Wieder ein herber Rückschlag für die Primärprävention mit Acetylsalicylsäure (ASS): Bei gesunden älteren Menschen brachte der Plättchenhemmer in der ASPREE-Studie nicht nur keinen Nutzen - das Sterberisiko stieg im Vergleich zu Placebo sogar an.
Wieder ein herber Rückschlag für die Primärprävention mit Acetylsalicylsäure (ASS): Bei gesunden älteren Menschen brachte der Plättchenhemmer in der ASPREE-Studie nicht nur keinen Nutzen - das Sterberisiko stieg im Vergleich zu Placebo sogar an.
Von: Veronika Schlimpert
17.09.2018
Damit hatten wohl die wenigsten Experten gerechnet: In der randomisierten placebokontrollierten ASPREE-Studie, an der über 19.000 Menschen im Alter über 70 Jahre teilgenommen hatten, ging eine primärpräventive Gabe von niedrigdosierter ASS mit einem erhöhten Sterberisiko einher. Die Sterblichkeit stieg im Vergleich zu Placebo nach 4,7-jähriger Behandlungszeit relativ um 14% an (12,7 vs. 11,1 Ereignisse pro 1.000 Personenjahre; 95%-KI: 1,01-1,29). ASS verursachte damit 1,6 zusätzliche Todesfälle pro 1.000 Personenjahre.
Zu einem endgültigen Urteil können sich die Studienautoren trotz des negativen Studienausgangs nicht durchringen: Das Ergebnis stehe im Gegensatz zu anderen Studien mit ASS in der Primärprävention, weshalb man es mit Vorsicht interpretieren solle, schreiben Studienautor Dr. John McNeil und seine Kollegen in der Publikation im „New England Journal of Medicine“.
Eine weitere Überraschung: Der Mortalitätsanstieg ging vor allem auf das Konto von Todesfällen durch Krebserkrankungen und weniger auf eine Zunahme von tödlichen Blutungskomplikationen. In einer explorativen Analyse war das Krebsrisiko der mit ASS behandelten Patienten im Vergleich zu Placebo um 31% erhöht. Das Risiko stieg ab dem dritten Behandlungsjahr stetig an (3,1% vs. 2,3%; 95%-KI: 1,10-1,56).
Frühere Beobachtungsstudien hatten genau das Gegenteil gezeigt, nämlich dass der Plättchenhemmer vor Darmkrebs schützt. In ASPREE war das Risiko für kolorektale Karzinome unter ASS nun um 77% erhöht. Mit 35 Fällen in der ASS-Gruppe vs. 20 Fällen in der Placebo-Gruppe war die Ereignisrate aber zu gering, um daraus Schlüsse ziehen zu können.
Für ASS in der Primärprävention ist dieser negative Studienausgang ein weiterer Rückschlag, der wohl selbst ASS-Befürworter ins Grübeln bringen dürfte. Denn erst vor wenigen Wochen wurden mit ARRIVE und ASCEND zwei Studien auf dem ESC-Kongress in München vorgestellt, in denen ASS in der Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen – wenn überhaupt – nur eine geringfügige Wirkung entfalten konnte, bei einer gleichzeitig deutlichen Zunahme von Blutungskomplikationen.
Nach den Ergebnissen der ASPREE-Studie gehören ältere Menschen wohl eher nicht zu dem Kandidatenkreis, für die eine primärpräventive ASS-Gabe zu überlegen ist. Nach einer positiven Wirkung des Plättchenhemmers sucht man in dieser Studie nämlich nahezu vergeblich.
Der kombinierte primäre Endpunkt aus Tod, Demenz, und dauerhafte körperliche Behinderung war nach dem knapp fünfjährigen Follow-up in beiden Gruppen fast genauso häufig aufgetreten (21,5 vs. 21,2 Ereignisse pro 1.000 Personenjahre; Hazard Ratio: 1,01; 95%-KI: 0,92–1,11). Kardiovaskuläre Erkrankungen sind durch die ASS-Therapie ebenfalls nicht verhindert worden (10,7 vs. 11,3 Ereignisse pro 1.000 Personenjahre; HR: 0,95; 95%-KI: 0,83–1,08). Es ließ sich auch keine Subgruppe ausmachen, die von der Therapie profitieren könnte.
Einzig bei der kardiovaskulären Sterblichkeit lässt sich ein marginaler Trend zugunsten von ASS erkennen (HR: 0,82; 95%-KI: 0,62–1,08).Dagegen war das Risiko für schwere Blutungen unter ASS erwartungsgemäß signifikant erhöht (3,8% vs. 2,8%; Hazard Ratio: 1,38; 95%-KI: 1,18–1,62; p< 0,001).
Insgesamt sind für die ASPREE-Studie 19.114 Personen in einem Alter von 70 Jahren oder älter (oder ≥ 65 Jahre, wenn afroamerikanischer oder hispanischer Abstammung) aus den USA oder Australien rekrutiert worden. Für im Mittel 4,7 Jahre erhielten sie entweder 100 mg ASS oder Placebo. 62,1% bzw. 64,1% der Studienteilnehmer nahmen die Medikation bis zum Studienende ein.
Für den Studieneinschluss durften die Probanden keine kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Vorerkrankungen sowie kognitive Einschränkungen aufweisen, ihre geschätzte Lebenswartung musste über fünf Jahre betragen.
Somit handelte es sich um einen für dieses Alter ziemlich gesunden Personenkreis, was die vergleichsweise sehr niedrigen Ereignisraten zum Ausdruck bringen. So war die Sterblichkeit in ASPREE mit 11,1 Todesfällen pro 1.000 Personenjahre deutlich niedriger als in einer nach Alter, Geschlecht, Rasse und Herkunft gematchten Vergleichsgruppe mit 34,9 Todesfällen pro 1.000 Personenjahre.
Obwohl sie zu einer zurückhaltenden Interpretation mahnen, scheinen die Studienautoren doch überzeugt zu sein, dass ASS bei dieser Patientenpopulation tatsächlich nicht nur keine positiven Effekte hatte, sondern zu einer erhöhten Sterblichkeit beigetragen hat: „Das 95%-Konfidenzintervall für den Mortalitätsanstieg unter ASS betrug 1,01 bis 1,29.“ Auch wenn zahlreiche sekundäre Endpunkte in der Studie analysiert worden seien, ändert das nichts an der Tatsache, dass ASS das Sterberisiko zumindest um 1 bis zu 29% erhöht habe, argumentieren sie.
Eine konkrete mechanistische Erklärung wird in der Publikation nicht angeführt. Man müsse sich vielleicht die Frage stellen, ob die für die Krebsentstehung verantwortlichen molekularen Mechanismen, die Neigung zur Metastasierung und das Therapieansprechen vom Alter abhängen, erklären sich die australischen Wissenschaftler das zu früheren Studien diskrepante Ergebnis von ASPREE.
J McNeil, W Woods, N Reid et al. Effect on Aspirin on Disability-free Survival in Healthy Elderl. New England Journal of Medicine 2018; DOI: 10.1056/NJEMoa1800722
J McNeil, W Woods, L Wolfe et al. Effect on Aspirin on All-Cause Mortality in the Healthy Elderly. New England Journal of Medicine 2018; DOI: 10.1056/NJEMoa1803955
J McNeil, W Woods, T Donnan et al. Effect on Aspirin on Cardiovascular Events and Bleeding in Healthy Elderly. New England Journal of Medicine 2018; DOI: 10.1056/NJEMoa1805819