Zeitzeugen-Interview: Prof. Gerhard Riecker

 

Mit Zeitzeugen-Interviews möchte das Historische Archiv der DGK unter Leitung von Dr. Fokko de Haan, spannende historische Entwicklungen aufzeigen und die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten der Kardiologie nachzeichnen. Der Blick in die Vergangenheit hilft, den heutigen Stand und zukünftige Entwicklungen in der Welt der Kardiologie besser zu verstehen.


Im Dezember 2020 sprach Dr. Fokko de Haan mit Prof. Gerhard Riecker.

Von:

Dr. Fokko de Haan

Historisches Archiv der DGK

 

23.07.2025

 

Bildquelle (Bild oben): kanetmark / Shutterstock.com

de Haan: 1926 wurden Sie in Karlsruhe geboren. Hatten Sie Geschwister? Waren die Eltern Mediziner bzw. Medizinerin? 

 

Riecker: Die Vorfahren meiner Eltern stammten aus dem Elsass und waren alemannisch geprägt. Mein Vater war als Industriekaufmann in Karlsruhe tätig. Geschwister habe ich keine. 

 

de Haan: Während Ihrer Kindheit und Schulzeit waren die politischen Zeiten schwierig. Wie erlebten Sie diese Jahre? 

 

Riecker: Von den komplexen politischen Verhältnissen in dieser Zeit habe ich als Kind nichts verspürt. 

 

de Haan: Mit 18 Jahren machen Sie Abitur und wurden zum Wehrdienst eingezogen und gerieten noch am Ende des 2. Weltkriegs in amerikanische Gefangenschaft. Wie konnten Sie dabei das Studium beginnen und warum Medizin? 

 

Riecker: Am Ende der Schulzeit wurde ich zum Arbeitsdienst eingezogen und in der Flakabwehr eingesetzt, dann aber in Wiesbaden zur Offiziersausbildung angenommen. In Nierstein geriet ich in amerikanische Gefangenschaft und kam nach Amerika. Aufgrund der Genfer Konvention wurde ich nicht im Arbeitslager eingesetzt, sondern wurde als angehender Offizier glücklicherweise in ein amerikanisches Ausbildungscurriculum aufgenommen, in das unterschiedliche Berufsgruppen eingeteilt wurden.  

 

Hier konnte ich naturwissenschaftliche Vorlesungen – leider ohne Praktika – besuchen, die mir zum Glück später in Deutschland adäquat zum Vorphysikum anerkannt wurden. Mein medizinisches Interesse lag auch darin begründet, dass ich für meine Mutter, die an Migräne litt, pharmazeutische Präparate aus der Apotheke zu besorgen hatte. 

 

Zur Person

Prof. Gerhard Riecker

Prof. Gerhard Riecker (* 2. Februar 1926 in Karlsruhe; † 29. Juli 2022 in Pullach im Isartal bei München) war rund 20 Jahre Leiter der Medizinischen Klinik I an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit vorangegangenen Stationen in Heidelberg, Marburg und Göttingen. Er hatte neben zahlreichen Ehrenämtern auch Gastprofessuren u. a. in Paris, Buenos Aires und London inne und war 1983 DGK-Präsident und Tagungspräsident der Jahrestagung.

Prof. Gerhard Riecker

 

 

Medizinische Karriere nach der Rückkehr aus den USA

 

de Haan: Nach ihrer Rückkehr aus den USA setzten Sie das Studium von 1947 bis 1951 in Heidelberg fort. Wie erlebten Sie diese Zeit? 

 

Riecker: In Heidelberg war mein Lieblingsfach die Innere Medizin, und ich lernte hier den dort tätigen Oberarzt Prof. Herbert Schwiegk kennen, dem mein Interesse in der Vorlesung auffiel. 

 

de Haan: Nach dem Staatsexamen (1951) waren Sie ein Jahr am Pharmakologischen Institut bei Prof. Eichholtz bevor Sie nach Marburg wechselten, um dort am Physiologischen Institut bei Prof. Kramer zu arbeiten. Wurde hier der Grundstock für Ihre spätere klinische Tätigkeit gelegt? 

 

Riecker: Während der Zeit im Pharmakologischen Institut promovierte ich zur „Entwicklung halbsynthetischer Herzglykoside“. Prof. Schwiegk war daran dermaßen interessiert, dass er mich im Labor besuchte und bei den Experimenten zusah. Daraus entwickelte sich eine langjährige freundschaftliche Verbundenheit und nach seinem Wechsel nach Marburg besorgte er mir dort im Physiologischen Institut bei seinem Freund Prof. Kramer eine Assistentenstelle.

 

Hier fühlte ich mich ausgesprochen wohl, und mir gelang damals die Erstbeschreibung des Druck-Volumendiagramms beim Warmblüterherzen. Diese Jahre in den Fächern Pharmakologie und Physiologie prägten mich sehr. Ich halte sie auch heute noch für die entscheidenden Grundlagen meiner späteren internistisch-kardiologischen Tätigkeit. 

 

Lehrstühle in Göttingen und München

 

de Haan: 1954 begannen Sie Ihre klinisch-internistische Ausbildung bei Prof. Schwiegk in Marburg. Sie folgten ihm nach seiner Berufung 1956 nach München und blieben nach der Habilitation 1960 dort bis 1968. 

 

Riecker: Mein Forschungsschwerpunkt war die Funktion der Zellmembran der Skelettmuskelzelle. 1964 gelang mir mit H.-D. Bolte als Co-Autor die Erstbeschreibung des Mechanismus der Myotonia congenita Thomsen und 1966 der periodischen hypokaliämischen Muskelparalyse. Mit Mikropipetten führte ich dazu Einzelzellpunktionen der Skelettmuskulatur durch, u. a. auch bei mir selbst, und ich habe noch heute reichlich Glassplitter in den Armen. 1968 wurde ich auf den Lehrstuhl für Innere Medizin in Göttingen berufen. Trotz dieses großen beruflichen Schrittes fiel mir der Abschied aus München schwer. Später erhielt ich eine Berufung auf den internistischen Lehrstuhl in Bonn als Nachfolger von Prof. Siegenthaler, die ich jedoch ablehnte. 

 

de Haan: Am 01.09.1974 wurden Sie als Lehrstuhlinhaber an die Medizinische Klinik I der LMU in Großhadern berufen. Das Klinikum war neu gegründet worden, was war dort Ihre Aufgabe? 

 

Riecker: Ich freute mich besonders darüber, nach München berufen zu werden. Der Umstand, dass das Klinikum in Großhadern mit meiner Berufung erst neu aufgebaut werden sollte, war deshalb besonders, weil mir damit alle Freiheiten und Möglichkeiten zugestanden wurden, und ich mit vollem Tatendrang eine hochkarätige internistisch-kardiologische Klinik aufbauen konnte. 

 

de Haan: Bis zu Ihrer Emeritierung (01.04.1994) entwickelten Sie die Klinik zu einem national und international führenden internistischen Zentrum mit kardiologischem Schwerpunkt. Dazu gehörten herausragende Forschung und medizinische Persönlichkeiten. Gab es daneben noch weitere begünstigende Umstände? 

 

Riecker: Wegen der o. g. Möglichkeiten und meinen persönlichen Vorstellungen über eine renommierte internistische und kardiologische Klinik gelang es mir, hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bekommen und auch zu behalten. 

 

Prof. Gerhard Riecker 1994 bei der Abschiedsvorlesung Prof. Gerhard Riecker 1994 bei der Abschiedsvorlesung

Leitungsphilosophie als Klinikchef

 

Riecker: Ich bin auch heute der Auffassung, dass man als Chefin oder Chef einer Klinik mit kardiologischem Schwerpunkt verschiedene Teilgebiete wie Rhythmologie, Kardiomyopathie, koronare Herzkrankheit etc. den einzelnen Oberärztinnen und Oberärzten überlassen muss, die quasi selbständig ihre Subspezialität in hervorragender wissenschaftlicher und klinischer Arbeit vertreten sollten.

 

Zum Ruf meiner Klinik trugen aber nicht nur die Leitenden der Forschergruppen mit ihren Mitarbeitenden bei, sondern das gesamte Personal, darunter Oberärztinnen und Oberärzte und Assistentinnen und Assistenten, das Pflegepersonal, das akademische und Assistenzpersonal im Labor und das Sektretariat.  

 

Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten das Gefühl haben, nicht bevormundet und gegängelt zu werden. Allerdings legte ich immer Wert auf Qualität, speziell darauf, naturwissenschaftliche Grundlagen immer zu berücksichtigen, und an ihre Seite trat die klinische Erfahrung. Unstimmigkeiten unter Oberärztinnen und Oberärzten wurden minimiert, indem jeder sein „eigenes“ Ressort vertrat. 

 

de Haan: Während Ihrer 20 Jahre in München wird Ihr Bestreben nach höchst qualifizierter internistischer Versorgung von Patientinnen und Patienten sowie Nachwuchsausbildung deutlich. Ihre Examensvorlesung „Differentialdiagnose der Inneren Krankheiten“, Ihre wöchentlichen Chefarztvisiten mit dem „besonderen Fall“ werden noch heute von Mitarbeitenden in den höchsten Tönen gelobt. Gehörte das für Sie zu den Aufgaben des Klinikleiters, nach dem Motto: „Fordern und fördern“? 

 

Riecker: Ja, Voraussetzung für besonders gute Versorgung der Patientinnen und Patienten ist ein gut ausgebildetes ärztliches Personal. Ich war gerne Lehrer, und wenn ich merkte, dass ein Mitarbeitender motiviert war, setzte ich mich gerne im Hinblick auf den weiteren Berufsweg für die Person ein, und auch mit der Gelegenheit, Wissen zu vertiefen und zu vermehren.  

 

Die genannte abendliche Vorlesung war bei allen Studierenden und Assistenten sehr beliebt, der Hörsaal war übervoll, und es kamen sogar Studierende der TU München. Das Geheimnis war aber nicht nur der medizinische Inhalt, sondern auch die Darbietung und eine Prise Entertainment. Medizinischer Lehrstoff besteht nicht nur aus Faktenwissen, sondern auch aus visualisierten Beispielen (z. B. dunkelbrauner Urin beim Verschlussikterus). Wissenschaftliche Grundlagenkenntnisse gepaart mit klinischer Erfahrung und als Sahnehäubchen der persönliche Eindruck von der Patientin oder dem Patienten – das macht den Reiz aus. 

 

de Haan: Ihre Wissensweitergabe in großen Standardwerken und Zeitschriften war neben kardiologischen Themen auch wichtigen internistischen Themen gewidmet, z. B. „Schock“ im Handbuch der Inneren Medizin. Legten Sie Wert darauf, dass die Kardiologie in die Innere Medizin eingebettet sein muss? 

 

Riecker: Ja, unbedingt! Kenntnisse der Vernetzung verschiedener internistischer Schwerpunkte sind Grundlage jeder späteren Spezialisierung. Gerade heute, wo die Auffächerung einzelner Schwerpunkte aufgrund moderner Techniken und Erkenntnisse eine große Rolle spielt, kann das nicht genügend betont werden. 

 

Engagement in diversen Verbänden

 

de Haan: Ihre Wissensweitergabe in großen Standardwerken und Zeitschriften war neben kardiologischen Themen auch wichtigen internistischen Themen gewidmet, z. B. „Schock“ im Handbuch der Inneren Medizin. Legten Sie Wert darauf, dass die Kardiologie in die Innere Medizin eingebettet sein muss? 

 

Riecker: Ja, unbedingt! Kenntnisse der Vernetzung verschiedener internistischer Schwerpunkte sind Grundlage jeder späteren Spezialisierung. Gerade heute, wo die Auffächerung einzelner Schwerpunkte aufgrund moderner Techniken und Erkenntnisse eine große Rolle spielt, kann das nicht genügend betont werden. 

 

de Haan: Später in Ihrer klinischen Tätigkeit waren Sie sehr erfolgreich in nationalen und internationalen internistischen und kardiologischen Verbänden wie DGIM, DGK, ESC Investigation etc. berufspolitisch aktiv. War das mehr Pflichtbewusstsein als Begeisterung? 

 

Riecker: Das kann man so sagen. Berufspolitische Aktivität gehört für uns Ärzte dazu. Natürlich muss das jeder für sich persönlich entscheiden. Als Funktionär habe ich mich nie gefühlt und war dafür allein auch nicht zu begeistern. 

 

de Haan: 1983 waren Sie DGK-Präsident, als der Wechsel der Frühjahrstagung von Bad Nauheim nach Mannheim stattfand. Überraschend ist, dass Ihre kardiologische Verbandstätigkeit auf europäischer Ebene (ESC) fehlte. Woran lag das? 

 

Riecker: Der Wechsel nach Mannheim wurde besonders von mir als dem Präsidenten der DGK und dem Geschäftsführer Prof. Wolfgang Schaper wegen der zentralen Lage in Deutschland empfohlen. Hinzu kam, dass dort zuvor die Neurochirurgische Gesellschaft zu ihrem Jahreskongress mit Erfolg getagt hatte. Wir waren die zweite Fachgesellschaft, und der Oberbürgermeister hat uns sehr unterstützt – wir durften z. B. Gelder aus der Vermietung von Ständen an Pharmaindustrie und Medizintechnik für unseren Kongress verwenden. Eine Tätigkeit in den frühen 1980er-Jahren auf europäischer Ebene war für mich kein vorrangiges Ziel. Hier hat Prof. Loogen aus Düsseldorf 1984 mit der Organisation des ESC-Kongresses besondere Dienste geleistet. 

 

de Haan: Ihre besonderen internistischen und kardiologischen Tätigkeiten wurden durch viele Gastprofessuren (z. B. Paris, Buenos Aires, London, Litauen) honoriert. War das eine Belastung? 

 

Riecker: Nein, ich habe das gerne angenommen, und ich empfand dies als Anerkennung für mich und für die Deutsche Kardiologie, aber es war auch ein Klima der Verbundenheit bis zur Familiarität an den verschiedenen Orten zu spüren. 

 

 

Prof. Gerhard Rieckers 85. Geburtstag Prof. Gerhard Rieckers 85. Geburtstag

Highlights und weitere Interessensgebiete

 

de Haan: Nach Ihrer Emeritierung waren Sie weiterhin erfolgreich als Fachgutachter (z. B. DFG, SFB etc.) und Ratgeber von Kolleginnen und Kollegen aus Fach und Politik. Doch Sie wendeten sich dann mehr geisteswissenschaftlichen und philosophischen Themen zu. War dies Ihrer lebenslangen Neugier, gepaart mit fundamentalen Grundsätzen, geschuldet?

 

Riecker: Mein Urthema war die Einbettung der Naturwissenschaft, im engeren Sinne der internistischen Medizin, in die philosophische Thematik des Menschseins und -bleibens. Man muss die Grenzen der Naturwissenschaften überschreiten. Es gibt kein „Wissenschaftsparadies“. 

 

de Haan: Ihre 2018 verstorbene Ehefrau Brigitte hat sich neben der Familie mit Themen aus dem Bereich „Kunst und Kultur“ befasst. War das für Sie eine wichtige Ergänzung zu Ihrem Beruf? 

 

Riecker: Meine Frau war eine sehr kreative und begabte Künstlerin. Sie töpferte und erstellte Kunstwerke aus Stoff, Holz und Metall. Ich habe nach meiner beruflichen Tätigkeit später selbst angefangen, Skulpturen aus Edelstahl mit dem Schweißgerät herzustellen, denn mit diesem Gerät habe ich schon als Junge hantiert. Die Ergebnisse können Sie noch heute in unserem Garten sehen. 

 

de Haan: Was sind die Höhepunkte Ihres Medizinerlebens? Welchen Rat können Sie heute jungen Kardiologinnen und Kardiologen geben? 

 

Riecker: Absoluter Höhepunkt war die Berufung 1974 als Lehrstuhlinhaber nach München, mit der einmaligen Chance, eine hochqualifizierte Klinik an der LMU aufzubauen. Die ganze Familie konnte in München leben und fühlte sich dort wohl. Dankbar bin ich auch meinen Förderern und Mentoren, angefangen mit meiner Medizin-Ausbildung in den USA bis hin zu meinem späteren Mentor Prof. Schwiegk.

 

Jungen, motivierten Kardiologinnen und Kardiologen rate ich, sich nicht zu früh zu spezialisieren. Für eine besonders gute klinische Tätigkeit ist eine breite „Grundausbildung“ unbedingt zu empfehlen, und zum Verständnis pathophysiologischer Zusammenhänge der Krankheitsbilder sind physiologische, biochemische und pathologische Grundkenntnisse besonders wichtig.

 

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