Bei vielen Menschen mit Linksschenkelblock im EKG wird fälschlicherweise von einem Herzinfarkt ausgegangen. Neue EKG-Kriterien könnten die Diagnostik verbessern.
Bei vielen Menschen mit Linksschenkelblock im EKG wird fälschlicherweise von einem Herzinfarkt ausgegangen. Neue EKG-Kriterien könnten die Diagnostik verbessern.
Von: Veronika Schlimpert
17.07.2020
Was tun, wenn bei einem Patient im EKG ein Linksschenkelblock (LBBB) zu sehen ist? Wenn der Patient an Ischämie-Beschwerden leidet, empfehlen die aktuellen ESC-Leitlinien in solchen Fälle eine rasche Reperfusionstherapie.
Doch oft findet sich in der Koronarangiografie dann keine Stenose, worauf spanische Kardiologen um Dr. Andrea Di Marco im „Journal of the American Heart Association“ hinweisen. In ihrer Analyse seien 63% der Patienten mit einem LBBB unnötigerweise einer notfallmäßigen Reperfusion ausgesetzt worden, führen sie die Problematik weiter aus.
Deutlich wird an dieser hohen Zahl, wie schwierig es ist, bei LBBB-Nachweis die Diagnose eines Infarkts anhand von EKG-Kriterien korrekt zu stellen. Der in den ESC-Leitlinien von 2017 für solche Fälle aufgeführte Sgarbossa-Score von ≥ 3 hat zwar eine hohe Spezifität (98%), die Sensitivität liegt allerdings gerade mal bei knapp über 30%.
Mit dem Ziel, die Sensitivität zu verbessern, haben Di Marco und Kollegen an einer Kohorte mit 163 Patienten, bei denen aufgrund eines neu oder mutmaßlich neu aufgetretenen LBBB eine primäre PCI vorgenommen worden ist, neue Kriterien entwickelt. Den nach ihren Tätigkeitsort benannten BARCELONA-Algorithmus haben die Kardiologen an einer weiteren Kohorte mit 107 Patienten validiert. 214 Patienten mit kompletten Linksschenkelblock, aber ohne Herzinfarkt-Verdacht dienten als Kontrolle.
Folgende zwei Aspekte sind bei den neuen Kriterien anders als beim Sgarbossa-Score:
Als weiteres Kriterium gilt wie auch schon bei dem Sgarbossa-Score:
Trifft einer von drei Punkten zu, ist von einem Myokardinfarkt auszugehen.
Diese BARCELONA-Kriterien erreichten sowohl in der Evaluierungs- als auch in der Validierungs-Kohorte die höchste Sensitivität (93%–95%) im Vergleich zu früheren Kriterien (z.B. Sgarbossa-Score von ≥3: 33–34%); ebenfalls am besten schnitt der neue Score hinsichtlich des prädiktiven negativen Wertes ab (96–97%). Die Spezifität des neuen Algorithmus war allerdings etwas geringer (89–94%) als beispielsweise die des Sgarbossa-Scores von ≥3 (98–99%).
Konkret bei dieser Kohorte angewendet bedeute dies: Bei Einsatz des Sgarbossa-Scores ≥ 3 oder der modifizierten Sgarbossa-Kriterien wäre ein Herzinfarkt bei 67 bzw. 36 Patienten mit LBBB-Nachweis übersehen worden. Im Gegensatz dazu hätten die BARCELONA-Kriterien nur sechs Patienten fälschlicherweise nicht als Herzinfarkt-Patienten klassifiziert.
„Das neue Vorgehen stellt somit eine bedeutende Verbesserung der Sensitivität dar, besonders im Vergleich zu den früheren Ansätzen“, stellt Prof. Peter Macfarlane die Bedeutung der Ergebnisse in einem Editorial heraus. Besonders überrascht ist der Kardiologe aus Glasgow von der Tatsache, dass beispielsweise eine ST-Senkung in V6 als positives Infarktzeichen bewertet werden kann, wenn die R-Wellen-Amplitude ≤ 0,6 mV beträgt. Dieses Kriterium habe eine überraschend hohe Spezifität von 94%, selbst wenn es gemeinsam mit einer konkordanten ST-Hebung beurteilt werde, führt er seine Verwunderung weiter aus.
Welche Rolle könnten diese neuen Kriterien in der Praxis spielen? Klar ist, dass die ESC-Leitlinien empfehlen, jeglichen LBBB im EKG – selbst wenn sich dieser schon früher gezeigt hat – wie einen ST-Streckenhebungs-Infarkt zu bewerten, wenn ein Verdacht auf ischämisch bedingte Beschwerden besteht. Auf der anderen Seite betonen die Leitlinien, dass der Nachweis eines (mutmaßlich) neu aufgetretenen LBBB kein Prädiktor für einen Herzinfarkt darstellt.
Trotz des vermeintlich geringen Spielraums könnte es Macfarlane zufolge Sinn machen, die neuen BARCELONA-Kriterien als Hilfestellung in dem Entscheidungsprozesses mit einzubeziehen. Zuvor müssten diese aber noch an einer externen Kohorte validiert werden, weist er einschränkend hin.
So könnte beispielsweise die Definition für das Vorliegen eines LBBB das Ergebnis beeinflusst haben, wobei die Autoren in der aktuellen Analyse relativ konventionelle Kriterien herangezogen haben:
Wie Macfarlane sind auch Di Marco und Kollegen der Meinung, dass die neuen Kriterien alleine nicht ausreichen, um über die Herzinfarkt-Diagnose bei Patienten mit LBBB zu entscheiden. Sie könnten sich aber vorstellen, dass diese integriert in einem umfangreichen klinischen Algorithmus die Diagnostik und Therapie von Patient mit LBBB und Verdacht auf Herzinfarkt optimieren könnten. Ob sich diese Hoffnung bewahrheitet, müssen nun weitere Untersuchungen zeigen.
Di Marco A et al. New Electrocardiographic Algorithm for the Diagnosis of Acute Myocardial Infarction in Patients With Left Bundle Branch Block. J Am Heart Assoc. 2020;9:e015573. DOI: 10.1161/JAHA.119.015573
Macfarlane PW. New ECG Criteria for Acute Myocardial Infarction in Patients With Left Bundle Branch Block. J Am Heart Assoc. 2020;9:e017119. DOI: 10.1161/JAHA.120.017119