Mit Unterstützung eines Maschinenlernalgorithmus kann ein mobiles 6-Kanal-EKG die QTc-Zeit ohne Arzt recht gut ermitteln. Eine Killeranwendung für mehr Sicherheit in der Arzneimitteltherapie?
Mit Unterstützung eines Maschinenlernalgorithmus kann ein mobiles 6-Kanal-EKG die QTc-Zeit ohne Arzt recht gut ermitteln. Eine Killeranwendung für mehr Sicherheit in der Arzneimitteltherapie?
Von Philipp Grätzel
03.02.2021
Medikamente, die die QTc-Zeit verlängern und damit das Risiko eines plötzlichen Herztods erhöhen, sind nicht selten.
Empfehlungen für Grenzwerte gibt es, auch wenn die nicht ganz einheitlich sind. Meist wird ein Anstieg der QTc-Zeit um ≥ 50 ms oder auf ≥ 500 ms unter Therapie mit einem die QTc-Zeit verlängernden Medikament als kritisch angesehen. Und eine QTc-Zeit ohne Medikamente von ≥ 500 ms gilt als hoch verdächtig für ein erbliches Long-QT-Syndrom, eine Risikogruppe für den plötzlichen Herztod und für Torsades-de-Pointes-Tachykardien. Hier ist bei vielen Medikamenten große Vorsicht geboten. Die Prävalenz des Long-QT-Syndroms wird auf 1:2000 geschätzt, es ist also vergleichsweise häufig.
Die klinische Umsetzung dieser Erkenntnisse gelingt aber nur bedingt. Eine erblich verlängerte QTc-Zeit fällt nur auf, wenn irgendwann einmal ein EKG angefertigt und darauf geachtet wird. Und eine Messung der QTc-Zeit-Veränderung unter Medikation passiert längst nicht bei allen Medikamenten, bei denen das sinnvoll sein könnte – auch deswegen weil es in der Versorgung kaum praktikabel ist.
Hier setzen Kardiologen um Michael Ackerman und Informatiker um Attia Zachi von der Mayo Clinic in Rochester an. In der Fachzeitschrift Circulation berichten sie über die Entwicklung eines Maschinenlernalgorithmus, der aus einem mobilen, vom Patienten selbst genutzten EKG die QTc-Zeit so zuverlässig ermittelt, dass sie klinisch genutzt werden könnte. Die Mayo Clinic-Gruppe um Zachi ist bei der Algorithmus-Entwicklung für Routine-EKGs seit Jahren weltweit führend.
Für die Entwicklung und Validierung des Algorithmus wurden über 1,6 Millionen Routine-EKGs von über einer halben Million Patienten genutzt. Im ersten Schritt wurde ein neuronale Netzwerk auf Basis von einer Viertel Million Patienten und ihrer 12-Kanal-EKGs entwickelt, dann bei weiteren 180.000 Patienten mit 12-Kanal-EKGs validiert.
Um die 12-Kanal-EKGs ging es den Mayo-Experten aber gar nicht. Der entscheidende Schritt kam danach, die Validierung bei einem mobilen EKG. Mit Smartwatch-basierten 1-Kanal-EKGs geht das bisher nicht, dafür sind sie zu ungenau.
Die US-Amerikaner haben deswegen ein mobiles 6-Kanal-EKG genutzt, konkret das Kardia Mobile 6L von AliveCor. Es arbeitet mit einem mit einer Smartphone-App gekoppelten Elektrodenstreifen, der so groß ist wie eine in Längsrichtung halbierte Kreditkarte. Auf der Oberseite wird je ein Finger jeder Hand aufgelegt, die Rückseite liegt mit der dritten Elektrode zum Beispiel auf dem Knie. So können die Ableitungen I, II, III, aVL, aVR und aVF abgeleitet werden, wenn zwei Minuten lang gemessen wird – in sehr guter Qualität.
Die Validierung erfolgte als prospektive Studie, und sie bestand aus 686 Patienten mit genetisch bedingten Herzerkrankungen, darunter die Hälfte mit Long-QT-Syndrom. Angefertigt wurde einerseits ein normales 12-Kanal-EKG, andererseits ein mobiles 6-Kanal-EKG. Das 12-Kanal-EKG wurde im Hinblick auf die QTc-Zeit zum einen vom dem das EKG anfertigenden technischen Assistenten ausgewertet, zum anderen von einem in Sachen QTc-Messung erfahrenen Kardiologen und zum dritten von einem externen Dienstleister für klinische Studien mit spezieller Expertise in Sachen QTc-Messung. Berechnet wurde die QTc-Zeit sowohl über die Bazett-Formel (QTcB) als auch über die Fridericia-Formel (QTcF).
Im Endeffekt zeigte sich, dass der Algorithmus mit dem mobilen EKG sehr gut klarkam. Er fischte nicht alle, aber die große Mehrheit der Patienten mit Long-QT-Syndrom heraus.
Gemessen am Goldstandard „Bewertung der QTc-Zeit anhand eines 12-Kanal-EKGs durch einen Experten“ erreichte der Algorithmus auf Basis des mobilen 6-Kanal-EKGs eine Sensitivität von 80% und eine Spezifität von 94%. Die Area-under-the-Curve betrug 0,97. Zum Vergleich: Beim Brustkrebs-Screening mittels Mammographie und beim Darmkrebs-Screening mittels Test auf Blut im Stuhl liegt dieser Wert nur in der Größenordnung von 0,75 bis 0,80.
Insgesamt sind die Mayo-Kardiologen deswegen angetan von ihren Ergebnissen. Sie machten es absolut denkbar, das mobile, selbst abgeleitete EKG nicht nur als Screening-Tool für Long-QT-Syndrom, sondern auch als Kontrolle bei Ansetzen potenziell problematischer Medikamente einzusetzen. Dazu muss man wissen, dass die meisten der bisher von der Arbeitsgruppe entwickelten Algorithmen in den Monaten nach Publikation noch etwas besser wurden. Die Spezifität, die mit 94% noch nicht ganz optimal ist, könnte also im Verlauf noch steigen.
Giudicessi JR et al. Artificial Intelligence-Enabled Assessment of the Heart Rate Corrected QT Interval Using a Mobile Electrocardiogram Device. Circulation 2021; 1.2.2021; DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.120.050231