Zeitzeugen-Interview: Prof. Alain Cribier

 

Mit Zeitzeugen-Interviews möchte das Historische Archiv der DGK unter Leitung von Dr. Fokko de Haan spannende historische Entwicklungen aufzeigen und die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten der Kardiologie nachzeichnen. Der Blick in die Vergangenheit hilft, den heutigen Stand und zukünftige Entwicklungen in der Welt der Kardiologie besser zu verstehen.


Im Dezember 2021 sprach Dr. Fokko de Haan mit Prof. Alain Cribier.

Von:

Dr. Fokko de Haan

Historisches Archiv der DGK

 

26.11.2025

 

Bildquelle (Bild oben): kanetmark / Shutterstock.com

 

Um einen der bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter der interventionellen Kardiologie zu interviewen, reiste Dr. Fokko de Haan mit Dr. H.E. Scherer, einem langjährigen Freund und früheren Schüler von Alain Cribier, nach Rouen in der Normandie, um den renommierten Kardiologen zu besuchen.

 

Dr. de Haan, Prof. Cribier, Dr. Scherer (von li nach re), Foto: privat Dr. de Haan, Prof. Cribier, Dr. Scherer (von links nach rechts), Foto: privat

Jugend und Anfänge in der Medizin

 

de Haan: Prof. Cribier, Sie wurden im Januar 1945 in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges geboren – wie waren die Lebensbedingungen in Frankreich? Wie war Ihre Jugend?


Cribier: Die Lebensumstände waren für mich und meine Familie nicht so schlecht. Meine Eltern waren keine Mediziner, aber es gab Verwandte, die frühzeitig mein Interesse auf die Medizin lenkten. Seit meinen Kindertagen las ich mit Begeisterung medizinische Bücher.


Im Alter von neun Jahren hatte ich das Glück, während meiner Ferien in Günzbach im Elsass Dr. Albert Schweitzer kennenzulernen, und er begeisterte mich für die Medizin, aber auch für das Klavierspiel. Das ist bis heute so geblieben.

de Haan: 1968 arbeiteten Sie in der Herzchirurgie in Paris bei Prof. Charles Dubost. Warum wurden Sie kein Herzchirurg?

 

Cribier: Ja, es war Zufall, dass ich als „Instrumentalist“ in der Herzchirurgie arbeiten durfte. Aber ich vermisste die Empathie für die Vor- und Nachsorge der Patientinnen und Patienten, und daher entschied ich mich für die Kardiologie. Insbesondere faszinierte mich die aufstrebende invasive und später interventionelle Kardiologie.

 

Zur Person

Prof. Alain Cribier

Prof. Alain Cribier (* 25. Januar 1945 in Paris; † 16. Februar 2024 in Rouen) war emeritierter Direktor der Abteilung für Kardiologie am Universitätsklinikum Rouen, Frankreich. 1985 führte er die ersten Ballonvalvuloplastien der Aortenklappe durch, 1993 entwickelte er die ersten perkutanen Stentklappen. 2002 gelang ihm mit der ersten TAVI-Prozedur ein Durchbruch in der klinischen Kardiologie. 2014 wurde er Ehrenmitglied der DGK.

Prof. Hasso Scholz

 

de Haan: Warum verließen Sie Ihre Geburtsstadt Paris und gingen nach Rouen?


Cribier: Zu meiner Enttäuschung wollte meine Frau nicht in der Großstadt Paris leben, und so beschlossen wir, nach Rouen zu gehen – nur 120 km entfernt. Heute bin ich darüber aber sehr froh! Hier trat ich in die Abteilung von Prof. Brice Letac ein, der die kardiologische Klinik an der Charles-Nicolle-Universität leitete. Es passte mir gut, dass er an der invasiven Kardiologie sehr interessiert war – er war einer der Ersten, der diese Disziplin in Frankreich begründete. Er war für mich ein großer Arzt und Lehrer und darüber hinaus aufgeschlossen gegenüber Innovationen und kardiologischer Forschung.

de Haan: 1976 arbeiteten Sie bei Dr. Swan und Dr. Ganz am Cedars Sinai Hospital in Los Angeles. Wie empfanden Sie diese Zeit?


Cribier: Ja, Prof. Letac kannte diese beiden, und durch ihn konnte ich dort arbeiten. Als „Erfinder“ des Swan-Ganz-Katheters waren beide Kardiologen für mich hervorragende Lehrer und Mentoren. Noch heute bin ich dankbar für diese Zeit.

Aortenklappenintervention und TAVI-Entwicklung

 

de Haan: Um 1985 herum begann die Ära der Aortenklappenintervention. Bis zur ersten TAVI-Prozedur 2002 ein langer Weg ...


Cribier: In den Achtzigerjahren war die hochgradige valvuläre Aortenklappenstenose ein oft lebensbedrohlicher Herzfehler, der nur chirurgisch behandelt werden konnte. Ein Alter von über 70 Jahren und bedeutsame Komorbiditäten waren in der Regel Ausschlusskriterien für eine OP wegen des enormen Risikos, den Eingriff nicht zu überleben.


So entwickelte ich mit meinem Team die Ballonvalvuloplastie der Aortenklappe und führte diese erstmals im September 1985 durch. Es handelte sich um eine 72-jährige Patientin, hochsymptomatisch und zu alt für eine OP. Mein Chef, Prof. Letac, verbot mir zunächst die Valvuloplastie durchzuführen – das sei viel zu gefährlich. Erst als die Patientin zum dritten Mal hochsymptomatisch aufgenommen werden musste, stimmte er zu. 1986 habe ich diesen Fall mit einem weltweit enormen Echo veröffentlicht.


Wenn es den Patientinnen und Patienten nach der Valvuloplastie auch zunächst erheblich besser ging, entwickelte sich doch sehr oft in kurzer Zeit eine bedeutsame Restenose. Da kam mir der Gedanke, die Ballonvalvuloplastie mit einer Stentimplantation im Aortenring zu kombinieren. Niemand konnte sich vorstellen, dass das wegen der Komplikationsmöglichkeiten (z. B. Okklusion der Koronarostien, Verletzung der Mitralklappe, Embolierisiko, mangelhafte Stentfixation etc.) funktionieren könnte.

 

In den Neunzigerjahren führten wir daher Autopsiestudien an Verstorbenen mit hochgradigen Aortenklappenstenosen durch. Mit 23-mm-Palmaz-Schatz-Stents fixierten wir die eingeführte Prothese und waren selbst verblüfft, wie gut das klappte und wie fest die Prothese im Ring saß. Das ermutigte natürlich, weiterzuarbeiten! Die notwendige Unterstützung durch Firmen blieb mangels Überzeugung für das Konzept aus. So gründete ich zusammen mit Prof. Martin Leon aus den USA und zwei Ingenieuren ein Start-up-Unternehmen namens PVT (Percutaneous Valve Technologies). Mit finanzieller Unterstützung durch ein kleines israelisches Unternehmen gelang es uns, einen Prototyp einer tricuspiden Klappe aus Perikardgewebe in einem 23-mm-Stent zu entwickeln, der dann nach zweijähriger Testung im Labor und in Tierversuchen reif zum Einsatz am Menschen war.

Weltweit erste Prozedur


de Haan: Am 16.4.2002 führten Sie weltweit die erste TAVI-Prozedur durch. Was waren die Schwierigkeiten?

Cribier: Zur Aufnahme kam ein 57-jähriger, schwer symptomatischer, multimorbider Patient mit hochgradiger Aortenklappenstenose und einer schweren Einschränkung der linksventrikulären Funktion (EF: 12 %). Eine OP wurde von der Chirurgie wegen des hohen Risikos abgelehnt. Zusätzlich bestand beim Patienten eine schwere arterielle Verschlusskrankheit der Beine.


Wir entschlossen uns mangels Alternative zur TAVI, mussten aber das Besteck über die Femoralvene einführen. Nach transseptaler Passage stellten wir im linken Ventrikel noch einen Thrombus fest. Die Situation war bedrohlich, und während eines kurzen Herzstillstandes positionierte ich rasch die Aortenprothese, was – Gott sei Dank – prompt gelang. Innerhalb weniger Sekunden erholte sich der Patient, der Blutdruck stieg an und echokardiographisch sahen wir eine gut funktionierende Aortenprothese.

 

Dieses Ergebnis begeisterte die Kardiologinnen und Kardiologen weltweit, und es entstand ein enormes Interesse an der Methode. Bis heute erreichen uns viele Anfragen, um TAVI zu erlernen.

Generelle TAVI-Erfahrungen

 

de Haan: Welche Rolle spielen Erfahrung des Untersuchenden und Equipment?

 

Cribier: Aufgrund langjähriger Erfahrung bei der Patientenselektion, aber auch verbesserter Bildgebung und verbessertem Prothesen und Einführbesteckmaterial hat TAVI diese positive Entwicklung genommen. Über die Femoralarterie wird heute in der Regel mit einem 14-F-Katheter begonnen – statt einem 24-F-Katheter in der Anfangszeit. Es gibt eine breite Palette an Prothesentypen und -größen. Die Rate ernster Komplikationen beträgt 1–2 %. Mein Team und ich veranstalten regelmäßig Trainingskurse.

de Haan: Es gibt drei Hauptprobleme bei der TAVI: bikuspide Aortenklappen, besonders wenn sie verkalkt sind, Randleck (PVL) und die Indikation für einen Herzschrittmacher (SM), oder?

 

Cribier: Nach über 20-jähriger Erfahrung mit TAVI wissen wir, dass die Klappenanatomie keine besonderen Probleme darstellt, außer natürlich bei starker Verkalkung. Die selbstexpandierende Core-Valve-Prothese führt häufiger zu PVL und SM-Abhängigkeit, allerdings ist sie bei starker Verkalkung oder kleinem Klappenring zu bevorzugen. Der Zugang zu den Koronarostien ist naturgemäß bei der ballonexpandierenden Edwards-Prothese besser gewährleistet.

de Haan: Welche Patienten sind nicht geeignet für eine TAVI Prozedur?

 

Cribier: 2020 wurden in Frankreich 15.000 Personen, in Deutschland 25.000 Personen und in den USA 60.000 Personen mit TAVI versorgt. Insgesamt bisher weltweit mehr als 1,5 Millionen! Derzeit sind jüngere Personen unter 65 bzw. 75 Jahren sowie Patientinnen und Patienten mit stark verkalkten bikuspiden Aortenklappen oder mit abnorm klappennahen Koronarostien nicht für eine TAVI geeignet, sondern für eine Klappenoperation. Valve-in-Valve-Prozeduren sind nach TAVI genauso möglich wie nach Bioprothesen-OP.

de Haan: TAVI oder Chirurgie – wie hoch ist das Risiko für Patientinnen und Patienten?

 

Cribier: In den letzten Jahren hatten wir hier in Rouen 5–15 Prozeduren pro Woche, eine ziemlich sichere Routine: transfemoraler Zugang, Lokalanästhesie und keine allgemeine Narkose, kein periprozedurales Echo mehr und arterielles Katheterverschlusssystem. In der Regel werden die Patientinnen und Patienten nach ein bis zwei Tagen entlassen. Ein herzchirurgisches Stand-by wird nicht durchgeführt. Eine Switch TAVI/OP habe ich in all den Jahren einmal erlebt.


Die aktuelle Studienlage von Eingriffen bei Hochrisiko- bis hin zu Niedrigrisikopatientinnen und -patienten hat in den letzten Jahren gezeigt, dass TAVI dem operativen Eingriff nicht unterlegen, ja oft überlegen ist. 2019 wurde das Patientenalter für einen TAVI-Eingriff in den USA auf 65 Jahre gesenkt. In Europa liegt es zurzeit noch bei 75 Jahren.

Alltag im Ruhestand

 

de Haan: Wie sieht der Tagesablauf bei Ihnen im Ruhestand aus?


Cribier: Mehr als 30 % des Tages verbringe ich hier in Rouen mit Trainingskursen für junge Kardiologinnen und Kardiologen, die die Methode erlernen wollen. Häufig bin ich auf Reisen zu Kongressen oder Workshops, in Zeiten der Corona-Pandemie auch oft in Webinars. Täglich spiele ich Klavier – oft mehrere Stunden, wie z. B. Bach, Chopin, Rachmaninoff etc. – wie schon erwähnt, eigentlich mein ganzes Leben lang! Mit Sport muss ich aufgrund meiner schweren KHK vorsichtig sein. Sie ist aber momentan stabil. Auch wir Kardiologen sind davor nicht bewahrt. Meine Frau arbeitet als Psychoanalytikerin und unsere beiden Söhne sind kaufmännisch bzw. im IT-Management tätig – keine Mediziner! Ich danke sehr für das Interview und grüße herzlich alle meine deutschen Kollegen!

 

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