Baldus: Ernste Sorge um den Forschungsstandort Deutschland

Trotz erheblicher Erfolge in der Vergangenheit steht die Kardiologie jetzt vor der Herausforderung, individualisierte und stratifizierte Behandlungskonzepte ähnlich wie in der Onkologie zu entwickeln. Das erfordert ein starkes Engagement in der klinischen Forschung.  Gerade hier fällt Deutschland im internationalen Vergleich seit sechs Jahren massiv zurück – ein Weckruf des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Prof. Dr. Stephan Baldus, zur Eröffnung der 89. Jahrestagung der Fachgesellschaft in Mannheim.

Von Helmut Laschet

 

12.04.2023

Es sei eine „absolute Erfolgsgeschichte“: Seit 1986 ist es gelungen, die Ein-Jahres-Sterblichkeit von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz von damals 52 auf heute 6 Prozent zu reduzieren, resümierte Prof. Dr. Stephan Baldus in seinem Überblick zu den wichtigsten Herausforderungen der Kardiologie in der nahen Zukunft. Damit könne sich die Wissenschaft allerdings nicht zufriedengeben. Zu grobe Endpunkte, unrealistische Einschlusskriterien für die Aufnahme von Patientinnen und Patienten in klinische Studien, neue Behandlungsmethoden wie die CAR-T-Zelltherapie und Optionen der Stratifizierung analog zur Onkologie – das seien die Optionen, mit denen sich die kardiologische Forschung in den nächsten Jahren beschäftigen müsse, so Baldus.

Absturz von Platz 2 auf Platz 6 bei klinischen Studien

Seine Sorge – und damit steht er nicht allein – ist, dass der Standort Deutschland für klinische Forschung im internationalen Vergleich immer weiter zurückfällt und damit an wesentlichen Neuentwicklungen unzureichend beteiligt ist. Die Daten sind eindeutig: Bis 2015 belegte Deutschland hinsichtlich der Zahl durchgeführter klinischer Prüfungen weltweit Platz 2 hinter den USA. Inzwischen ist Deutschland auf Platz 6 abgesunken und von China, UK, Spanien und Kanada überholt worden. Dabei sei zu bedenken, dass die Zahl der klinischen Studien in der Kardiologie nur etwa ein Fünftel der onkologischen Studien ausmache. Und es sei ein Warnsignal, wenn ein Unternehmen wie BioNTech im Bereich der Onkologie ausdrücklich das Vereinigte Königreich als Studienstandort wählt und nicht das größte EU-Land Deutschland. Dieser Trend korrespondiere mit dem vom Bundesverband Medizintechnologie erhobenen Innovationsklima-Index, der sich für Deutschland seit 2012 halbiert hat. 89 Prozent der forschenden Unternehmen haben eine eindeutige Präferenz für den Standort USA.

 

Baldus’ Sorge wurde bei der Kongresseröffnung auch von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach geteilt. Er habe den gleichen Eindruck, dass Deutschland in der klinischen Forschung international zurückfällt. Die Lösung soll ein in Vorbereitung befindliches Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) bringen, das die bestehenden Datensilos auflöst und alle verfügbaren Gesundheitsdaten – anonymisiert/pseudonymisiert – öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen, auch der Industrie, verfügbar macht.

 

Ähnlich wie Lauterbach sieht auch Baldus erhebliche Chancen zur Verbesserung der Performance in der Versorgung. Immer noch seien Herz-Kreislauf-Erkrankungen weit vor Krebs die wichtigste Todesursache und häufigster Grund für Hospitalisierungen – zugleich mit einem starken sozialen Gradienten. Die Ursachen dafür seien gut bekannt: Risikofaktoren wie Rauchen, Diabetes, Hypercholesterinämie und Hypertonie. Immer noch aber gebe es etwa 600.000 potenzielle Patientinnen und Patienten mit einer nicht erkannten Hypercholesterinämie – trotz einer hocheffektiven Therapie und einer für ein Screening vergleichsweise niedrigen „Number needed to treat“ (NNT).

 

Nationale Herz-Allianz: Interdisziplinäre Plattform für Innovationen

Die Zukunft der Kardiologie werde wahrscheinlich durch den Einsatz von Biomarkern und Künstlicher Intelligenz ein risikostratifiziertes Screening ermöglichen. Um dies in klinischen Studien zu erforschen und dann in die reale Versorgung zu transferieren, müsse ein strukturierter Datenraum und eine differenzierte Stratifizierung von Patientenpopulationen für klinische Studien geschaffen werden.

 

Eine wichtige Plattform dafür, so Baldus, sei die Nationale Herz-Allianz, an der alle relevanten Fachgesellschaften beteiligt sind und die einen interdisziplinären Forschungs- und Versorgungsansatz verfolgt. Wichtigste Punkte auf der Agenda der Plattform sind der Ausbau und die Effektivierung der Prävention, der Digitalisierung und der Telemedizin.  Konkrete Projekte sind die frühe Detektion von Hypercholesterinämie bei Kindern und die Erkennung von asymptomatischer Herzinsuffizienz. Aktuell gestartet ist inzwischen das Digitalportal Herzmedizin.de.

 


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