfassenden Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists’ (CTT) Collaboration deutlich. Der beteiligte Autor Prof. Colin Baigent von der Universität Oxford hat die Daten beim diesjährigen ESC-Kongress in Barcelona vorgestellt. Zeitgleich sind sie im „Lancet“ publiziert worden.
Um einen Bias und Confounding weitestgehend ausschließen zu können, fokussierten Baigent und sein Team sich ausschließlich auf randomisierte doppelblinde Studien mit mind. 1.000 Teilnehmer. Darüber hinaus nutzen sie individuelle Patientendaten. Insgesamt 23 Studien gingen in die Auswertung ein; 19 von diesen hatten Statine vs. Placebo untersucht (mit einem medianen Follow-up von 4,3 Jahren und insgesamt 123.940 Probanden), 4 Studien hatten die Wirkung einer weniger intensiven Statintherapie mit der einer hochintensiven Behandlung verglichen (medianes Follow-up: 4,9 Jahre; 30.724 Probanden).
Im ersten Jahr der Behandlung verursachte die Statin-Einnahme tatsächlich einen geringfügigen, aber statistisch signifikanten 7%igen relativen Anstieg an erstmals auftauchenden Muskelschmerzen oder Muskelschwäche (Rate Ratio, RR: 1,07). „Es gibt also verlässliche Evidenz für einen geringen Anstieg, aber der ist sehr gering“, machte Baigent deutlich. In absoluten Zahlen ausgedrückt waren 11 von 1.000 Patienten davon betroffen bzw. oder anders formuliert: weniger als 1% der Probanden.
Wenn man den tatsächlichen Anstieg mit der Menge der insgesamt angegebenen Nebenwirkungen vergleicht, zeigt sich, dass nur etwa 1 von 15 solcher Berichte tatsächlich auf die Statinbehandlung zurückzuführen ist. Oder wie Baigent es umgekehrt ausdrückte: „93% der Statin-Beschwerden, die wir sehen, liegen nicht an dem Statin“.
Eine weitere wichtige Message: Nach dem ersten Behandlungsjahr ließ sich in der Metaanalyse keine signifikante Zunahme solcher Nebenwirkungen mehr nachweisen.
Das trag allerdings nicht auf die hochintensive Statintherapie zu. Diese ging über den gesamten Zeitraum mit einem geringfügig höheren relativen Risiko einher als eine weniger intensive Behandlung im Vergleich zu Placebo (RR: 1,08 vs. 1,03). Und dieser geringfügige Anstieg war auch nach einem Jahr noch zu sehen (RR: 1,05).
Bei der überwiegenden Anzahl an Patienten mit tatsächlichen Muskelbeschwerden ließ sich im Übrigen kein Kreatinkinase-Anstieg nachweisen (>96%), wobei der Laborwert nur bei wenigen Patienten verfügbar war (˂ 6,2%). Baigent schließt daraus, dass die meisten, in den Studien aufgetretenen Muskelbeschwerden milde waren und die Behandlung in diesen Fällen meist fortgesetzt werden konnte.
Angesichts dieser Ergebnisse lässt der britische Epidemiologe keinen Zweifel an dem kardiovaskulären Nutzen einer Statinbehandlung, die seiner Ansicht nach die damit einhergehenden Risiken bei weitem überwiegt. „Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist sehr eindeutig“, stellte er beim ESC klar. Baigent fordert deshalb einen differenzierteren Umgang mit vermeintlichen Statin-Nebenwirkungen. „Wir müssen einen besseren Job machen im Management von Patienten mit Muskelbeschwerden, weil viele von diesen ihre Behandlung absetzen und diese niemals wieder fortführen“, sagte der Kardiologe. Des Weiteren sollte seiner Ansicht nach die Etikettierung der Medikamente und die
Packungsbeilagen überdacht werden.
Prof. Maciej Banach sieht ebenfalls Handlungsbedarf, wie er in einem begleitenden Editorial ausführt: „Ärzte, Fachgesellschaften und Regierungen haben die Entwicklung einer lautstarken Anti-Statin-Bewegung zugelassen, die dazu geführt hat, dass 7–10 Mal öfter sog. Fake News im Internet veröffentlicht werden als verlässliche Berichte über die gesundheitsschädliche Rolle von Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin und den Nutzen einer Statintherapie“, schreibt der im polnischen Lodz tätige Kardiologe dazu. Banachs Ausführungen nach lässt sich das Problem deshalb nur mit Öffentlichkeitsarbeit in den Griff bekommen. Es sei dringend notwendig, dass alle Akteure zusammenarbeiten und effektive Aufklärungskampagnen für Patienten und die Öffentlichkeit (beginnend in der Schule) produzieren, führte er aus. Ebenso sei es wichtig, dass andere Ärzte fortwährend weitergebildet werden, so der Kardiologe. Denn schlussendlich könnten, worauf Banach am Ende seines Editorials hinweist (wenn die Empfehlungen zur Statinintoleranz konsequent umgesetzt werden), bis zu 98% der Patienten ihre Statinbehandlung fortsetzen.
Baigent C: CTT meta-analysis of the effects of statins on muscle symptoms.; Hotline-Session 9, ESC Congress 2022, 26. bis 29. August in Barcelona
Cholesterol Treatment Trialists‘ Collaboration. Effect of statin therapy on muscle symptoms: an individual participant data meta-analysis of large-scale, randomised, double-blind trials; The Lancet 2022; https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01545-8
Banach M. Statin intolerance: time to stop letting it get in the way of treating patients; The Lancet 2022;
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01643-9