Der knifflige Fall einer Patientin mit schwergradiger Mitralklappeninsuffizienz

Der DGK-Präsident Prof. Dr. Stephan Baldus (2021 - 2023) stellte auf der 89. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) in der Session Young DGK einen interessanten Fall einer Patientin mit schwerer Mitralklappeninsuffizienz vor. Im Zuge dessen erörterte er das operative Versorgungsspektrum bei strukturellen Herzvitien.

Von Dr. Annabelle Eckert

 

25.04.2023

Schwergradige Mitralklappeninsuffizienz echokardiographisch bestätigt

Eine hochsymptomatische 62-jährige Patientin wurde im Jahr 2018 erstmals vorstellig mit einer schwergradigen Mitralklappeninsuffizienz. In der echokardiographischen Untersuchung zeigte sich ein exzentrischer Jet im linken Vorhof. Dem lag eine restriktive Verdickung des posterioren Mitralsegels zugrunde. Das anteriore Mitralsegel stellte sich als leicht prolabierend dar. Weitere Parameter (ERO Area: 0,64 cm2; Reg.Vol. 79 ml) bestätigten die Diagnose der schwergradigen Mitraklappeninsuffizienz. 1

Mitralklappeninsuffizienz jeglicher Ätiologie reduziert signifikant die Lebenserwartung

Prof. Dr. Stephan Baldus führte dem Auditorium anhand des vorgestellten Falls Folgendes vor Augen: Eine Mitralklappeninsuffizienz ist sowohl bei symptomatischen als auch bei asymptomatischen Patientinnen und Patienten ein bedeutsamer Befund. Dies untermauerte er, indem er der Zuhörerschaft aussagekräftige Studiendaten zur Mitralklappeninsuffizienz vorstellte. Er betonte in seinem Vortrag, dass die Prognose für das 10-Jahresüberleben bei Mitralklappeninsuffizienz unabhängig von der Ätiologie reduziert sei. In den vorgestellten Studiendaten von Dziadzko V. et al. lag die 5-Jahres-Überlebensrate der Patientinnen und Patienten mit Mitralklappeninsuffizienz bei insgesamt 54 ± 2 %. Verglichen mit dem erwarteten Überleben der alters- und geschlechtsgleichen Kontrollgruppe bestand ein deutlich erhöhtes Sterberisiko bei Vorliegen einer Mitralklappeninsuffizienz. 1,2

„Wir wissen, dass Patientinnen und Patienten mit einer strukturellen Mitralklappeninsuffizienz von einer frühzeitigen, idealerweise rekonstruktiven Therapie profitieren.“ 1,3

Prof. Dr. Stephan Baldus

Spätzeitige operative Versorgung bei struktureller Mitralklappeninsuffizienz führt zur Herzinsuffizienz

Baldus stellte der Zuhörerschaft Daten aus dem MIDA-Register vor, um die Folgen einer späten operativen Versorgung bei struktureller Mitralklappeninsuffizienz darzulegen. Hier zeigte sich, dass die langfristigen Überlebensraten bei Patientinnen und Patienten mit frühzeitiger Operation im Gegensatz zu der Gruppe mit spätzeitigem operativem Eingriff deutlich höher waren (86 % vs. 69 % nach 10 Jahren; Hazard Ratio [HR], 0,55 [95% CI, 0,41 –0,72], p < 0,001). Bei frühzeitiger Operation der Mitralklappeninsuffizienz konnte in der Studie eine 5-Jahres-Senkung der Sterblichkeit um 52,6 % beobachtet werden („prospensity-matched“ Kohorte mit 32 Variablen: Hazard Ratio [HR], 0,52 [95 % CI, 0,35–0,79], p < 0,002; inverse Wahrscheinlichkeitsgewichtung: Hazard Ratio [HR], 0,66 [95 % CI, 0,52 –0,83], p < 0,001). Ebenso war das langfristige Herzinsuffizienzrisiko bei frühzeitiger Operation (7 %) gegenüber einer erst spätzeitigen Operation (23 %) deutlich geringer (p < 0,001). 1,3

Frühzeitige Operation bei primärer Mitralklappeninsuffizienz vorteilhaft

Die Studienergebnisse der Forschungsgruppe Enriquez-Sarano M. et al. sprachen ebenso für eine frühzeitige Operation von Patientinnen und Patienten mit primärer Mitralklappeninsuffizienz irrespektiv der Symptomatik.

 

Anhand dieser Publikation konnten Kriterien ausgearbeitet werden, anhand derer eine frühzeitige Operation von Patientinnen und Patienten mit primärer Mitralklappeninsuffizienz indiziert werden konnte. Diese finden bis heute Anwendung in der Kardiologie:

 

  • Zu den Klasse-I-Trigger gehören hiernach Symptome einer Herzinsuffizienz, eine reduzierte systolische Auswurffraktion der linken Herzkammer (EF von < 60 %) und eine Vergrößerung des linken Ventrikels mit einem endsystolischen Durchmesser von ≥ 40 mm.
  • Zu den Klasse-II-Triggern werden das Auftreten von Vorhofflimmern oder einer pulmonalen Hypertonie gezählt.
  • Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Therapieentscheidung ist, ob die betroffenen Patientinnen und Patienten mittels rekonstruktiver Operation versorgt werden können. 1,4

Hochkomplexer Befund bringt Heart-Team ins Grübeln

Im vorliegenden Fallbericht lag bei der Patientin eigentlich eine klare Indikation zur chirurgisch-rekonstruktiven Versorgung der Mitralklappeninsuffizienz vor.  Aus der Vorgeschichte ging jedoch hervor, dass die Patientin bereits dreifach an der Aortenklappe voroperiert worden war: Die Patientin litt an einer Aortenklappenstenose der bikuspiden Aortenklappe.  Im Alter von 33 Jahren erfolgte ein Aortenklappenersatz. Postoperativ war es zu einer Sternuminstabilität gekommen. Dies machte eine Rethorakotomie notwendig. Aufgrund degenerativer Veränderungen musste der Aortenklappenersatz im Alter von 42 Jahren wiederholt werden. Das postoperative Auftreten von Blutungskomplikationen machte auch hier eine erneute Thorakotomie notwendig. Nur wenige Jahre später zeigten sich zum wiederholten Mal degenerative Veränderungen der Aortenklappe, die einen erneuten Ersatz dieser zur Folge hatten. Zusätzlich hierzu trat eine aneurysmatische Erweiterung der aszendierenden Aorta auf, die mittels Xenograft im Alter von 48 Jahren versorgt werden konnte. In den CT-Aufnahmen stellte sich nun die Pathologie einer Porzellanaorta dar. Aufgrund dieses Befundes wurde eine Operation als „high-risk“ bewertet und brachte das Heart-Team zunächst ins Grübeln. 1

Die Degenerationswahrscheinlichkeit von Bioprothesen limitiert den Einsatz bei jungen Patientinnen und Patienten

Baldus eruierte gemeinsam mit der Zuhörerschaft die damalige Therapiewahl der Patientin. Die in diesem jungem Patientenalter unübliche Versorgung mittels Bioprothese war aus folgendem Grund erfolgt:

 

  • Die Patientin litt unter der Angst vor einer Antikoagulationstherapie mit Marcumar.

 

Baldus betrachtete diese frühzeitige operative Versorgung der Patientin mittels Bioprothese äußerst kritisch:

 

  • Bei Patientinnen und Patienten < 60 Jahren besteht eine erhöhte Degenerationswahrscheinlichkeit der Bioprothese. Bei jüngeren Behandelten ist der Einsatz einer Bioprothese nur im Ausnahmefall sinnvoll. 1
  • In den Guidelines der ESC 2021 heißt es hierzu: „Eine biologische Prothese soll implantiert werden, wenn eine suffiziente Antikoagulation nicht möglich oder unwahrscheinlich ist. Weitere Indikationen stellen eine geplante Schwangerschaft sowie auf der anderen Seite des Altersspektrums Patientinnen und Patienten > 65 Jahre (Aortenklappenersatz) oder > 70 Jahre (Mitralklappenersatz) dar.“ 5

Edge-to-Edge-Verfahren als vorerst beste Behandlungsoption

Für das Heart-Team war die konservative Behandlung der jungen Patientin mit hochgradiger Mitralklappeninsuffizienz und Porzellanaorta keine zufriedenstellende Option. Sie entschieden 2018, dass die in diesem Fall beste Therapie eine interventionelle Versorgung mittels Transkatheter-Edge-to-Edge-Repair-Verfahren (TEER, engl. „Transcatheter Edge-to-Edge Repair“) sei. Die Clip-Implantation führte zur Reduktion der Insuffizienz auf rMR 2+ sowie zur Reduktion der Symptomatik von NYHA-Klasse III auf II. Die Patientin wurde zwei Jahre nach dem Eingriff erneut symptomatisch (NYHA-Klasse IV). Sie wies zudem nun eine zusätzliche Progression der Degeneration der Aortenklappe auf. Der mittlere Druckgradient lag bei 32 mmHg und die Öffnungsfläche von 1 cm2 war grenzwertig. Dieser Befund ging mit einer Verschlechterung der linksventrikulären Funktion einher. 1

Von der TAVI über die Pulmonalvenenisolation bis hin zur Tendyne-Prothese

Die Transkatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI) mittels einer 29-mm-Prothese ging mit einer Verbesserung der Symptomatik einher (von NYHA-Klasse IV auf II). Im weiteren Verlauf trat jedoch Vorhofflimmern auf. Es erfolgte eine elektrophysiologische Behandlung mittels Cryo-Pulmonalvenenisolation. In den nachfolgenden Monaten entwickelte die Patientin eine schwergradige Trikuspidalinsuffizienz, weshalb sich das Heart-Team auch in diesem Fall für ein Edge-to-Edge-Verfahren entschied. Durch die Clip-Implantation verbesserte sich zwar die Symptomatik von NYHA-Klasse IV auf II, es verblieb jedoch eine Restinsuffizienz:

 

  • Das Regurgitationsvolumen der Trikuspidalklappe konnte durch den Eingriff immerhin von 103 ml auf 49 ml reduziert werden.

 

In der darauffolgenden Zeit verstärkte sich jedoch der Schweregrad der Mitralklappenundichtigkeit. Die interventionell eigentlich nicht explantierbaren Clips in Mitralklappenposition wurden mittels des ELASTA-Clip-Verfahrens elektrochirurgisch gelöst, wodurch der Einsatz einer Tendyne-Prothese möglich wurde, der eine deutliche Besserung der Symptomatik bewirkte. 1,6

Zum Schluss ein kleiner Ausflug zum ELASTA-Clip-Verfahren

Beim ELASTA-Clip-Verfahren (engl. „Electrosurgical LAceration and STAbilization of a MitraClip“) wird eine aufblasbare Einführschleuse mit großem Durchmesser in die rechte Oberschenkelvene eingeführt. Die transseptale Schleuse wird zur Positionierung von zwei Führungsdrähten verwendet. Diese werden zum Austausch sowie zur Wiedereinführung von zwei transseptalen ablenkbaren Führungsschleusen in den linken Vorhof genutzt. Nach Platzierung der beiden transseptalen, ablenkbaren Führungshülsen wird das vordere Mitralblatt mit einem ELASTA-Clip-Schnittsystem überspannt. Unter Einsatz eines
Ballon-Keil-Endloch-Katheters wird eine schrittweise Eröffnung der doppelgängigen Mitralklappe ermöglicht. Eine Multiloop-Schlinge wird im linken Ventrikel positioniert und zur Aufnahme des Führungsdrahtes angewandt. Dieser ist mit einem isolierenden Mikrokatheter ohne Verriegelungsnabe vorgeladen. Der verankerte Führungsdraht wird externalisiert. Ein kleines Segment wird fokal denudiert und geknickt. Auf diese Weise entsteht eine „flying V“-Konfiguration. Das „flying V“ wird nun neben dem MitraClip auf dem anterioren Mitralblatt positioniert. Hier ist nun ein fokaler elektrischer Kontakt möglich, um den MitraClip elektrochirurgisch durch Rissbildung zu lösen. 6

Fazit für die Praxis

  • Eine Mitralklappeninsuffizienz ist bei jeglicher Ätiologie ein bedeutsamer Befund.
  • Bei Patientinnen und Patienten mit Mitralklappeninsuffizienz zeigt sich eine deutliche Übersterblichkeit im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.
  • Eine frühzeitige Operation der Mitralklappeninsuffizienz geht mit einer Reduktion der Mortalität einher.
  • Bei jüngeren Patientinnen und Patienten besteht eine erhöhte Degenerationswahrscheinlichkeit von Bioprothesen.
  • Eine individualisierte Therapieentscheidung im multidisziplinären Heart-Team wird umso bedeutsamer, je komplexer die Vorgeschichte der Patientin oder des Patienten ist.
  • Neue operative und interventionelle Therapiemethoden ermöglichen die Behandlung verschiedener Patientengruppen.

Referenzen

  1. Baldus Stephan, Prof. Dr. med., Der Patient mit einem schweren Mitralklappenvitium, Sektion Young DGK (S 3) Young Topics – Lernen am Fall und klinisches Update I Interaktive Session mit TED, Vorsitz: H. Billig (Bonn), P. Breitbart (Bad Krozingen), 89. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), 16:00-16:30 Uhr, 13. April 2023.
  2. Dziadzko V. et al. (2019). Causes and mechanisms of isolated mitral regurgitation in the community: clinical context and outcome. Eur Heart J. 2019 Jul 14;40(27):2194-2202.
  3. Suri RM et al. (2013). Association between early surgical intervention vs watchful waiting and outcomes for mitral regurgitation due to flail mitral valve leaflets. JAMA. 2013 Aug 14;310(6):609-16.
  4. Enriquez-Sarano M. et al. (2015). Is there an outcome penalty linked to guideline-based indications for valvular surgery? Early and long-term analysis of patients with organic mitral regurgitation. J Thorac Cardiovasc Surg. 2015 Jul;150(1):50-8.
  5. Zweiker R. (2022). Editorial-Serie: Die neuen Guidelines der ESC 2021 ESC/EACTS Guidelines for the management of valvular heart disease [1]. Journal für Kardiologie – Austrian Journal of Cardiology 2022; 29
    (3-4), 70-75.
  6. Lisko J.C. et al. (2020). Electrosurgical Detachment of MitraClips From the Anterior Mitral Leaflet Prior to Transcatheter Mitral Valve Implantation. JACC Cardiovasc Interv. 2020 Oct 26;13(20):2361-2370.

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