Dass bei Patientinnen und Patienten mit akutem Koronarsyndrom und Mehrgefäß-KHK eine komplette Revaskularisation unter Einbeziehung auch von nicht infarktbezogenen Koronarstenosen (non-culprit lesions) klinisch vorteilhafter ist als eine alleinige Wiedereröffnung der infarktrelevanten Koronarläsion (culprit lesion), steht inzwischen außer Frage. Unklar ist dagegen noch, wie dabei in der Praxis optimalerweise vorgegangen werden sollte: Sollen alle relevanten Koronarläsionen – also „Culprit“- wie auch „Non-culprit“-Läsionen – gleich bei der Akut-PCI in einem Schritt behandelt werden oder ist es besser, sich bei der Akut-PCI zunächst nur auf die infarktbezogene Koronarläsion zu konzentrieren und für die „Non-culprit“-Läsionen wenig später eine elektive Folge-PCI einzuplanen?
In dieser Frage gibt es durch die BIOVASC-Studie, in der beide Strategien einer kompletten Revaskularisation erstmals bei Patientinnen und Patienten mit akutem Koronarsyndrom (40 % STEMI, 52 % NSTEMI) und koronarer Mehrgefäßerkrankung direkt miteinander verglichen wurden, nun neue Evidenz. Nach ihren Ergebnissen war die sofortige Komplett-Revaskularisation im Rahmen der Akut-PCI der zweizeitigen PCI-Strategie in klinischer Hinsicht „nicht unterlegen“.
Die 1-Jahres-Rate für den primären Studienendpunkt (Tod, erneuter Herzinfarkt, jegliche ungeplanten zusätzlichen Stenting-Prozeduren sowie zerebrovaskuläre Ereignisse) betrug 7,6 % nach sofortiger kompletter Revaskularisation und 9,4 % nach stufenweiser kompletter Revaskularisation (Hazard Ratio: 0,78; 95-%-Konfidenzintervall: 0,55–1,11).
Bei der Mortalität gab es keinen Unterschied zwischen beiden Vorgehensweisen (1,9 % vs. 1,2 %). Nach sofortiger Revaskularisation aller als relevant erachteten Läsionen waren aber weniger Myokardinfarkte (1,9 % vs. 4,5 %) und ungeplante zusätzliche Stenting-Prozeduren (4,2 % vs. 6,7 %) zu verzeichnen als nach in zwei PCI-Sitzungen vorgenommener Revaskularisation. Fast jeder zweite Myokardinfarkt (44 %) in der Gruppe mit stufenweiser Revaskularisation trat dabei im Intervall zwischen beiden PCI-Prozeduren auf. Möglicherweise sei bei der initialen PCI die „culprit lesion“ nicht richtig erkannt und damit zunächst unbehandelt geblieben, so eine von Studienleiter Dr. Roberto Diletti, Erasmus University Medical Center, Rotterdam, angebotene Erklärung für die relativ hohe Infarktrate.
Mögliche Bedenken, dass eine sofortige komplette Revaskularisation mit Risiken für die Patientinnen und Patienten einhergehen könnte, werden durch die BIOVASC-Ergebnisse zweifellos entkräftet. Das bedeutet, dass sich für diese Strategie entschieden werden kann, nicht aber, dass deren Wahl ein „Muss“ ist. Ihre Überlegenheit ist schließlich nicht belegt worden. Je nach besonderer Situation kann es auch weiterhin gute Gründe dafür geben, eine stufenweise Revaskularisation für die bessere Option zu halten.