Von Ötzi bis heute: Atherosklerose begleitet uns seit Jahrtausenden

 

Atherosklerose – eine moderne Zivilisationserkrankung? Vor Jahren sorgte eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten aus Kardiologie, Radiologie und Ägyptologie für Aufsehen, als sie Atherosklerose bei Mumien u. a. aus dem alten Ägypten nachwies.1 Mittlerweile hat das Team Mumien aus unterschiedlichsten Regionen und aus einem Zeitraum von über 5000 Jahren geprüft. Die umfassenden CT-Untersuchungen sowie aktuelle genetische Analysen legen nahe, dass die genetische Veranlagung zur Atherosklerose und ihre Auswirkungen die Menschheit schon seit langer Zeit begleiten. Dr. Omar Hahad, Universitätsmedizin Mainz, kommentiert.  

Von:

Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

Dr. Omar Hahad

Expertenkommentar

 

31.07.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Andrea Izzotti / Shutterstock.com

 

In der globalen HORUS-Studie wurden 237 Mumien mittels Computertomografie-Scan auf Atherosklerose untersucht.2 Die Mumien stammten aus sieben verschiedenen Kulturen unterschiedlicher Epochen: v. a. aus dem antiken Ägypten (n = 161), aber auch von nordamerikanischen Pueblo-Ureinwohnerinnen und -Ureinwohnern, Bauer- und Fischergemeinschaften in Peru und Bolivien, mittelalterlichen Hirtenvölkern aus der Wüste Gobi, Jäger- und Sammlergemeinschaften der Inuit (16. Jahrhundert) und von den Aleuten (19. Jh.). 91 Mumien waren weiblich (38,4 %). Das geschätzte Alter beim Tod betrug durchschnittlich 40 Jahre.

Atherosklerose bei über einem Drittel der Mumien

 

Wahrscheinliche und eindeutige Atherosklerose wurde – auch trotz des niedrigen Alters – bei 89 (37,6 %) Mumien aus allen Kulturen und Zeitperioden gefunden, mit ähnlichen Häufigkeiten bei Frauen und Männern sowie bei ägyptischen und nicht-ägyptischen Mumien. Besonders bei den nicht-ägyptischen Mumien wurde von nicht-elitären Personen ausgegangen.


Da die Mumien ein breites Spektrum an Zeiträumen, geographisch-kulturellen Regionen und Lebensstilen abdecken, schlussfolgert das Forschungsteam, dass Menschen eine angeborene Veranlagung zur Atherosklerose haben. „Moderne“ kardiovaskuläre Risikofaktoren wie industriell geprägte Ernährung, Rauchen und Bewegungsmangel würden das Ausmaß und die Auswirkungen bestimmen, aber nicht das grundlegende Prävalenzrisiko von Atherosklerose.

Risiko-Allele bereits bei Ötzi

 

Eine weitere aktuelle Studie an Mumien stützt die Annahme der Veranlagung.3 22 Mumien verschiedener Epochen aus Ägypten, Peru, Bolivien, Australien und der Schweiz sowie „Ötzi“ wurden auf Genvarianten untersucht, die zu einem erhöhten Risiko für Atherosklerose beitragen.


Risikovarianten konnten in Mumien aller Zeitperioden und Regionen nachgewiesen werden, wobei die einzelnen Varianten allerdings nur minimale Auswirkungen haben. Als eine von zwei Mumien zeigte der 5300 Jahre alte Ötzi durch den kombinierten Effekt mehrerer Risikovarianten die größte genetische Prädisposition für Atherosklerose. CT-Scans der Mumien auf Atherosklerose bestätigten diese Form der polygenen Risikoabschätzung.

Reproduktionsphase evolutionär entscheidend

 

Warum begleiten uns Menschen diese schädlichen Veranlagungen anscheinend seit Jahrtausenden? Dr. Gregory S. Thomas vom HORUS-Forschungsteam führt als mögliche Erklärung das Konzept der antagonistischen Pleiotropie an:4 Ein Gen oder eine Genvariante kann mehrere, sowohl vorteilhafte als auch nachteilige, Auswirkungen auf den Organismus haben.


So kann beispielsweise eine Genvariante in jungen Jahren vorteilhaft sein, weil sie die Infektionsanfälligkeit senkt, und im Alter Schaden anrichten, weil sie Atherosklerose begünstigt. Wenn die Nachteile erst nach der Reproduktionsphase überwiegen, den Fortpflanzungserfolg also nicht nachhaltig beeinträchtigen, ist die Genvariante evolutionär stabil und kann von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Expertenkommentar

 

Die HORUS-Studie zeigt überzeugend, dass Atherosklerose eine dauerhafte menschliche Bedingung in verschiedenen Epochen und Kulturen war, und weist womöglich auf eine universelle biologische Anfälligkeit hin. Die aktuellen Ergebnisse unterstützen die vorherige Beobachtung des Forschungsteams, dass Atherosklerose nicht nur eine Folge moderner Lebensweisen ist. Dass früher lebende Bevölkerungen ohne die Verlockungen des modernen Lebensstils anscheinend signifikante Prävalenzen von Atherosklerose aufwiesen, lässt vermuten, dass genetische, aber auch umweltbedingte, darunter infektiöse, Faktoren historisch eine bedeutendere Rolle gespielt haben könnten als bisher angenommen.

Lebensstil und Umweltfaktoren beeinflussen Auswirkungen

 

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass unser Lebensstil – wie eine gesunde Ernährung, die Kontrolle von Cholesterin und Blutdruck, regelmäßige Bewegung und das Nichtrauchen – beeinflusst, ob die im Laufe unseres Lebens entwickelte Atherosklerose bedeutend genug wird, um einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verursachen. In der aktuellen wissenschaftlichen Forschung gewinnt die Untersuchung des Exposoms im Kontext der Krankheitsentstehung zunehmend an Bedeutung im Vergleich zur Betrachtung des Genoms.5 Das Exposom beschreibt die Gesamtheit aller externen oder umweltbedingten Faktoren, die das individuelle Krankheitsrisiko beeinflussen können.

Exposom Übersicht Das Exposom-Konzept. Das Exposom umfasst die Gesamtheit der lebenslangen Expositionen eines Individuums, von der Geburt (oder sogar der Zeit im Mutterleib) bis zum Tod. Basierend auf [5]

Während genetische Prädispositionen zweifellos einen signifikanten Beitrag zur Entwicklung von Atherosklerose leisten, ist bekannt, dass Umweltfaktoren wie Klima, Luftverschmutzung und Lärm ebenfalls erhebliche Auswirkungen haben können.6 Dies eröffnet neue Ansätze für präventive Maßnahmen, die über rein genetische Ansätze hinausgehen. Maßnahmen zur Reduzierung von Luftverschmutzung und Lärm sowie die Förderung eines gesunden Lebensstils könnten potenziell das Risiko und die Schwere von Atherosklerose verringern. Ein umfassendes Verständnis der Interaktion zwischen genetischen Faktoren und dem Exposom ist entscheidend für die Entwicklung zielgerichteter präventiver Strategien. Dies könnte sowohl individuelle Gesundheitsinterventionen als auch die öffentliche Gesundheitspolitik unterstützen und verbessern.

Limitationen und Komplexität der Zusammenhänge

 

Obwohl die HORUS-Studie umfassend ist, erkennen die Forschenden bestimmte Limitationen an, wie die Variabilität in der Erhaltung von Gefäßgewebe, die die Erkennungsraten von Atherosklerose beeinflussen könnte. Darüber hinaus verzerren postmortale Prozesse, einschließlich der Mumifizierung, die Erhaltung von Arterienstrukturen, was eine vorsichtige Interpretation der Daten erfordert.


Zudem sei darauf hingewiesen, dass externale Faktoren trotzdem eine potenziell bedeutende Rolle spielen könnten, wie beispielsweise die Nutzung von offenem Feuer zum Kochen. Darüber hinaus könnten chronische Entzündungen und Infektionskrankheiten, beispielsweise verursacht durch unzureichende sanitäre Einrichtungen, die Entwicklung von Atherosklerose begünstigt haben. Dennoch sollten auch bei der Diskussion über die Assoziation von Zivilisationsfaktoren mit Atherosklerose potenzielle Störfaktoren sorgfältig berücksichtigt werden. Es ist möglich, dass andere unbekannte oder nicht erfasste Faktoren eine Rolle spielen könnten, die die beobachteten Zusammenhänge zwischen Lebensstil und Krankheitsentwicklung beeinflussen. In diesem Zusammenhang spielen Faktoren wie Blutdruck, Cholesterinspiegel und genetische Veranlagung eine zentrale Rolle.

Zur Person

Dr. Omar Hahad

Dr. Omar Hahad ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kardiologie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen umweltbedingte Risikofaktoren für Herz-Kreislauf- und neuropsychiatrische Erkrankungen. Er ist Mitglied des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz.

Bildquelle: Peter Pullkowski

Referenzen

 

  1. Thompson RC et al. Atherosclerosis across 4000 years of human history: the Horus study of four ancient populations. Lancet. 2013 Apr 6;381(9873):1211-22. doi: 10.1016/S0140-6736(13)60598-X.
  2. Thompson RC et al. Atherosclerosis in ancient mummified humans: the global HORUS study. Eur Heart J. 2024 Jul 9;45(25):2259-2262. doi: 10.1093/eurheartj/ehae283.
  3. Wurst C et al. Genetic Predisposition of Atherosclerotic Cardiovascular Disease in Ancient Human Remains. Ann Glob Health. 2024 Jan 25;90(1):6. doi: 10.5334/aogh.4366.
  4. Rachel Wolffe. Eurac Research. Atherosklerose in neuem Licht. URL: https://www.eurac.edu/de/magazine/atherosklerose-in-neuem-licht. Zugriff: 16.07.2024.
  5. Daiber A et al. Das Exposom charakterisiert die Auswirkungen unserer Umwelt auf Stoffwechsel und Gesundheit. Aktuelle Kardiologie. 2021;10(06):502-8.
  6. Hahad O, Al-Kindi S. The Prenatal and Early Life Exposome: Shaping Health Across the Lifespan. JACC Adv. 2024;3(2):100807. Published 2024 Jan 5. doi:10.1016/j.jacadv.2023.100807

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