Neue ESC-Leitlinie chronisches Koronarsyndrom (CCS)

 

ESC-Kongress 2024 | ESC-Guidelines: Die europäischen Leitlinien zum Management des chronischen Koronarsyndroms wurden nach 2019 erneut aktualisiert. Sprecher Christiaan Vrints (Antwerpen, Belgien) stellte das klinische Spektrum der CCS vor und ging auf den Diagnose-Algorithmus ein. Anschließend präsentierte Felicita Andreotti (Rom, Italien) die neuen Leitlinien-Empfehlungen zur Therapie.


Prof. Holger Thiele kommentiert.

Von:

Dr. Heidi Schörken

Redaktion HERZMEDIZIN.de

 

Prof. Holger Thiele

Universität Leipzig

 

23.09.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Iakov Kalinin / Shutterstock.com

Neue Definition des chronischen Koronarsyndroms (CCS)

 

Die neue Definition des CCS basiert auf einem erweiterten pathophysiologischen Verständnis. CCS wird als klinisches Syndrom definiert, das durch strukturelle und/oder funktionelle Veränderungen entsteht, die im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen der Herzkranzgefäße und/oder Störungen der Mikrozirkulation stehen. Diese Veränderungen können zu einem transienten, reversiblen Missverhältnis zwischen Bedarf und Versorgung des Myokards führen, was in einer Hypoperfusion (Ischämie) resultiert. CCS kann durch Trigger, wie Anstrengung, Emotionen oder Stress ausgelöst werden und sich als Angina pectoris, andere Brustbeschwerden oder Dyspnoe äußern, aber auch asymptomatisch sein. Trotz längerer stabiler Phasen verläuft das CCS meist progressiv, kann sich jederzeit destabilisieren und zu einem akuten Koronarsyndrom entwickeln. In dieser neuen Sichtweise wird das CCS nicht nur durch Blockaden großer Arterien verursacht, sondern kann auch eine Folge von Funktionsstörungen kleinerer Gefäße bzw. einer gestörten Mikrozirkulation sein.

Management des CCS

 

Bei Personen mit einem Verdacht auf CCS sollen Diagnose und Management grundsätzlich in 4 Schritten erfolgen.

Schritt 1: Initiale Untersuchung

Im ersten Schritt werden Anamnese und Symptome abgefragt sowie ein Ruhe-EKG und Labortests durchgeführt, um nicht-kardiale Ursachen der Symptomatik und ein akutes Koronarsyndrom auszuschließen.

Schritt 2: Weitere Evaluation mit neuem Prognosemodell

Im zweiten Schritt wird die klinische Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK bewertet. Dafür wurde ein neues risikofaktorgewichtetes klinisches Prognosemodell mit verbesserter Genauigkeit entwickelt, das im Gegensatz zur Vorgängerversion die obstruktive koronare Herzkrankheit weniger stark überschätzt.

Schritt 3: Bestätigung der Diagnose

Die Auswahl der weiteren bildgebenden Untersuchungen zur Bestätigung der Diagnose basiert vor allem auf der klinischen Wahrscheinlichkeit und darüber hinaus auf der Verfügbarkeit, lokalen Expertise, Patientencharakteristika und Präferenz.

 

Bei niedriger bis moderater Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (> 5 bis 50 %) wird die koronare CT-Angiographie empfohlen, während eine funktionelle Bildgebung (Stress-Echo, SPECT, PET oder MRT) bei hoher Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (> 50 bis 80 %) erfolgen soll.


Bei sehr hoher klinischer Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven KHK (> 85 %), schweren Symptomen, die nicht auf eine medizinische Therapie ansprechen, Angina pectoris bei geringer Belastung und/oder hohem Ereignisrisiko wird eine invasive Koronarangiographie empfohlen.


Falls die CT-Angiographie die obstruktiven KHK nicht bestätigt, kommt die Diagnose einer nicht-obstruktiven Ischämie (ANOCA/INOCA) in Betracht. Bei etwa 50 % der Männer und 70 % der Frauen mit Verdacht auf CCS liegt keine obstruktive KHK vor, wobei etwa ein Viertel auf INOCA (Ischemia with Non-Obstructive Coronary Arteries) entfällt und der größere Anteil auf ANOCA (Angina with Non-Obstructive Coronary Arteries). Darunter können verschiedene sogenannte Endotypen identifiziert werden, wie endotheliale Dysfunktion, mikrovaskuläre Angina, vasospastische Angina oder gestörte Vasodilatation. Die teils überlappenden Endotypen können mit unterschiedlichen Therapieansätzen behandelt werden, wie z.B. mit Beta-Blockern oder Kalziumantagonisten.

Schritt 4: Therapie der CCS

CCS wird als funktionelles, anatomisches und klinisches Kontinuum betrachtet. Die multimodale Therapie reicht von Lebensstil- und Risikofaktor-Modifikationen, über die medikamentöse Therapie bis hin zur Revaskularisation. Weiterhin sollen patientenzentrierte Faktoren implementiert werden, wie Förderung der Adhärenz, Beratung zum Lebensstil, vereinfachte Medikamenten-Regime, gute Arzt-Patienten-Kommunikation, Berücksichtigung von Patient-Reported Outcomes und Telemedizin.

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie zur Symptomkontrolle soll individuell maßgeschneidert sein im Hinblick auf Komorbidität, Begleitmedikation, Verträglichkeit und zugrundeliegende Pathophysiologie. Da randomisierte Studien zum Head-to-Head-Vergleich von antianginösen Arzneimitteln fehlen, werden Empfehlungsklassen (I bis IIb) statt Firstline- und Secondline-Empfehlungen gegeben. Die stärkste Empfehlungsklasse haben Beta-Blocker, Kalziumantagonisten und Nitrate (I bis IIa) gefolgt von Ivabradin (IIa) sowie Trimetazidin und Nicorandil (IIb).

Antithrombotische Therapie

Die niedrig-dosierte ASS-Monotherapie (75-100 mg täglich) ist weiterhin die antithrombotische Therapie der Wahl. Personen mit obstruktiver CCS ohne Myokardinfarkt oder PCI in der Vorgeschichte sollen eine lebenslange Therapie mit ASS erhalten (IB). Neu ist die Empfehlung von Clopidogrel (75 mg täglich) als sichere und wirksame Alternative zu ASS bei Personen mit CCS und Myokardinfarkt oder PCI in der Vorgeschichte (IA).


Falls eine langfristige Indikation für eine orale Antikoagulation vorliegt, wird die lebenslange Monotherapie mit DOAC (direkte Antikoagulantien) empfohlen (IB). Falls keine Indikation für eine orale Antikoagulation vorliegt, wird nach der PCI die DAPT aus ASS (75-100 mg täglich) und Clopidogrel (75 mg täglich) für bis zu 6 Monate empfohlen (IA). Neu ist, dass die DAPT nach PCI bei hohem Blutungsrisiko aber geringem Ischämierisiko auf 1-3 Monate verkürzt werden kann (IIB). Bei hohem Ischämierisiko und geringem Blutungsrisiko kann die langfristige Sekundärprävention durch die Kombination von ASS mit einem zweiten Antithrombotikum (Clopidogrel 75 mg od, Rivaroxaban 2,5 mg bid, Ticagrelor 60 mg bid) intensiviert werden (IIaA).

Neue Wirkstoffe: Colchicin, Semaglutid und SGLT2-Inhibitoren

Das medikamentöse Spektrum wurde erstmals um den antiinflammatorischen Wirkstoff Colchicin erweitert. Bei Personen mit CCS und atherosklerotischer KHK kann niedrig dosiertes Colchicin (0,5 mg täglich) in Betracht gezogen werden, um das Myokardinfarkt- und Schlaganfall-Risiko sowie die Notwendigkeit einer Revaskularisation zu reduzieren (IIaA).


Bei Personen mit CCS und Diabetes mellitus (Typ 2) werden SGLT2-Inhibitoren empfohlen, unabhängig vom Ausgangs- oder Ziel-HbA1c-Wert und unabhängig von der gleichzeitigen Behandlung mit Diabetes-Medikamenten (IA). Semaglutid kann bei CCS und Übergewicht oder Adipositas (BMI > 27 kg/m2) ohne Diabetes mellitus in Betracht gezogen werden (IIaB).

Empfehlungen für die Revaskularisation

Die Indikationen für die Revaskularisation beim CCS sind ähnlich zur Vorgängerversion: Symptome, die nicht auf Medikamente ansprechen und/oder signifikante Stenose des linken Hauptstamms, der proximalen linken anterioren absteigenden Arterie oder mehrerer großer epikardialer Arterien. Bei komplexen Läsionen soll die PCI mit intravaskulären Verfahren zur Bildgebung (IVUS oder OCT) zusätzlich zu Druckmessungen erfolgen. Die OP ist der PCI vorzuziehen bei Personen mit ausgedehnter Erkrankung, insbesondere mit Diabetes mellitus oder reduzierter linksventrikulärer Ejektionsfraktion.

Fazit

 

Die neuen ESC-Leitlinien CCS räumen den nicht-obstruktiven Erkrankungen, INOCA und ANOCA, einen größeren Stellenwert ein, die bei etwa der Hälfte der Personen mit Verdacht auf CCS vorliegen. Für den Diagnose-Algorithmus ist vor allem die klinische Wahrscheinlichkeit maßgeblich, die durch ein neues Prognosemodell mit höher Genauigkeit bestimmt werden kann. Bei sehr geringer klinischer Wahrscheinlichkeit sind keine weiteren Untersuchungen notwendig, während bei niedriger bis moderater Wahrscheinlichkeit die CT-Angiographie empfohlen wird. Invasive Tests sollen dagegen nur bei hoher Wahrscheinlichkeit erfolgen. Weitere interessante Neuerungen für die klinische Praxis betreffen vor allem die Empfehlungen zur antithrombotischen Therapie.

Expertenkommentar von Prof. Holger Thiele

 

Mit Spannung wurden die neuen CCS-Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) erwartet, die nach den CCS-Leitlinien von 2019 basierend auf einer Vielzahl an Evidenz nun kein separates Update der Revaskularisations-Leitlinien von 2019 und der Präventions-Leitlinien von 2021 bereithält, sondern alle diese Aspekte in einer Leitlinie zusammenfasst. Ähnlich wie bei den ESC ACS Leitlinien von 2023 eine riesige Aufgabe.


Mir persönlich gefällt der neue 4-Stufen Ansatz gut zum Management des CCS. Auch das neue risikofaktorgewichtete klinische Prognosemodell entspricht besser der klinischen Realität als die frühere Vorgehensweise, dass man basierend auf Alter, Geschlecht und der sehr vereinfachten Herangehensweise der Symptombeurteilung in typische, atypische und nicht-anginöse Beschwerden eine Vortestwahrscheinlichkeit nach einer Tabelle bestimmt.
Allerdings war nach Rückmeldungen für viele unklar, wie man mit diesem risikofaktorgewichteten klinischen Prognosemodell umgehen soll. Basierend auf den neuen Tabellen kommt man bei keiner Patientin oder Patienten auf eine Wahrscheinlichkeit von > 50 % für das Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung (KHK). Das würde bedeuten, dass nahezu alle Patientinnen und Patienten mittels CT Koronarangiographie abgeklärt werden sollen.


Die zusätzliche Tabelle zur Adjustierung der klinischen Wahrscheinlichkeit basierend auf pathologischen Zusatzbefunden, wie i) Ruhe-EKG-Veränderungen, ii) Belastungs-EKG mit abnormalen Befunden, iii) LV-Dysfunktion, iv) ventrikuläre Arrhythmien, v) pAVK, und vi) Koronarkalk im Thorax-CT war mir als auch anderen auch nach mehrfachem Lesen nicht ganz klar.
In der Zwischenzeit gab es über X (vormals Twitter) auch viele Diskussion dazu und einen online-Rechner, der das klarstellt. Ich kann diesen Rechner nur empfehlen, da dieser das Vorgehen enorm erleichtert und verständlich macht: https://ihtanboga2.shinyapps.io/CCS_app/

Insgesamt spannend ist die Fokussierung auf ANOCA und INOCA, wenn keine obstruktive KHK vorliegt. Es bleibt allerdings die Frage, was machen wir, wenn wir aufwändig ANOCA oder INOCA im Katheterlabor diagnostiziert haben. Harte Evidenz haben wir leider nicht, wie wir das therapeutisch beeinflussen können. Wie so oft, ist das vermutlich die Aufgabe des Leitlinien-Komitees an die wissenschaftliche „Community“, dass wir hier mehr forschen sollen.

Die Empfehlungen zur Revaskularisation sind recht diplomatisch formuliert und erlauben dem Heart Team basierend auf Komorbiditäten und Lebenserwartung eine balancierte Vorgehensweise zur Prognoseverbesserung als auch zur Symptomkontrolle. Die amerikanischen Leitlinien zur Revaskularisation von 2021 waren hier im Vergleich zurückhaltender und haben die Evidenz zur Bypass-Operation bei CCS mit erhaltener Pumpfunktion in Bezug auf Prognose-Verbesserung zurückhaltender bewertet, da diese Studien nunmehr 4 Jahrzehnte alt sind und sich alleine in der medikamentösen Therapie des CCS doch erhebliche Fortschritte gezeigt haben. Gleiches für das CCS mit reduzierter Pumpfunktion, wo die 4-Säulen-Therapie der Herzinsuffizienz ja eine erhebliche Prognoseverbesserung gezeigt hat. In dieser Hinsicht ist die Diskussion zur Prognoseverbesserung durch Revaskularisation mittels Bypass-OP in STICH bzw. STICHES als auch mittels PCI in REVIVED-BCIS sicherlich nicht abgeschlossen. Auch hier ergeben sich wichtige Fragen für neue Studien.


Es bleibt also weiter spannend. Die Leitlinien geben uns aber eine gute Möglichkeit für die nächsten Jahre die Patientinnen und Patienten optimal zu versorgen.

Zur Person

Prof. Holger Thiele

Univ.-Prof. Dr. med. Holger Thiele ist sowohl Internist und Kardiologe als auch Angiologe. Zusätzlich hat er die Zusatzbezeichnung Internistische Intensivmedizin, fachgebundene MRT, Notfall- und Rettungsmedizin. Er ist Universitätsklinikdirektor für Kardiologie am Herzzentrum Leipzig – eine der größten universitären Kardiologien in Deutschland – und berufener Professor der Universität Leipzig. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.

 

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Referenzen

 

  1. Vrints C & Andreotti F. ESC Guidelines for the Management of Peripheral Arterial and Aortic Diseases, 2024 ESC Guidelines overview, ESC2024, London
  2. Vrints C et al. 2024 ESC Guidelines for the management of chronic coronary syndromes. Eur Heart J. 2024 Aug 30:ehae177. doi: 10.1093/eurheartj/ehae177.

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