Neue ESC-Leitlinie Hypertonie: Strenger und pragmatisch

 

ESC-Kongress 2024 | ESC-Guidelines: In der neuen europäischen Leitlinie Hypertonie wurde erstmals ein niedrigerer Zielwert von 120-129 mmHg und die Kategorie erhöhter Blutdruck eingeführt. Die beiden Vorsitzenden der Leitlinien-Taskforce Bill McEvoy (Galway, Irland) und Rhian Touyz (Montreal, Kanada) stellten die Neuerungen auf dem ESC-Kongress in London vor.


Prof. Marcel Halbach kommentiert.

Von:

Dr. Heidi Schörken

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

Prof. Marcel Halbach

Herzzentrum der Universität zu Köln

 

15.10.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Hodoimg / Shutterstock.com

Risiko-Abschätzung bei erhöhtem Blutdruck

 

Die neu eingeführte Kategorie erhöhter Blutdruck ist definiert als Blutdruck von 120-139/70-89 mmHg. Durch diese Neuerung sollen mehr Menschen mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall erkannt werden. Die Definition von Hypertonie bleibt dagegen weiterhin bestehen ab einem Blutdruck ≥ 140/90 mmHg.


Bei Hypertonie soll die medikamentöse Therapie sofort eingeleitet werden, wohingegen beim erhöhten Blutdruck eine Risiko-Abschätzung in 4 Schritten für die Therapieentscheidung empfohlen wird:

 

  • Schritt 1: Liegen Risiko-erhöhende Krankheiten vor?
    Bei Krankheiten mit hohem kardiovaskulärem Risiko, wie moderate bis schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus bei über 60-jährigen bzw. mit Endorganschäden oder familiäre Hypercholesterinämie, sollen zunächst nicht-medikamentöse Maßnahmen über 3 Monate erfolgen. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, so wird bei einem Blutdruck >130/80 mmHg die Einleitung einer Pharmakotherapie empfohlen.
  • Schritt 2: Wie hoch ist das 10-Jahresrisiko?
    Liegen keine Risiko-erhöhenden Krankheiten vor, so wird das 10-Jahresrisiko abgeschätzt mit Hilfe der Risikovorhersagemodelle SCORE2 (Alter 40-69 Jahre) oder SCORE-OP (Alter ≥ 70 Jahre). Bei einem geringen Risiko < 5 % werden nicht-medikamentöse Maßnahmen empfohlen, während bei einem Risiko ≥ 10 % eine Pharmakotherapie eingeleitet werden soll. Bei einem Risiko zwischen 5-10 % sind weitere modifizierende Risikofaktoren zu berücksichtigen.
  • Schritt 3: Liegen modifizierende Risikofaktoren vor?
    Zu den modifizierenden geschlechtsunabhängigen Risikofaktoren gehören z.B. Hochrisiko-Ethnien, Autoimmunerkrankungen oder HIV. Darüber hinaus gibt es einige Risikofaktoren bei Frauen (z.B. wiederholte Frühgeburten, vorherige Schwangerschaftshypertonie oder -Diabetes), die für eine medikamentöse Therapie bei Personen mit einem mittleren Risiko zwischen 5-10 % sprechen. 
  • Schritt 4: Sind weitere Untersuchungen notwendig?
    Bei Unklarheit oder in speziellen Fällen kann es sinnvoll sein, weitere Untersuchungen und Scores in die Therapieentscheidung miteinzubeziehen, wie u.a. der koronare Verkalkungsgrad (CAC-Score) oder Messungen der arteriellen Gefäßsteifigkeit.m mittleren Risiko zwischen 5-10 % sprechen.

Neuer Zielblutdruck 120-129 mmHg

 

Der neue Zielwert von 120-129 mmHg für den systolischen Blutdruck soll bei (fast) allen Personen innerhalb von 3 Monaten mit nicht-medikamentösen oder medikamentösen Maßnahmen erreicht werden. Kann der Zielwert nicht erreicht werden, gilt das pragmatische ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable): Der Blutdruck soll so niedrig wie vernünftig erreichbar eingestellt werden.
Die Pharmakotherapie wird mit einer niedrig-dosierten Zweier-Kombination begonnen (ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker und/oder Calciumkanalblocker und/oder Diuretikum). Zur Intensivierung wird die Therapie mit einer niedrig-dosierten Triple-Kombination fortgesetzt, die bei Bedarf aufdosiert werden kann. Betablocker können zu jedem Zeitpunkt ergänzt werden, falls eine entsprechende Indikation vorliegt, wie Angina pectoris, Herzinfarkt, systolische Herzinsuffizienz oder Kontrolle der Herzfrequenz.
Bei gebrechlichen oder älteren Personen (≥ 85 Jahre), orthostatischer Hypotonie oder Lebenserwartung < 3 Jahren wird eine initiale Monotherapie empfohlen sowie ein großzügigerer Zielblutdruck von ≤ 140/90 mmHg.  

Resistente Hypertonie: MRA, Betablocker und renale Denervierung

 

Falls eine resistente Hypertonie vorliegt, d.h. der Zielblutdruck kann trotz aufdosierter Triple-Therapie nach 3 Monaten nicht erreicht werden, sollen die Mineralokortikoid-Rezeptorantagonisten (MRA) Spironolacton als 1. Wahl oder Eplerenon als 2. Wahl in Betracht gezogen werden. Bei unzureichender Wirksamkeit oder mangelnder Verträglichkeit der MRA kommen Betablocker in Frage, falls diese nicht ohnehin bereits indiziert sind.


Neu ist die Empfehlung der renalen Denervierung bei resistenter Hypertonie, die allerdings nur in erfahrenen Zentren mit hohen Fallzahlen durchgeführt werden soll. Die renale Denervierung wird bei Personen mit resistenter Hypertonie empfohlen, deren Blutdruck trotz Triple-Kombination unkontrolliert ist und die sich nach gemeinsamer Nutzen-Risiko-Diskussion und multidisziplinären Bewertung für eine renale Denervierung aussprechen.

Konkrete Empfehlungen zum Lebensstil

 

Die neue ESC-Leitlinie unterstreicht den Stellenwert von Lebensstiländerungen und gibt dazu mehrere konkrete Empfehlungen, wie mindestens 150 Minuten Sport pro Woche, Umstellung auf mediterrane Ernährung oder DASH-Diät sowie das Erreichen eines gesunden und stabilen BMI von 20-25 kg/m2. Die Aufnahme von Natrium soll auf 2 g täglich begrenzt werden. Neu ist die Empfehlung für Personen ohne CKD, die tägliche Kaliumzufuhr um 0,5-1,0 g zu erhöhen, entweder durch Substitution von Kochsalz gegen kaliumangereichertes Salz (75 % Natriumchlorid und 25 % Kaliumchlorid) oder durch eine Obst- und Gemüse-reiche Kost. Weiterhin soll die Menge an Alkohol auf maximal 100 g/Woche beschränkt und auf Rauchen gänzlich verzichtet werden.

Fazit: Strenger und pragmatisch

 

Der strengere Zielblutdruck und die neue Kategorie erhöhter Blutdruck basieren auf aktuellen Studiendaten, die zeigten, dass eine intensivere Blutdrucksenkung kardiovaskuläre Outcomes deutlich reduzieren kann. Die neue Vorgabe liegt unter dem Zielblutdruck der NVL Hypertonie von 2023. Pragmatisch sind die Empfehlungen eines großzügigeren Zielblutdrucks bei Älteren oder Gebrechlichen sowie das ALARA-Prinzip, falls der Zielblutdruck auf vernünftigem Wege nicht zu erreichen ist. Neu ist auch, dass die renale Denervierung bei resistenter Hypertonie in Erwägung gezogen werden kann. Schließlich werden Lebensstiländerungen durch konkrete Hinweise wesentlich stärker betont.

Expertenkommentar von Prof. Marcel Halbach

 

Die Ende August veröffentlichten Leitlinien zur arteriellen Hypertonie wurden erstmals von der ESC ohne Beteiligung der European Society of Hypertension (ESH) zusammengestellt, letztere hatte ein Jahr zuvor eigene Leitlinien veröffentlicht. Damit existieren mittlerweile zusammen mit der 2023 erstmals erstellten nationalen Versorgungsleitlinie 3 Leitlinien, die nicht in allen Empfehlungen identisch sind.


Ein zentraler Unterschied betrifft den Zielblutdruck, der mit <130/80 mmHg gemäß ESC für den Großteil der Patientinnen und Patienten ambitionierter ist als in den konkurrierenden Leitlinien - dort wird dieses Ziel zwar auch vor allem für Jüngere empfohlen, für Ältere werden aber höhere Blutdruckziele verfolgt. In Anbetracht mehrerer randomisierter Studien, die auch ältere Patientinnen und Patienten eingeschlossen haben und eine Reduktion harter Endpunkte belegen konnten, halte ich das neue, niedrigere Blutdruckziel für sehr gerechtfertigt. In der Leitlinie wird betont, dass dies eine gute Verträglichkeit der Medikation voraussetzt, was für die Praxis sicherlich eine wichtige Ergänzung der Empfehlung darstellt. Anzumerken ist, dass schon jetzt weniger als die Hälfte der Patientinnen und Patienten unter Therapie einen Blutdruck < 140/90 mmHg erreicht, sodass fraglich ist, wie oft das noch ambitioniertere Blutdruckziel erreicht werden kann.


Durch die neue Kategorie „erhöhter Blutdruck“ und die IA-Empfehlung zur pharmakologischen Therapie ab einem Blutdruck von 130/80 mmHg bei sehr hohem kardiovaskulären Risiko wird die antihypertensive Therapie bei formal noch nicht bestehender arterieller Hypertonie gestärkt, wobei diese Strategie mit schwächerem Empfehlungsgrad auch in den Leitlinien von 2018 enthalten war, und von der ESH zumindest bei koronarer Herzkrankheit ebenfalls empfohlen wird. Die ESC-Empfehlung wird durch 2 große Metaanalysen gestützt und unterstreicht im Einklang mit dem neuen Zielblutdruck nochmals, dass auch im zuvor „hochnormal“ genannten Blutdruckbereich von 130-140 mmHg ein kardiovaskulärer Benefit durch eine verschärfte Einstellung zu erzielen ist.


Neu ist auch, dass einer niedrig dosierten dreifachen Kombinationstherapie der Vorzug gegenüber einer höher dosierten zweifachen Kombinationstherapie gegeben wird. Auch wenn in der Leitlinie die Vor- und Nachteile dieser Empfehlung erstaunlicherweise nicht diskutiert werden, ist dies aus meiner Sicht eine konsequente Umsetzung der evidenzbasierten Erkenntnis, dass die Hinzunahme einer weiteren antihypertensiven Substanz effektiver den Blutdruck senkt als die Aufdosierung der bestehenden Therapie, ohne Nebenwirkungen zu aggravieren. Abzuwarten bleibt, ob sich diese Empfehlung auch unter budgetärem Druck in Deutschland durchsetzen kann.


Die renale Denervation wird in allen 3 neueren Leitlinien als eine Therapieoption bei resistenter Hypertonie empfohlen, dies spiegelt die klare Evidenz der vergangenen Jahre wider. Die Empfehlung der ESC ist dabei etwas zurückhaltender als die der anderen Leitlinien, ein Therapieversuch mit einem Mineralokortikoidrezeptor-Antagonisten oder Betablocker wird zunächst präferiert. Zu beachten ist - und dies hat zur IIb-Empfehlung beigetragen und muss auch Bestandteil des Aufklärungsgespräches sein - dass die renale Denervation zwar zweifelsfrei eine moderate Blutdrucksenkung bewirken kann und angesichts der Bedeutung der Non-Adhärenz durch ihren „always on“ Effekt einen potenziellen Vorteil bei der Behandlung der Hypertonie bietet, es aber keine randomisierten Studien gibt, die eine Reduktion kardiovaskulärer Endpunkte sicher belegen.

Zusammengefasst ist die aktuelle Leitlinie der ESC nicht nur die neueste der 3 Leitlinien zur arteriellen Hypertonie, sondern setzt aus meiner Sicht die vorhandenen Studiendaten auch am konsequentesten in praktische Empfehlungen um.

Prof. Marcel Halbach

Prof. Marcel Halbach ist Oberarzt der Klinik III für Innere Medizin an der Uniklinik Köln und Leiter der Hypertonieambulanz und des Herzkatheterlabors. Darüber hinaus ist er stellvertretender Sprecher der DGK-Arbeitsgruppe Arterielle Hypertonie (AG 43).
privat

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