Riecker: Ich bin auch heute der Auffassung, dass man als Chefin oder Chef einer Klinik mit kardiologischem Schwerpunkt verschiedene Teilgebiete wie Rhythmologie, Kardiomyopathie, koronare Herzkrankheit etc. den einzelnen Oberärztinnen und Oberärzten überlassen muss, die quasi selbständig ihre Subspezialität in hervorragender wissenschaftlicher und klinischer Arbeit vertreten sollten.
Zum Ruf meiner Klinik trugen aber nicht nur die Leitenden der Forschergruppen mit ihren Mitarbeitenden bei, sondern das gesamte Personal, darunter Oberärztinnen und Oberärzte und Assistentinnen und Assistenten, das Pflegepersonal, das akademische und Assistenzpersonal im Labor und das Sektretariat.
Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten das Gefühl haben, nicht bevormundet und gegängelt zu werden. Allerdings legte ich immer Wert auf Qualität, speziell darauf, naturwissenschaftliche Grundlagen immer zu berücksichtigen, und an ihre Seite trat die klinische Erfahrung. Unstimmigkeiten unter Oberärztinnen und Oberärzten wurden minimiert, indem jeder sein „eigenes“ Ressort vertrat.
de Haan: Während Ihrer 20 Jahre in München wird Ihr Bestreben nach höchst qualifizierter internistischer Versorgung von Patientinnen und Patienten sowie Nachwuchsausbildung deutlich. Ihre Examensvorlesung „Differentialdiagnose der Inneren Krankheiten“, Ihre wöchentlichen Chefarztvisiten mit dem „besonderen Fall“ werden noch heute von Mitarbeitenden in den höchsten Tönen gelobt. Gehörte das für Sie zu den Aufgaben des Klinikleiters, nach dem Motto: „Fordern und fördern“?
Riecker: Ja, Voraussetzung für besonders gute Versorgung der Patientinnen und Patienten ist ein gut ausgebildetes ärztliches Personal. Ich war gerne Lehrer, und wenn ich merkte, dass ein Mitarbeitender motiviert war, setzte ich mich gerne im Hinblick auf den weiteren Berufsweg für die Person ein, und auch mit der Gelegenheit, Wissen zu vertiefen und zu vermehren.
Die genannte abendliche Vorlesung war bei allen Studierenden und Assistenten sehr beliebt, der Hörsaal war übervoll, und es kamen sogar Studierende der TU München. Das Geheimnis war aber nicht nur der medizinische Inhalt, sondern auch die Darbietung und eine Prise Entertainment. Medizinischer Lehrstoff besteht nicht nur aus Faktenwissen, sondern auch aus visualisierten Beispielen (z. B. dunkelbrauner Urin beim Verschlussikterus). Wissenschaftliche Grundlagenkenntnisse gepaart mit klinischer Erfahrung und als Sahnehäubchen der persönliche Eindruck von der Patientin oder dem Patienten – das macht den Reiz aus.
de Haan: Ihre Wissensweitergabe in großen Standardwerken und Zeitschriften war neben kardiologischen Themen auch wichtigen internistischen Themen gewidmet, z. B. „Schock“ im Handbuch der Inneren Medizin. Legten Sie Wert darauf, dass die Kardiologie in die Innere Medizin eingebettet sein muss?
Riecker: Ja, unbedingt! Kenntnisse der Vernetzung verschiedener internistischer Schwerpunkte sind Grundlage jeder späteren Spezialisierung. Gerade heute, wo die Auffächerung einzelner Schwerpunkte aufgrund moderner Techniken und Erkenntnisse eine große Rolle spielt, kann das nicht genügend betont werden.