Lauterbach will Paradigmenwechsel in der Prävention

 

Die Bundesregierung reagiert auf die im internationalen Vergleich niedrige Lebenserwartung und die überdurchschnittliche Mortalität, insbesondere bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Daher soll die Neuausrichtung der Prävention neben der Krankenhausreform und der Digitalisierung die dritte große Reformbaustelle im Gesundheitswesen werden. Bis Anfang 2025 wird die bisherige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) dafür zu einem Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) ausgebaut werden und Teilfunktionen des Robert-Koch-Instituts (RKI) übernehmen. Ferner hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) noch für diesen Herbst Eckpunkte für eine Nationale Herz-Kreislauf-Strategie angekündigt.

 

Bildquelle (Bild oben): K-i-T / Shutterstock.com

Von:

Helmut Laschet

Journalist Gesundheitspolitik

 

13.10.2023

Berlin/Düsseldorf. Die Performance des deutschen Gesundheitswesens ist im internationalen Vergleich schlecht. Trotz höchster Pro-Kopf-Ausgaben in der EU von fast 5000 Euro im Jahr – zum Vergleich Spanien: 3300 Euro – erreicht die Lebenserwartung der Deutschen nur 80,8 Jahre. Sie liegt damit nur knapp über dem EU-Durchschnitt von 80,1 Jahren, jedoch deutlich unter den Lebenserwartungen der Französ:innen, Italiener:innen, Spanier:innen und Portugies:innen.  Auch die Verbesserung der Lebenserwartung ist im Vergleich zu anderen hochentwickelten Industrieländern unterdurchschnittlich. Ausgeprägt ist hingegen ein starker soziökonomischer Einfluss auf den Gesundheitsstatus.

Maßgeblich für diese enttäuschenden Daten ist die mangelhafte Krankheitsbekämpfung, insbesondere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neben Fehlsteuerung sowie Unter- und Fehlversorgung in der kurativen Medizin, insbesondere eine mangelhafte Prävention. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach strebt dazu einen Paradigmenwechsel an: die Erweiterung der Verhaltens- durch eine Verhältnisprävention – also nicht nur am individuellen Verhalten anzusetzen, sondern auch verstärkt an den Lebensverhältnissen, z. B. in Schulen, am Arbeitsplatz und in der Wohnumgebung. Zudem plant Lauterbach die Ergänzung der Individualmedizin durch bevölkerungsmedizinische Vorbeugung und einen systematischen Ausbau evidenzbasierter Präventionsinstrumente.

BIPAM: Neues Bundesinstitut für Prävention nicht-übertragbarer Krankheiten

 

Für diese neuen Public-Health-Aufgaben soll nun im Bereich der nicht-infektiösen Krankheiten die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zu einem Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) mit erstem Dienstsitz in Berlin um- und ausgebaut werden. Es tritt gleichberechtigt neben das Robert-Koch-Institut (RKI), das sich zukünftig auf die Erforschung, die Epidemiologie und das Management von Infektionskrankheiten fokussieren wird. In das neue Bundesinstitut sollen alle bisherigen BZgA-Mitarbeitenden übernommen werden; deren Expertise werde dringend benötigt, betonte Lauterbach bei der Vorstellung der Pläne für das Institut am 4. Oktober in Berlin. Aus diesem Grund bleibt der BZgA-Standort Köln erhalten.

Die Errichtungsphase soll Ende 2024 abgeschlossen sein, so dass das BIPAM ab dem 1. Januar 2025 voll arbeitsfähig ist. Über die möglichen zusätzlichen Kosten und die dazu notwendige Finanzierung aus dem Bundeshaushalt wollte Lauterbach keine Angaben machen; dazu fänden derzeit Beratungen statt. Widerstand aus dem von der FDP-geführten Finanzministerium – wie Lauterbach sie bei den Verhandlungen um Bundeszuschüsse für Kranken- und Pflegeversicherung zu spüren bekam – dürfte es eher nicht geben, denn das Projekt eines Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit und damit für Prävention ist vereinbarter Bestandteil des Koalitionsvertrages auf den Lauterbach pochen kann.

Digitalisierung ist eine entscheidende Voraussetzung

 

Zum Errichtungsbeauftragten hat Lauterbach den bisherigen Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, Dr. Johannes Nießen, ernannt. Der 65-jährige Allgemeinmediziner und Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin gilt als anerkannter Experte mit großer Verwaltungserfahrung als Chef des größten deutschen Gesundheitsamtes. Er gehört seit Ende 2021 zum Corona-Expertenrat der Bundesregierung.  Darüber hinaus ist er Vorsitzender des Berufsverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst.

Nießen: „Die Lektion, die die Corona-Pandemie erteilt hat, ist, dass Individualmedizin Hand in Hand mit Bevölkerungsmedizin gehen muss.“ Zentrale Stellschrauben dazu seien die Verankerung von Public-Health-Ansätzen bei den entscheidenden Akteur:innen, insbesondere den Gesundheitsämtern. Als Kernaufgabe des BIPAM sieht er es, diesen Akteur:innen evidenzbasierte Instrumente für Verhältnisprävention und Aufklärung an die Hand zu geben.

In ersten Eckpunkten beschreibt das BMG die Aufgaben des BIPAM so:

 

  • Auswertung und Erhebung von Daten zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, um politische und strategische Entscheidungen vorzubereiten und zielgruppenspezifische Präventionsinstrumente zu evaluieren. Die Digitalisierung, etwa mit Hilfe der elektronischen Patientenakte, die konsequente Nutzung von Daten aus der Versorgung sowie die eigene Erhebung epidemiologischer Daten sollen die Grundlage dafür bilden.
  • Das BIPAM ist zuständig für die Gesundheitskommunikation des Bundes auf Basis valider Daten zu Gesundheitsbedingungen, -zustand und -verhalten der Bevölkerung.
  • Das Institut ist vernetzt sowohl mit den Gesundheitsämtern als auch mit Wissenschaft, klinischer Praxis, Politik und anderen Stakeholdern.
  • Es identifiziert frühzeitig gesundheitliche Bedürfnisse und Bedarfe und ist federführend bei der Erkennung, Verhütung und Bekämpfung nicht-übertragbarer Erkrankungen.
  • Es betreibt eigene epidemiologische Forschung auf dem Gebiet nicht-übertragbarer Erkrankungen, einschließlich Erkennung und Bewertung individueller Risiken.
  • Es unterstützt Studien zur Verbesserung der Primärprävention und arbeitet mit dem Forschungsdatenzentrum bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz für epidemiologische Auswertungen.
  • Das Institut erhält dazu eine eigene Abteilung für Modellierung und soll ein Center of Excellence für Modellieren im Gesundheitswesen werden.

 

Die dazu notwendige Gesetzgebung soll noch Ende dieses Jahres starten. Der Referentenentwurf soll bis zur Jahreswende unter den Bundesministerien abgestimmt werden, so dass Anfang 2024 ein Regierungsentwurf vom Bundeskabinett beschlossen werden kann.

Pläne für eine Nationale Herz-Kreislauf-Strategie

 

Ein weiterer Meilenstein in der Präventionspolitik soll die Entwicklung einer Nationalen Herz-Kreislauf-Strategie der Bundesregierung sein, wie BMG-Abteilungsleiter Thomas Müller Mitte September bei einem Symposion von Novo Nordisk ankündigte. Noch im Lauf des Herbstes will das Ministerium dazu Eckpunkte vorlegen. Die Diagnose des BMG ist wenig schmeichelhaft: Die Verhaltensprävention ist an ihre Grenzen gestoßen, weitere Fortschritte seien nicht zu erwarten; die Qualität der medikamentösen Therapie liege im Vergleich zu anderen hochentwickelten Industriestaaten im unteren Bereich und sei von Unter- und Fehlversorgung charakterisiert. Als Folge unzureichender und inkonsequenter Verhältnisprävention sei Deutschland inzwischen von der WHO gerügt worden. Das, so Müller, erfordere einen dringenden Paradigmenwechsel, der allerdings von erheblichen Widerständen – auch in der Koalition – begleitet sein werde.

DGK ist im Austausch


Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK), Professor Holger Thiele, begrüßte bei der Eröffnungs-Pressekonferenz der Herztage 2023 in Bonn die Pläne des BMG. Die DGK sei in engem Austausch mit Karl Lauterbach, der erkannt habe, welchen hohen Stellenwert die kardiovaskuläre Gesundheit für die Lebensqualität, aber auch für vorzeitige Mortalität habe. Konkret werde mit dem BMG, aber auch mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beispielsweise über die Einführung eines systematischen Herz-Check-ups für Personen über 50 Jahren gesprochen.


Dringenden Handlungsbedarf sieht Thiele, weil Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern einen Rückstand bei nahezu allen Faktoren der Herz-Gesundheit habe: ein hoher Anteil übergewichtiger Menschen, eine überdurchschnittliche Diabetes- und Hypertonie-Prävalenz, eine der höchsten Raucherquoten, aber auch ein schlechter Zielerreichungsgrad bei der Lipidsenkung. Andere Länder, wie z. B. Neuseeland, seien wesentlich weiter.


Im Frühjahr hatte eine von vier Bevölkerungswissenschaftler:innen aus Rostock und Wiesbaden im European Journal of Epidemiology zur Lebenserwartung in sieben führenden Industrieländern Furore gemacht. Danach belegt Deutschland hinter den USA den zweitschlechtesten Platz hinsichtlich der Performance seines Gesundheitssystems. Als Hauptursache identifizierten die Forschenden die anhaltend hohe Morbidität und Mortalität bei kardiovaskulären Erkrankungen. Das Statement des DGK-Präsidenten zur Studie lesen Sie hier.


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