Neue ESC-Leitlinie Vorhofflimmern

 

ESC-Kongress 2024 | ESC-Guidelines: Nach 4 Jahren wurde die europäische Leitlinien zum Management des Vorhofflimmerns (VHF) in Zusammenarbeit mit der EACTS (European Association for Cardio-Thoracic Surgery) aktualisiert. Isabelle van Gelder (Groningen, Niederlande) und Dipak Kotecha (Birmingham, UK) stellten die Neuerungen auf dem ESC-Kongress in London vor.1 Prof. Christian Meyer kommentiert.

Von:

Dr. Heidi Schörken

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

Prof. Christian Meyer

Rubrikleiter Rhythmologie

 

16.09.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Iakov Kalinin / Shutterstock.com

 

VHF ist weltweit die häufigste Herzrhythmusstörung mit einer geschätzten globalen Prävalenz von 60 Millionen Menschen im Jahr 2019. Aufgrund der alternden Bevölkerung wird eine Verdopplung der VHF-Prävalenz bis zum Jahr 2060 angenommen. VHF ist mit einer hohen Mortalität und enormen Gesundheitskosten verbunden. Neben den bekannten Risiken, wie Schlaganfall und Herzinsuffizienz, ist VHF auch mit subklinischen zerebralen Schädigungen assoziiert, die zu kognitiven Beeinträchtigungen und vaskulärer Demenz führen können.

Der neue patientenzentrierte Therapie-Ansatz: CARE

In der neuen ESC-Leitlinie VHF wurde als wesentliche Innovation der neue patientenzentrierte Ansatz CARE implementiert. Um die Patientenaufklärung und die Arzt-Patienten-Kommunikation zu verbessern, wurde zeitgleich mit der ESC-Leitlinie auch eine Patienten-Leitlinie VHF publiziert.2,3

Das neue patientenzentrierte und ganzheitliche Konzept CARE besteht aus 4 Komponenten und wurde entwickelt, um die optimale Versorgung von Personen mit VHF zu gewährleisten, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Sozioökonomie und anderen Faktoren.

Nachfolgend werden die 4 Komponenten detailliert vorgestellt:

 

  • C: Comorbidities and risk factor management
  • A: Avoid stroke and thromboembolism
  • R: Reduce symptoms by rate and rhythm control
  • E: Evaluation and dynamic reassessment

C (Comorbidities): Komorbidität und Risikofaktoren

 

Die Identifikation und das Management von Komorbiditäten und Risikofaktoren ist die initiale und zentrale Komponente des neuen Therapiekonzepts. Zu den wichtigsten VHF-Risikofaktoren gehören Hypertonie, Herzinsuffizienz, Übergewicht/Adipositas, Diabetes mellitus, Bewegungsmangel und hoher Alkoholkonsum. Das Management der Risikofaktoren umfasst folgende 4 Schritte:
1.    Identifizieren von Risikofaktoren
2.    Informieren von Patientinnen und Patienten (ohne Überladung)
3.    Festlegen von erreichbaren Zielen
4.    Gemeinsames Finden von Entscheidungen (Shared Decision-Making) mit dem Ziel, Verhaltensänderungen umzusetzen

A (Avoid): Vermeidung von Schlaganfällen und Thromboembolien

 

Zur Prävention von Schlaganfällen und Thromboembolien wird ein breiterer Einsatz der Antikoagulation unter Verwendung von lokalen validierten Risikoscores oder des CHA2DS2-VA-Scores als Entscheidungshilfe unabhängig vom Geschlecht empfohlen. Dagegen sollen Blutungsrisikoscores nicht als Entscheidungshilfe für die Einleitung oder das Absetzen der Antikoagulation dienen. Die Antikoagulation wird bei einem CHA2DS2-VA-Score 2 empfohlen, und kann bei einem CHA2DS2-VA-Score 1 in Erwägung gezogen werden. DOAC (direkte orale Antikoagulanzien) sind die Antikoagulantien der ersten Wahl (mit Ausnahme von mechanischen Klappen oder Mitralstenosen). Das Blutungsrisiko wird erst anschließend bewertet, wobei modifizierbare Risikofaktoren reduziert werden sollen. Die Antikoagulation sollte den Betroffenen aber keinesfalls aufgrund des Blutungsrisikos vorenthalten werden. Ausdrücklich nicht empfohlen wird die Kombination aus antithrombotischer Therapie und oraler Antikoagulation, die mit einem erhöhten Blutungsrisiko einhergeht.

R (Reduce): Reduktion von Symptomen durch Frequenz- und Rhythmuskontrolle

 

Die Kontrolle von Herzfrequenz und Herzrhythmus ist essenziell für die Verbesserung der Lebensqualität. Medikamente zur Frequenzkontrolle sollen in der Akutphase initial eingesetzt werden, entweder begleitend zur Rhythmuskontrolle oder als Monotherapie. Die Rhythmuskontrolle sollte bei allen geeigneten Personen in Betracht gezogen werden. Als Optionen stehen zur Verfügung: Medikamente, Kardioversion, unterschiedliche Ablationstechniken sowie Pace&Ablate. Die Katheterablation wird als Firstline-Therapieoption in folgenden Settings empfohlen: paroxysmales VHF, Therapieversagen von Antiarrhythmika und Tachymyopathie.
Generell geht die Sicherheit vor: Eine Kardioversion wird nicht empfohlen, wenn das VHF länger als 24 Stunden andauert, es sei denn, die Person hat bereits eine orale Antikoagulation über mindestens 3 Wochen erhalten, oder es wurde eine transösophageale Echokardiographie zum Ausschluss von kardialen Thromben durchgeführt.
Grundsätzlich soll die Therapiestrategie immer in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess zusammen mit den Patientinnen und Patienten festgelegt werden (Shared Decision Making).

E (Evaluation): Bewertung und dynamische Neubewertung

 

Im Rahmen des VHF-Langzeit-Managements sind regelmäßige Bewertungen des Therapieerfolgs und des Auftretens neuer modifizierbarer Risikofaktoren notwendig. Die regelmäßigen Untersuchungen sollten 6 Monate nach der ersten Vorstellung und anschließend mindestens einmal jährlich erfolgen.

Fazit

 

Die neuen ESC-Leitlinien VHF sind prägnanter, einfacher und kürzer gegenüber der vorhergehenden Version und wurden mit dem Ziel konzipiert, die Implementation der Empfehlungen in den klinischen Alltag zu erleichtern. Dass es eine massive Lücke bei der Umsetzung der Leitlinien-Empfehlungen im Real-World-Setting gibt, hatte zuletzt die Studie STEEER-AF gezeigt, die ebenfalls auf dem diesjährigen ESC-Kongress vorgestellt wurde. Mit dem vereinfachten Ansatz hoffen die Autoren, die VHF-Outcomes in der klinischen Praxis zu verbessern, was mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung immer wichtiger wird.

"And so if we can improve implementation, which we're trying to do with these guidelines, then that's the best step forward really!"

Dipak Kotecha (University of Birminham, England)

Expertenkommentar von Prof. Christian Meyer

 

Evolution der Acronyme und des Handelns: Aus ABC wird CARE und aus CHA2DS2-VASc wird CHA2DS2-VA!

 

Die kontinuierliche Weiterentwicklung der VHF-Leitlinien, wie sie nun nach 4 Jahren wieder anstand, stellt 2 Erkenntnisse in besonderer Weise in den Vordergrund: VHF ist (1.) eine „Pandemie“ und (2.) eine häufig chronisch voranschreitende Erkrankung, bei der Betroffene kontinuierlich professionelle Unterstützung brauchen. Das neue Credo AF-„CARE“ – als vermeintlich evolutionärer Schritt nach dem vormaligen ABC-Pathway – betont die Bedeutung der Vermeidung und Behandlung von Komorbiditäten in besonderer Weise, in dem diese an die „erste Stelle“ rücken. Zum anderen betont die Ergänzung des „E“ die intersektorale und interdisziplinäre Langzeit-Betreuung Bertoffener unter Berücksichtigung der Dynamik des Risikos, welches über die Zeit besteht (Änderung der Nierenfunktion + ggf. DOAC-Dosisanpassung uvm). Kreativ und alltagsrelevant gelöst wurde die Tatsache, dass der Risikofaktor „Geschlecht“ in den vergangenen Jahren zurückgestuft wurde: aus dem CHA2DS2-VASc- wird der CHA2DS2-VA-Score!


Darüber hinaus zeichnet die neue Leitlinie aus, dass sie noch stärker versucht, auf evidenzbasierte Empfehlungen, statt auf „alltagsbewährte, pragmatische Ansätze“ abzuzielen. So sind für „wearables“ etc. die 30 Sekunden zur Diagnose von VHF deutlich in den Hintergrund gerückt, was gleichzeitig die Bedeutung des Arztes für die korrekte Interpretation kurzer EKG-Unregelmäßigkeiten unterstreicht. Darüber hinaus rückt die chirurgische Ablation überraschend stark in den Vordergrund und sollte bei persistierendem VHF erwogen werden, was sicher bei geplanten chirurgischen Eingriffen sinnvoll ist. Wie sich diese Aspekte in dem neu betonten Prozess des „shared-decision making“ (zuvor „patient choice“) niederschlagen werden, wird der medizinische Alltag zeigen.

Prof. Dr. med. Christian Meyer

Prof. Christian Meyer leitet seit 2020 die Klinik für Kardiologe, Elektrophysiologie, Angiologie und Intensivmedizin am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist die interventionelle Kardiologie mit dem Fokus auf die Prävention und Behandlung von komplexen Herzrhythmusstörungen. Innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ist er Nukleus-Mitglied der Arbeitsgruppe AG 1 Elektrophysiologie und Rhythmologie (AEGP). Zudem ist er Mitglied und Fellow der European Society of Cardiology, sowie der European Heart Rhythm Association und dessen Scientific Documents Committee. Die Deutsche Herzstiftung unterstützt er im Rahmen seiner Tätigkeit im wissenschaftlichen Beirat. 
privat

Referenzen

 

  1. Van Gelder IC & Kotecha D. ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation, 2024 ESC Guidelines overview, ESC2024, London
  2. Van Gelder IC et al. 2024 ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. 2024 Aug 30:ehae176. doi: 10.1093/eurheartj/ehae176. Epub ahead of print. PMID: 39210723.
  3. https://www.escardio.org/Guidelines/guidelines-for-patients

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