HERZMEDIZIN: Wie ist es möglich, dass eine Nationale Versorgungsleitlinie für eine kardiovaskuläre Erkrankung veröffentlicht wird, ohne einen Konsens zu erzielen bzw. ohne, dass die DGK als Fachgesellschaft für Kardiologie die Publikation mitträgt?
Thiele: Das liegt an den Regularien zur Erstellung einer Nationalen Versorgungsleitlinie, bei der – wie in diesem Fall – über 20 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt sein können. Ein zentrales Problem besteht darin, dass jede dieser Gesellschaften – selbst wenn ihr Fachgebiet nur am Rande mit der Behandlung der KHK befasst ist, wie beispielsweise die Psychotherapie – den gleichen Stimmenanteil hat wie die Kardiologie. Zudem werden die Nationalen Versorgungsleitlinien stark von der Allgemeinmedizin dominiert. Dadurch fließen Entscheidungen ein, die aus unserer Sicht nicht immer auf der besten wissenschaftlichen Evidenz im Fachgebiet basieren.
Ursprünglich war die DGK an der Entwicklung der Leitlinie beteiligt. Doch da zahlreiche wesentliche Aspekte nicht mitgetragen werden konnten und eine Umsetzung in dieser Form potenziell die Patientensicherheit gefährden könnte, entschied sich die DGK – in einem bislang einmaligen Schritt – gegen eine Unterzeichnung und Unterstützung dieser Leitlinie.
HERZMEDIZIN: Sie sprechen von einer drohenden Verschlechterung der Patientenversorgung bei Umsetzung der Leitlinie. Wie viele Personen sind betroffen?
Thiele: In Deutschland gibt es schätzungsweise ca. 5 Mio. Personen mit einer diagnostizierten KHK. Dazu kommt eine unbekannte Anzahl von nicht diagnostizierten Fällen. Beispielsweise wäre bei der Behandlung gemäß der neuen Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) mit der Festdosisstrategie für Statine anstelle einer zielwertorientierten Therapie ein erheblicher Anteil der Patientinnen und Patienten schlechter eingestellt. Dies hätte direkte Folgen: höhere LDL-Cholesterinwerte, ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko und damit eine potenziell höhere Mortalität.
Vergleicht man die Statintherapie in Deutschland mit anderen Ländern, zeigt sich, dass gerade Hochrisiko-Patientinnen und -Patienten hierzulande eine schlechtere LDL-Zielwerteinstellung erreichen. Eigentlich sollte die Primär- und die Sekundärprävention verbessert werden, was auch ein Ziel des Gesundes-Herz-Gesetzes war. Eine Umsetzung der NVL würde dagegen den problematischen Status quo nicht nur zementieren, sondern noch verschlechtern.
HERZMEDIZIN: Welche Auswirkungen hat die neue NVL auf das Disease-Management-Programm (DMP) KHK?
Nowak: Das DMP zu KHK wird zurzeit aktualisiert. Die DGK hat hierzu eine Stellungnahme abgegeben, und Mitte März findet eine Anhörung beim G-BA statt. Dass die kardiovaskuläre Mortalität in Deutschland im europäischen Vergleich so hoch ist, liegt auch an der ungenügenden Erreichung der LDL-C-Zielwerte. Derzeit erhalten viele Patientinnen und Patienten lediglich eine pauschale Verordnung von 20 mg Simvastatin täglich und haben weiterhin viel zu hohe LDL-C-Werte. Sehr kritisch ist auch die Vorgabe, dass vor jeder PCI eine Herz-Team-Besprechung mit der Herzchirurgie sowie der Hausärztin oder dem Hausarzt stattfinden soll, bevor z.B. eine Typ-A-Stenose dilatiert werden darf. Eine solche Anforderung ist völlig absurd.
Thiele: Die Betroffenen müssten für die Besprechung mit dem Herz-Team abgelegt werden. Dann muss der Hausarzt, der die Koronarangiographie und die Interventionsmöglichkeiten vermutlich gar nicht in allen Belangen abschätzen kann, in die Klinik kommen und mitentscheiden. Wenn man sich dann entscheidet, noch eine PCI zu machen, müsste die Person neu aufgelegt und neu punktiert werden. Das ist nicht nur unpraktikabel, sondern auch patientengefährdend.
Nowak: Auch die Kosten würden von einem solchen Ablauf in die Höhe getrieben werden – für einen Eingriff, der bei einer einfachen Stenose in 10 Minuten erledigt ist.
Mehilli: Zur Verdeutlichung der Dimensionen: Jährlich werden circa 700.000 diagnostische Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt von denen die Hälfte in einer interventionellen Behandlung mündet. Das bedeutet, man müsste eine viertel Million Patientinnen und Patienten ablegen und die Herz-Team-Besprechung, an der mindestens drei Ärztinnen und Ärzte beteiligt sind, organisieren, nur um eine einfache Entscheidung für eine Koronarintervention zu treffen.
Nowak: Der Tenor ist: Nur die Bypass-OP verbessert die Prognose und alles andere nicht. Die Entscheidungshilfe führt auf, wie viele von 100 Patientinnen und Patienten sterben. Bei der Bypass-OP heißt es, nach 5 Jahren sterben 3 Personen weniger, als wenn sie eine PCI bekommen hätten. Das heißt aber auch, dass 97 Personen durch die OP im Vergleich zur PCI keinen zusätzlichen Benefit haben. Man muss die Perspektive auch einmal umdrehen. Das ist auch ein Punkt, wo wir uns als Kardiologinnen und Kardiologen noch stärker für eine sachgerechte Patientenversorgung einsetzen können.