Versorgung gefährdet: DGK besorgt um Implementierung nationaler KHK-Leitlinie

 

Die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) zur chronischen Koronaren Herzkrankheit (KHK)1 widerspricht in vielen Punkten aktueller wissenschaftlicher Evidenz, so die DGK. Daher trägt die Fachgesellschaft, ebenso wie die DGIM, die Leitlinie nicht mit und fordert eine Anpassung – nicht zuletzt auch im Hinblick auf die bevorstehende Aktualisierung des Disease-Management-Programms zur KHK. DGK-Präsident Prof. Holger Thiele, Prof. Julinda Mehilli von der Kommission für Klinische Kardiovaskuläre Medizin und Prof. Bernd Nowak, Vorsitzender des Ausschusses für Bewertungsverfahren, erläutern die Gründe für diesen bisher beispiellosen Vorgang.

Von:

Romy Martínez & Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

10.03.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Explode / Shutterstock.com

HERZMEDIZIN: Die beiden Fachgesellschaften DGK und DGIM haben die Leitlinie nicht unterzeichnet. Auch die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen (DGPR) schließt sich der Kritik an der neuen Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) zu chronischer KHK an. Worum geht es?


Thiele: Die aktuelle wissenschaftliche Evidenz wurde bei mehreren entscheidenden Aspekten nicht berücksichtigt, beispielsweise hinsichtlich Statintherapie sowie Dyspnoe. So ist die Dyspnoe ein sehr wichtiger möglicher Indikator für eine KHK und mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert. Doch in der NVL wird dies nicht berücksichtigt.


Mehilli: Die neue Leitlinie konzentriert sich bevorzugt auf thorakale Beschwerden, Angina Pectoris und vernachlässigt andere klinische Manifestationen des chronischen Koronarsyndroms wie Dyspnoe, die häufig als Angina-Äquivalent, insbesondere bei älteren Personen und Frauen vorkommt.


Nowak: Ca. 25 % der KHK-Betroffenen leiden primär unter Dyspnoe. Trotz der Häufigkeit und der erhöhten Mortalität wurde die Dyspnoe-Symptomatik nicht weiter einbezogen.

Die Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) in Deutschland werden grundsätzlich zu Volkskrankheiten erstellt und stellen damit auch für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine wesentliche Wissensgrundlage da, um die Disease-Management-Programme zu entwickeln und Richtlinien herauszugeben.

Die NVL sollen Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems berücksichtigen und damit basierend auf den nationalen Gegebenheiten eine Entscheidungshilfe für die Ärztinnen und Ärzte sein, die die Patientinnen und Patienten mit der jeweiligen Erkrankung, in diesem Fall chronische Koronare Herzkrankheit (KHK), behandeln.

Die Herausforderung bei der Erstellung einer NVL ist, dass sich alle relevanten Akteure beteiligen können, so dass bei der Erstellung der NVL Chronische KHK über 20 Fachgesellschaften und Gruppen beteiligt waren.

Wesentliche Kritikpunkte an der Nationalen Versorgungsleitlinie KHK sind:

 

  • Dyspnoe wird als Symptom für eine KHK nicht berücksichtigt
  • Statt validierter Tests (RF-CL-Modelle) werden unzureichend getestete Risiko-Scores (Marburger Herz-Score) empfohlen
  • Bei der Statintherapie wird die Festdosisstrategie als gleichwertig zur Zielwertstrategie dargestellt
  • Prognostischer Benefit der Revaskularisation wird nicht berücksichtigt
  • Die Entscheidungshilfen für Patientinnen und Patienten sind oft nicht evidenzbasiert

Kritik zu Statintherapie und Risikoscores

 

HERZMEDIZIN: Worin besteht die Kritik bei der Statintherapie?

Mehilli: Die medikamentöse Therapie mit Statinen stellt die Basistherapie des chronischen Koronarsyndroms dar. Die europäischen Leitlinien empfehlen auf Grundlage kumulativer Evidenz einschließlich randomisierter Studien eine Zielwertstrategie.2 Auch die NVL-CCS empfiehlt eine Senkung des LDL-Cholesterinspiegels auf einen Zielwert von <55 mg/dl (<1,4 mmol/l) oder eine Reduktion des Ausgangswerts um mindestens 50 %. Dennoch wird in Bezug auf die Statintherapie auch eine Festdosisstrategie empfohlen. Das ist besonders besorgniserregend vor dem Hintergrund, dass nur 20 % der Hochrisiko-Patientinnen und Patienten in Deutschland aktuell den angestrebten Zielwert erreichen.


Thiele: Die zielwertorientierte Statintherapie wird in allen internationalen Leitlinien empfohlen. In Deutschland weichen wir jetzt mit der NVL diametral davon ab.


HERZMEDIZIN: Gibt es weitere wichtige Kritikpunkte?


Mehilli: Da nicht alle Patientinnen und Patienten mit chronischem Koronarsyndrom an einer stenosierenden KHK leiden, ist es entscheidend, deren Wahrscheinlichkeit einzuschätzen. So wird in der NVL der Marburger Herz-Score zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer zugrundeliegenden stenosierenden KHK empfohlen. Dieser Score wurde jedoch nur in kleinen und jungen Patientenkollektiven getestet und weist eine Vorhersagegenauigkeit auf, die mit der klinischen Einschätzung durch Hausärztinnen und Hausärzte vergleichbar ist.

 

Die Genauigkeit des in den ESC-Leitlinien empfohlenen Risiko-adjustierten klinischen Wahrscheinlichkeit-Modells (RF-CL-Modell) für die Einschätzung der stenosierenden KHK, das in mehreren Patientenkohorten getestet wurde, ist wesentlich höher. Die Anwendung des RF-CL-Modells ermöglicht nicht nur die Identifikation der Patientinnen und Patienten, die eine invasive oder nicht-invasive Koronarangiographie benötigen, sondern trägt auch dazu bei, die Anzahl der Prozeduren insgesamt zu reduzieren.

Bedeutung der Revaskularisation

 

HERZMEDIZIN: Welche weiteren wesentlichen Abweichungen gibt es im Vergleich zu den ESC-Leitlinien 2024?


Mehilli: Ein weiterer großer Unterschied zwischen den ESC-Leitlinien und vor allem auch der aktuellen Evidenzlage zeigt sich bei den Empfehlungen zur invasiven Koronardiagnostik und Revaskularisationsstrategie. In der NVL wird der prognostische Effekt, den die Myokardrevaskularisation mittels PCI bei Personen mit chronischem Koronarsyndrom hat, praktisch abgelehnt. Und das, obwohl es ausreichend Evidenz von Metaanalysen und randomisierten Studien gibt, die zeigen, dass die Revaskularisation beim chronischen Koronarsyndrom nicht nur Schmerzen lindert und die Lebensqualität erhöht, sondern auch das Myokardinfarktrisiko und die kardiovaskuläre Sterblichkeit reduziert.

 

Darüber hinaus werden Daten insbesondere von Vergleichsstudien über Revaskularisationsmodalitäten unkritisch und voreingenommen interpretiert. Zum Beispiel werden Bypass-Operationen bei fast allen Patientinnen und Patienten mit komplexer KHK empfohlen, obwohl dieses Vorgehen nicht für alle Patientengruppen von den Daten unterstützt wird. Die Entscheidungshilfen für die Betroffenen sind weder evidenzbasiert noch lassen sie sich in der Praxis umsetzen. Es werden Empfehlungen gegeben, die nicht von randomisierten Studien unterstützt werden, geschweige denn von den Leitlinien der ESC.

 

Thiele: Ein besonderer Knackpunkt ist zudem die Vorgabe in der NVL, dass Betroffene bereits vor einer invasiven Koronarangiographie schriftlich ihr Einverständnis zu einer möglichen Bypass-Operation geben müssen. Diese Regelung entspricht nicht der klinischen Realität, da nur 5 % der KHK-Betroffenen eine Bypass-Operation benötigen. Eine solche Vorgabe ist weder praktikabel noch sinnvoll.

Folgen für die Patientenversorgung

 

HERZMEDIZIN: Wie ist es möglich, dass eine Nationale Versorgungsleitlinie für eine kardiovaskuläre Erkrankung veröffentlicht wird, ohne einen Konsens zu erzielen bzw. ohne, dass die DGK als Fachgesellschaft für Kardiologie die Publikation mitträgt?


Thiele: Das liegt an den Regularien zur Erstellung einer Nationalen Versorgungsleitlinie, bei der – wie in diesem Fall – über 20 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt sein können. Ein zentrales Problem besteht darin, dass jede dieser Gesellschaften – selbst wenn ihr Fachgebiet nur am Rande mit der Behandlung der KHK befasst ist, wie beispielsweise die Psychotherapie – den gleichen Stimmenanteil hat wie die Kardiologie. Zudem werden die Nationalen Versorgungsleitlinien stark von der Allgemeinmedizin dominiert. Dadurch fließen Entscheidungen ein, die aus unserer Sicht nicht immer auf der besten wissenschaftlichen Evidenz im Fachgebiet basieren.

 

Ursprünglich war die DGK an der Entwicklung der Leitlinie beteiligt. Doch da zahlreiche wesentliche Aspekte nicht mitgetragen werden konnten und eine Umsetzung in dieser Form potenziell die Patientensicherheit gefährden könnte, entschied sich die DGK – in einem bislang einmaligen Schritt – gegen eine Unterzeichnung und Unterstützung dieser Leitlinie.

 

HERZMEDIZIN: Sie sprechen von einer drohenden Verschlechterung der Patientenversorgung bei Umsetzung der Leitlinie. Wie viele Personen sind betroffen?


Thiele: In Deutschland gibt es schätzungsweise ca. 5 Mio. Personen mit einer diagnostizierten KHK. Dazu kommt eine unbekannte Anzahl von nicht diagnostizierten Fällen. Beispielsweise wäre bei der Behandlung gemäß der neuen Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) mit der Festdosisstrategie für Statine anstelle einer zielwertorientierten Therapie ein erheblicher Anteil der Patientinnen und Patienten schlechter eingestellt. Dies hätte direkte Folgen: höhere LDL-Cholesterinwerte, ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko und damit eine potenziell höhere Mortalität.

 

Vergleicht man die Statintherapie in Deutschland mit anderen Ländern, zeigt sich, dass gerade Hochrisiko-Patientinnen und -Patienten hierzulande eine schlechtere LDL-Zielwerteinstellung erreichen. Eigentlich sollte die Primär- und die Sekundärprävention verbessert werden, was auch ein Ziel des Gesundes-Herz-Gesetzes war. Eine Umsetzung der NVL würde dagegen den problematischen Status quo nicht nur zementieren, sondern noch verschlechtern.

 

HERZMEDIZIN: Welche Auswirkungen hat die neue NVL auf das Disease-Management-Programm (DMP) KHK?


Nowak: Das DMP zu KHK wird zurzeit aktualisiert. Die DGK hat hierzu eine Stellungnahme abgegeben, und Mitte März findet eine Anhörung beim G-BA statt. Dass die kardiovaskuläre Mortalität in Deutschland im europäischen Vergleich so hoch ist, liegt auch an der ungenügenden Erreichung der LDL-C-Zielwerte. Derzeit erhalten viele Patientinnen und Patienten lediglich eine pauschale Verordnung von 20 mg Simvastatin täglich und haben weiterhin viel zu hohe LDL-C-Werte. Sehr kritisch ist auch die Vorgabe, dass vor jeder PCI eine Herz-Team-Besprechung mit der Herzchirurgie sowie der Hausärztin oder dem Hausarzt stattfinden soll, bevor z.B. eine Typ-A-Stenose dilatiert werden darf. Eine solche Anforderung ist völlig absurd.


Thiele: Die Betroffenen müssten für die Besprechung mit dem Herz-Team abgelegt werden. Dann muss der Hausarzt, der die Koronarangiographie und die Interventionsmöglichkeiten vermutlich gar nicht in allen Belangen abschätzen kann, in die Klinik kommen und mitentscheiden. Wenn man sich dann entscheidet, noch eine PCI zu machen, müsste die Person neu aufgelegt und neu punktiert werden. Das ist nicht nur unpraktikabel, sondern auch patientengefährdend.

 

Nowak: Auch die Kosten würden von einem solchen Ablauf in die Höhe getrieben werden – für einen Eingriff, der bei einer einfachen Stenose in 10 Minuten erledigt ist.

Mehilli: Zur Verdeutlichung der Dimensionen: Jährlich werden circa 700.000 diagnostische Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt von denen die Hälfte in einer interventionellen Behandlung mündet. Das bedeutet, man müsste eine viertel Million Patientinnen und Patienten ablegen und die Herz-Team-Besprechung, an der mindestens drei Ärztinnen und Ärzte beteiligt sind, organisieren, nur um eine einfache Entscheidung für eine Koronarintervention zu treffen.          


Nowak: Der Tenor ist: Nur die Bypass-OP verbessert die Prognose und alles andere nicht. Die Entscheidungshilfe führt auf, wie viele von 100 Patientinnen und Patienten sterben. Bei der Bypass-OP heißt es, nach 5 Jahren sterben 3 Personen weniger, als wenn sie eine PCI bekommen hätten. Das heißt aber auch, dass 97 Personen durch die OP im Vergleich zur PCI keinen zusätzlichen Benefit haben. Man muss die Perspektive auch einmal umdrehen. Das ist auch ein Punkt, wo wir uns als Kardiologinnen und Kardiologen noch stärker für eine sachgerechte Patientenversorgung einsetzen können.

Die nächsten Schritte

 

HERZMEDIZIN: Die Nationale Versorgungsleitlinie ist veröffentlicht. Wie will die DGK nun weiter vorgehen?

Thiele: Wir können und müssen uns klar positionieren und die Kritikpunkte deutlich machen. Unser Ziel ist es, bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Gehör zu finden, und eine Aktualisierung der Leitlinie zu erreichen. Gleichzeitig möchten wir auch auf die politischen Entscheidungsträger, insbesondere den G-BA, einwirken, um deutlich zu machen, dass die NVL in ihrer aktuellen Form in vielen Punkten nicht dem Patientenwohl dient, sondern die Versorgung verschlechtert.

 

Aus diesem Grund hat sich die DGK zurückgezogen – ein einmaliger Vorgang in unserer Geschichte. Bisher haben wir stets versucht, Kompromisse mitzutragen, doch in diesem Fall ist die Lage so gravierend, dass wir nicht anders handeln konnten. Die Umsetzung der NVL würde zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung führen, mit einer Zunahme von Herzinfarkten und einer höheren Mortalität als Folge. Daher kann die DGK diese Leitlinie nicht unterstützen.

 

Zur Person

Prof. Holger Thiele

Prof. Holger Thiele ist Direktor der Universitätsklinik für Kardiologie am Herzzentrum Leipzig. Er ist Professor für Kardiologie an der Universität Leipzig und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (2023–2025). Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. akuter Myokardinfarkt, akute Herzinsuffizienz, kardiogener Schock und mechanische Kreislaufunterstützung.

 

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Zur Person

Prof. Julinda Mehilli

Prof. Julinda Mehilli ist Chefärztin der Klinik für Kardiologie, Pneumologie und internistische Intensivmedizin an der LAKUMED Klinik Landshut. Seit über 20 Jahren ist sie in der Patientenversorgungsforschung aktiv und hat als Mitglied verschiedenster Task-Forces maßgeblich an der Gestaltung nationaler und europäischer Behandlungsleitlinien mitgewirkt.

Zur Person

Prof. Bernd Nowak

Prof. Bernd Nowak ist Partner im Cardioangiologischen Centrum Bethanien (CCB) in Frankfurt sowie Teil der Geschäftsführung von CCB Herzwerk und CCB Reha. Seit vielen Jahren ist er für die DGK, für die Deutsche Herzstiftung und in der medizinischen Qualitätssicherung auf Landes- und Bundesebene tätig. Für die Cardio News leitet er die Rubrik Gesundheitspolitik.


Referenzen

 

  1. S3-Leitlinie Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK, 2024. URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/nvl-004
  2. 2024 ESC Guidelines for the management of chronic coronary syndromes: Developed by the task force for the management of chronic coronary syndromes of the European Society of Cardiology (ESC) Endorsed by the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). https://academic.oup.com/eurheartj/article/45/36/3415/7743115

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