Präventionswende in Deutschland gefordert

 

Deutschland droht im europäischen Vergleich das Schlusslicht in Sachen Prävention und Gesundheitsschutz zu werden – mit ernsthaften Konsequenzen für die Bevölkerung. So zeigte eine kürzlich veröffentlichte Studie, dass Deutschland im EU-Vergleich der Lebenserwartung schlecht abschnitt sowohl vor 2019 als auch während der COVID-19-Pandemie.1 Daher wird eine Präventionswende in Deutschland dringend benötigt. Das fordert auch das Wissenschaftsbündnis DANK (Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten) von der neuen Bundesregierung anhand eines 6-Punkte-Plans.2


Prof. Dirk Müller-Wieland (RWTH Aachen), ehemaliger Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Experte für Prävention, kommentiert.  

Von:

Martin Nölke & Dr. Heidi Schörken

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

Expertenkommentar

Prof. Dirk Müller-Wieland

RWTH Aachen

 

25.03.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Sasun Bughdaryan / Shutterstock.com

Entwicklung der Lebenserwartung im EU-Vergleich


Seit Jahrzehnten steigt die Lebenserwartung in Europa, allerdings zuletzt mit abnehmender Tendenz. Seit 2011, also bereits vor der COVID-19-Pandemie, hat sich der Anstieg deutlich abgeschwächt. Die Ursachen wurden jetzt anhand der Global Burden of Diseases Datenbank (GBD 2021) untersucht. Die Forschenden verglichen Lebenserwartung, Todesursachen und Risikofaktoren von 16 europäischen Ländern einschließlich Deutschland über 3 Zeiträume (1990–2011, 2011–19 und 2019–21).

Schwächerer Anstieg und Abnahme der Lebenserwartung

 

In allen 16 Ländern nahm die jährliche Lebenserwartung in den Zeiträumen 1990–2011 und 2011–19 zu, allerdings schwächte sich die Zunahme in allen Ländern außer Norwegen im Zeitraum 2011–19 ab (Mittelwert 0,15 Jahre; 95%UI [0,13;0,16]) gegenüber 1990–2011 (Mittelwert 0,23 Jahre; 95%UI [0,23;0,24]). Deutschland gehörte zusammen mit Schottland, Wales, England und Griechenland zu den 5 Ländern mit der niedrigsten Zuwachsrate (Mittelwert 0,10 Jahre; 95%UI [0,09;0,11]).


Im Zeitraum 2019–21 nahm die Lebenserwartung in allen Ländern ab (Mittelwert -0,18 Jahre; 95%UI [-0,22;-0,13]) mit Ausnahme von Irland, Island, Schweden, Norwegen und Dänemark, die geringfügige Verbesserungen aufwiesen und Belgien ohne eine Veränderung der Lebenserwartung.
Als Haupttreiber für die ansteigende Lebenserwartung bis 2019 wurden Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen identifiziert, während Atemwegsinfektionen und andere COVID-19-Outcomes für den Rückgang der Lebenserwartung 2019–21 verantwortlich waren.


Hauptrisikofaktoren für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen im Jahr 2019 waren:

 

  • Hoher systolischer Blutdruck
  • Ungesunde Ernährung
  • Rauchen
  • Hoher LDL-Cholesterinspiegel
  • Hoher BMI
  • Hoher Alkoholkonsum
  • Bewegungsmangel

Höhere Lebenserwartung in Ländern mit staatlicher Prävention

 

In den 5 Ländern (Norwegen, Island, Belgien, Dänemark und Schweden) mit den höchsten Zuwachsraten der Lebenserwartung bis 2019 war die Mortalität durch Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen niedriger infolge einer geringeren Risikofaktor-Exposition, was vermutlich auf staatliche Präventionsmaßnahmen zurückzuführen war. Zudem waren diese Länder auch besser auf die COVID-19-Pandemie vorbereitet: Die Lebenserwartung nahm in diesem Zeitraum nicht ab. Im Gegensatz dazu erlebten Länder mit einem geringen Zuwachs der Lebenserwartung in den Jahren zuvor auch einen besonders starken Rückgang während der Pandemie.

Präventionswende in Sicht?

 

Insgesamt legen die Ergebnisse dieser Studie nahe, dass staatliche Prävention zur Verbesserung der Gesundheit nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Widerstandskraft in Krisensituationen erhöht. Zu diesen Maßnahmen gehört vor allem die Verringerung der Exposition zu den wichtigsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, wie ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel.


Auch das Wissenschaftsbündnis DANK (Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten), das im Jahr 2010 gegründet wurde als Zusammenschluss von mehr als 20 Forschungseinrichtungen und medizinischen Fachgesellschaften, darunter auch die DGK, hat sich als Ziel vorgenommen, die Aufmerksamkeit für Präventionsmaßnahmen in der Öffentlichkeit und insbesondere bei politischen Entscheidungsträgern zu steigern.

Von der neuen Bundesregierung fordert das DANK-Bündnis jetzt eine Präventionswende. Zu diesem Zweck wurde kurz vor der Bundestagswahl ein detaillierter 6-Punkte-Plan veröffentlicht.2 Denn trotz der höchsten Gesundheitsausgaben im europäischen Vergleich droht Deutschland zum Schlusslicht bei Prävention und Gesundheitsschutz zu werden. „Andere Länder zeigen seit Jahren, wie mehr Gesundheitsschutz mit gezielter und umfassender Verhältnisprävention gelingt“, so die DANK-Sprecherin Barbara Bitzer. „Es darf nicht sein, dass wir in Deutschland als entwickeltem Land immer wieder über freiwillige Maßnahmen und mehr Aufklärung diskutieren und damit Präventions-Nachzügler sind und wertvolle Zeit verlieren. Die Politik muss endlich eine Präventionswende einleiten, damit alle Menschen erreicht werden und vor allem Kinder gesund aufwachsen können.“ 2

 

 

6-Punkte-Plan der DANK (Kurzversion)

 

  • Steuerliche Instrumente wirksam ausgestalten: Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke, gesundheitsschädliche Produkte – wie Tabak und Alkohol – stärker besteuern und Gesundes von der Mehrwertsteuer befreien.
  • Werbung und Marketing für Ungesundes und gesundheitsschädliche Produkte eindämmen, um Kinder und Jugendliche wirksam zu schützen.
  • Einweg-E-Zigaretten und Aromen verbieten.
  • Schulernährung: Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bundesweit einführen.
  • Verbindlichen Nutri-Score auf allen Produkten einführen.
  • Mindestens eine Stunde Bewegung pro Tag in Kita und Schule 

 

Hier geht es zur ausführlichen Version des 6-Punkte-Plans.

Expertenkommentar von Prof. Müller-Wieland

 

Prof. Stephan Baldus hat 2023 als Präsident der DGK zusammen mit Prof. Karl Lauterbach auf die prekäre Situation zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingewiesen3, welches u. a. auch in den Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz, GHG) für das Kabinett vom 28.8.2024 eingegangen ist: „Ziel des Gesetzentwurfs ist es, durch ein Bündel an Maßnahmen die Früherkennung und die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern und so die Herz-Kreislauf-Gesundheit in der Bevölkerung zu stärken.“


Nicht-übertragbare chronische Krankheiten (NCDs), wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, fassen aber auch Krankheiten zusammen, wie z. B. Diabetes, Hypertonie, Dyslipidämien, Krebsformen, COPD sowie bestimmte psychische und neurodegenerative Erkrankungen etc., die nicht ansteckend sind, und durch Lebensstilmodifikationen effektiv verhindert werden können. Ein Treiber der NCDs sind Übergewicht und seine Folgen, wobei neue Modellierungen davon ausgehen, dass die Adipositas-Prävalenz sich 2050 gegenüber 1990 verdoppelt haben könnte.4

 

Daher ist ein Ziel in der Primärprävention Gewichtszunahme zu vermeiden. Dies ist nicht nur im kürzlichen Consensus Statement zur Adipositas der ESC5 formuliert, sondern auch in Bezug einer Vermeidung der Entwicklung vom kardiovaskulär-renalen-metabolischem Syndrom (CKM).6,7

 

Die American Heart Association empfiehlt daher 8 Lebensregeln: “Life’s Essential 8 are the key measures for improving and maintaining cardiovascular health, as defined by the American Heart Association. Better cardiovascular health helps lower the risk for heart disease, stroke and other major health problems.” Diese 8 Forderungen zur Primärprävention adressieren 4 Gesundheitsfaktoren (Gewichtsmanagement, Cholesterinkontrolle und Management von Blutzucker sowie Blutdruck) und 4 Maßnahmen zum Gesundheitsverhalten (neben gesund schlafen, sind es tabak-frei werden, körperlich aktiver sein und gesünder essen). Hier setzen offensichtlich auch die politischen Forderungen der DANK an (siehe oben).


Grundsätzlich werden bei der Prävention 2 unterschiedliche Strategien verfolgt, eine Individual- und Verhältnisprävention. Die Individualprävention von NCDs spricht Risiko-Individuen direkt an. Durch Maßnahmen zur Verhältnisprävention hingegen sollen allgemeine Lebensbedingungen geschaffen werden, die es den Menschen erleichtern, sich gesund zu verhalten. Maßnahmen und Vorschläge zur Verhältnisprävention, wie u. a. von DANK, sind in aller Regel politischer Natur, da sie durch den Gesetzgeber in der Breite umgesetzt werden müssten. Die wissenschaftliche Evidenz beruht zumeist auf epidemiologischen Beobachtungsdaten sowie Assoziationen, allerdings nur eher selten auf kontrollierten Interventionsstudien. Dennoch sollte dies nicht die Begründung sein, keine politischen Maßnahmen zu ergreifen, sondern die besten Maßnahmen müssen im demokratischen Diskurs errungen werden.


Der Krankheitswert von Übergewicht/Adipositas liegt aber nicht allein in der Fettmenge, sondern wesentlich in der Verteilung von Fett sowie in der Aktivität von Fettzellen und den Verbindungen zu Insulinresistenz, metabolischem Syndrom, Inflammation etc. begründet. Dies spiegelt sich auch in dem kürzlichen Vorschlag wider in Ergänzung zum BMI zwischen präklinischer und klinischer Adipositas zu unterscheiden.8 Die Notwendigkeit, die Fettverteilung auch des Herzens besser zu verstehen, ist ebenfalls im kürzlichen Consensus Statement der ESC formuliert.5 Wer wird wann und wie bei Übergewicht/Adipositas „krank“ ist eine Kernfrage für die Zukunft.


Auf Grund des präventiven und medizinischen Potentials auch neuer Therapiestrategien zur Gewichtsreduktion sollte aus meiner Sicht, last but not least, auch ein Vorschlag an eine neue Bundesregierung sein, wohlüberlegt und medizinisch evidenz-basiert den §34 (Ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel) Abs 2 des SGB V zu modifizieren, der da u. a. heißt „Von der Versorgung sind außerdem Arzneimittel ausgeschlossen […] zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts […]“. Die NCDs werden ein Hauptthema sein für unser Gesundheitssystem und für die Gesundheitsfürsorge unserer Bevölkerung.

Zur Person

Prof. Dirk Müller-Wieland

Prof. Dirk Müller-Wieland ist seit 2016 am Universitätsklinikum Aachen tätig, wo er die Arbeitsgruppe zur kardiometabolischen Prävention und das klinische Studienzentrum leitet. Der wissenschaftliche Fokus des Endokrinologen und Diabetologen liegt in den Bereichen Fettstoffwechsel, Insulinresistenz und kardiovaskulärem Risiko. Prof. Dirk Müller-Wieland engagiert sich zudem in der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und ist dort ehemaliger Präsident (2017–2019).

Referenzen

 

  1. GBD 2021 Europe Life Expectancy Collaborators. Changing life expectancy in European countries 1990-2021: a subanalysis of causes and risk factors from the Global Burden of Disease Study 2021. Lancet Public Health. 2025 Mar;10(3):e172-e188. doi: 10.1016/S2468-2667(25)00009-X. Epub 2025 Feb 18. PMID: 39983748; PMCID: PMC11876102.
  2. https://www.dank-allianz.de/pressemeldung/vor-bundestagswahl-dank-legt-6-punkte-plan-fuer-praeventionswende-vor.html
  3. Baldus S, Lauterbach K. Baldus S, Lauterbach K. Prevention-centered health care in Germany - a nation in need to turn the tide. Eur J Epidemiol. 2023;38(8):835-837.
  4. GBD 2021 Adult BMI Collaborators. Global, regional, and national prevalence of adult overweight and obesity, 1990–2021, with forecasts to 2050: a forecasting study for the Global Burden of Disease Study 2021. Lancet 2025;405:813–38.
  5. Koskinas KC et al. Obesity and cardiovascular disease: an ESC clinical consensus statement. Eur Heart J. 2024;45(38):4063-4098
  6. Chiadi E et al. Cardiovascular-Kidney-Metabolic Health. Circulation 2023;148:1606-35.
  7. Braunwald E. From cardiorenal to cardiovascular-kidney-metabolic syndromes. Eur Heart J. 2025;46(8):682-684.
  8. Rubino F et al. Definition and diagnostic criteria of clinical obesity. Lancet Diabetes Endocrinol 2025; 13: 221-262.

 

UI: Unsicherheitsintervall

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