Inflammation zählt: IL-6 als Treiber des residuellen Risikos

 

ESC Congress 2025 | Auf dem ESC 2025 in Madrid stellte Dr. Berkan Kurt (Universitätsklinikum Aachen) Daten aus einer populationsbasierten Analyse vor: Bei 49.461 Personen ohne bekannte ASCVD sagte Interleukin-6 über 14,4 Jahre sowohl MACE als auch kardiovaskulären Tod unabhängig von klassischen Risikofaktoren voraus.1 IL-6 gehörte in Variablenanalysen zu den stärksten Prädiktoren und unterstreicht die biologische Relevanz des IL-6-Pathways für Prävention und Therapie.

 

Dr. Berkan Kurt und Prof. Florian Kahles berichten zu den Studienergebnissen.

Von:

Dr. Berkan Kurt

Universitätsklinikum RWTH Aachen

 

Prof. Florian Kahles 

Universitätsklinikum RWTH Aachen

 

09.09.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Songquan Deng / Shutterstock.com

Das residuelle, inflammatorische Risiko, trägt wesentlich zur Entstehung und Progression atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD) bei. Systemische Inflammation verstärkt Atherothrombose und akute Ereignisse. Biologisch steht in pro-inflammatorischen Prozessen der NLRP3-Signalweg mit den Zytokinen IL-1 und IL-6 im Zentrum. Durch IL-6 wird die hepatische Akutphase-Reaktion angestoßen, die zur systemischen Freisetzung des C-reaktiven Proteins (CRP) in der Leber führt. Während das hochsensitive CRP (hsCRP) ein etablierter Marker für residuale Inflammation ist, sprechen genetische und experimentelle Daten für eine kausale Rolle des IL-6-Pfades in der Atherothrombose. Große populationsbasierte Langzeitdaten, die den Stellenwert von IL-6 im Vergleich zu traditionellen Risikofaktoren präzise quantifizieren, waren bislang begrenzt.

 

Ziel der Studie war es zu untersuchen, ob IL-6 zukünftige kardiovaskuläre Ereignisse bei Personen ohne bekannte ASCVD vorhersagt, unabhängig von klassischen Risikofaktoren, und wie sich IL-6 im Vergleich zu etablierten Risikomarkern einordnet. Untersucht wurde die bislang größte Analyse zu IL-6 aus einer einzelnen Kohorte in der UK Biobank mit 49.461 Teilnehmenden und mehr als 14 Jahren Follow-up.

Studiendesign und Methodik

 

Analysiert wurde die UK Biobank mit Personen ≥40 Jahren ohne ASCVD und verfügbaren IL-6-Werten. Primärer Endpunkt waren MACE und der kardiovaskulärer Tod. IL-6 wurde mittels Proteomics-basierter Plattform gemessen. Statistisch kamen Kaplan-Meier und Cox-Modelle mit Adjustierung für Alter, Geschlecht, BMI, Typ-2-Diabetes, Rauchen, systolischen Blutdruck, LDL-C und Kreatinin zum Einsatz. 

Ergebnisse

 

Die 49.461 Teilnehmenden waren im Median 58 Jahre alt, 54,9 Prozent waren Frauen, der BMI lag im Median bei 26,7 kg/m² und das LDL-C bei 136 mg/dl. 

Höhere IL-6-Spiegel waren mit einer Zunahme von MACE-Ereignissen und kardiovaskulärem Tod assoziiert. Univariat sagte IL-6 MACE mit einer Hazard Ratio (HR) von 2,17 (95%-Konfidenzintervall (KI) [1,95; 2,35]; p<0,001) und kardiovaskulären Tod mit 3,14 (95%KI [2,65; 3,72]; p<0,001) voraus. Nach Adjustierung blieb die Assoziation signifikant mit einer HR 1,63 (95%KI [1,46; 1,82]; p<0,001) für MACE und 1,95 (95%KI [1,62; 2,35]; p<0,001) für kardiovaskulären Tod. 

Quartilsanalysen ergaben für Q4 gegenüber Q1 ein über dreifach erhöhtes MACE-Risiko (HR 3,18; adjustiert 2,01; 95%KI [1,74; 2,31]; p<0,001) und ein über fünffach erhöhtes Risiko für kardiovaskulären Tod (HR 5,29; adjustiert 2,59; 95%KI [2,02; 3,31]; p<0.001). 

In Analysen zur Bedeutung der einzelnen Parameter des multivariablen Modells zur Gesamtvorhersage der Endpunkte, zählt IL-6 in der Vorhersage von MACE und kardiovaskulärem Tod zu den stärksten Einzelprädiktoren. IL-6 lag dabei vor mehreren traditionellen Risikofaktoren einschließlich systolischem Blutdruck, LDL-Cholesterin, Diabetes, BMI, Kreatinin und Geschlecht.

Limitationen

 

Ein routinemäßiges IL-6-Screening sollte hsCRP auf Grundlage dieser Daten derzeit nicht ersetzen. Die vorliegenden Ergebnisse beruhen auf einer qualitativen, proteomics-basierten IL-6-Messung, standardisierte quantitative IL-6-Assays sind klinisch nicht breit verfügbar und ein Test für freies IL-6 fehlt. Die Daten stützen jedoch die IL-6-Achse als therapeutisches Ziel und die endgültige Einordnung hängt von laufenden kardiovaskulären Endpunktstudien ab.
Die vorliegende Kohorte aus der UK Biobank stellt eine Primärpräventionspopulation ohne weitere Ausschlusskriterien außer etablierter ASCVD dar. Diese Breite erhöht die biologische Variabilität und trotz umfassender Adjustierung können externe Einflussfaktoren nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Fazit

 

IL-6 ist in einer großen, populationsbasierten Kohorte ohne bekannte ASCVD ein starker Prädiktor für MACE und kardiovaskulären Tod über mehr als 14 Jahre. Unabhängig von etablierten Risikofaktoren wie Blutdruck und LDL-C zählt IL-6 in der Vorhersagekraft zu den führenden Risikoprädiktoren. Diese Daten stützen den pathophysiologischen Stellenwert der IL-6-Achse und liefern Kontext für laufende Studien zur IL-6-Inhibition bei ASCVD.

Kommentar

 

Die Ergebnisse adressieren eine zentrale Lücke in der Primärprävention. Traditionelle Risikofaktoren erklären das Ereignisrisiko nicht vollständig. Beobachtungen aus großen Studien zeigen, dass Entzündungsmarker wie hsCRP bei Statin-behandelten und auch bei gering oder nicht behandelten Patientengruppen Ereignisse teils besser prognostizieren als LDL-C. IL-6 agiert in den intrazellulären Signalwegen „upstream“ von hsCRP und besitzt kausale Relevanz für atherothrombotische Mechanismen, was durch Mendelsche Randomisierung und experimentelle Evidenz gestützt wird. 
Die vorliegenden Daten ergänzen diese Evidenz um robuste populationsbasierte Langzeitassoziationen. Randomisierte große klinische Studien prüfen aktuell, ob eine gezielte IL-6-Inhibition mittels spezifischer Antikörper kardiovaskuläre Ereignisse verhindern kann.

Fazit für die Praxis

 

  • IL-6 ist ein kausaler, starker und unabhängiger Prädiktor für kardiovaskuläre Ereignisse und Mortalität bei Menschen der Allgemeinbevölkerung ohne etablierte ASCVD. Standardisierte IL-6 Assays sind aktuell noch nicht im klinischen Alltag verfügbar. 
  • Für die Praxis bleibt hsCRP der etablierte Marker, um residuelles inflammatorisches Risiko zu erfassen. Dies wird zudem durch die neuste Aktualisierung der Lipidleitlinien der ESC gestützt.
  • Bei Patientinnen und Patienten ohne bekannte ASCVD, sollte neben den klassischen Risikofaktoren wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, Dyslipidämie, Rauchen oder chronischer Nierenerkrankung die Inflammation als eigenständiger Risikotreiber miterfasst werden.
  • Für die klinische Routine gilt bis zum Vorliegen weiterer Studienergebnisse: entzündliche Komorbiditäten aktiv behandeln, Lebensstilinterventionen priorisieren, LDL-C und Blutdruck zielgerecht senken und das Konzept des residualen Entzündungsrisikos in die Risikoaufklärung integrieren.

Zum Autor

Dr. Berkan Kurt

Dr. Berkan Kurt ist Clinician Scientist an der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin des Universitätsklinikums RWTH Aachen.  Wissenschaftlich arbeitet er in der Arbeitsgruppe von Prof. Florian Kahles im Feld der klinischen Immunokardiologie mit Fokus auf Inflammation als Treiber kardiovaskulärer Erkrankungen, Biomarker-basierter Risikostratifizierung und translationaler Ansätze in Prävention und Therapie atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankungen.

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Zur Person

Prof. Florian Kahles

Prof. Kahles ist Oberarzt der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin und W2-Professor für Experimentelle Kardiologie am Universitätsklinikum RWTH Aachen. Er leitet eine DFG-geförderte Emmy-Noether-Forschungsgruppe mit dem Fokus Inflammation bei kardiometabolischen Erkrankungen und ist stellvertretender Sprecher der DGK-Arbeitsgruppe Herz und Diabetes (AG 23). 

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Referenzen

 

  1. Kurt B. Interleukin-6 and cardiovascular prognosis in apparently healthy individuals. Late-Breaking Clinical Trials: inflammation and immune biomarkers in cardiovascular risk prediction, 29.08.2025, Madrid, ESC 2025
  2. The interleukin-6 receptor as a target for prevention of coronary heart disease: a mendelian randomisation analysis. The Lancet. 2012;379(9822):1214-24.  
  3. Interleukin-6 receptor pathways in coronary heart disease: a collaborative metaanalysis of 82 studies. The Lancet. 2012;379(9822):1205-13.
  4. Ridker PM. From C-Reactive Protein to Interleukin-6 to Interleukin-1. Circulation Research. 2016;118(1):145-56.
  5. Kaptoge S, Seshasai SRK, Gao P, Freitag DF, Butterworth AS, Borglykke A, et al. Inflammatory cytokines and risk of coronary heart disease: new prospective study and updated meta-analysis. European Heart Journal. 2014;35(9):578-89.
  6. Khan MS, Talha KM, Maqsood MH, Rymer JA, Borlaug BA, Docherty KF, et al. Interleukin-6 and Cardiovascular Events in Healthy Adults: MESA. JACC Adv. 2024;3(8):101063.
  7. Ridker PM, Rifai N, Stampfer MJ, Hennekens CH. Plasma Concentration of  Interleukin-6 and the Risk of Future Myocardial Infarction Among Apparently Healthy Men. Circulation. 2000;101(15):1767-72.
  8. Ridker PM, Libby P, MacFadyen JG, Thuren T, Ballantyne C, Fonseca F, et al. Modulation of the interleukin-6 signalling pathway and incidence rates of atherosclerotic events and all-cause mortality: analyses from the Canakinumab Anti-Inflammatory Thrombosis Outcomes Study (CANTOS). Eur Heart J. 2018;39(38):3499-507.
  9. Wallentin L, Eriksson N, Olszowka M, Grammer TB, Hagström E, Held C, et al. Plasma proteins associated with cardiovascular death in patients with chronic coronary heart disease: A retrospective study. PLOS Medicine. 2021;18(1):e1003513.
  10. Libby P. Targeting Inflammatory Pathways in Cardiovascular Disease: The Inflammasome, Interleukin-1, Interleukin-6 and Beyond. Cells. 2021;10(4):951.

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