Lebenserwartung der Deutschen – „enttäuschend“ niedrig

Trotz hoher Gesundheitsausgaben haben die Deutschen im Durchschnitt eine teils deutlich geringere Lebenserwartung als Bürgerinnen und Bürger anderer reicher Industrienationen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Abstand sogar noch vergrößert. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) sieht sich angesichts dieses Befundes von Forschenden vom Max-Planck-Institut in Rostock und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden in ihrer Kritik an Versäumnissen in der kardiovaskulären Versorgung bestätigt und verweist auf die geforderten Verbesserungsmaßnahmen des DGK-initiierten Aktionsbündnisses Nationale Herz-Allianz (NHA): stringente Prävention, diagnostische Screenings und ein Bevölkerungstraining für Notfallmaßnahmen. Es brauche einen Masterplan für die kardiovaskuläre Gesundheit.

Von Helmut Laschet

 

12.05.2023

Düsseldorf. „Die enttäuschende deutsche Lebenserwartung“ – so übertiteln vier Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen aus Rostock und Wiesbaden ihre soeben im European Journal of Epidemiology erschienene Studie zur Lebenserwartung in sieben führenden westlichen Industrienationen. Dabei belegt Deutschland hinter den USA den zweitschlechtesten Platz und liegt teils deutlich hinter Japan, Spanien, Frankreich, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich. Der Abstand hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vergrößert, obwohl Deutschland die dritthöchsten und auch dynamisch wachsende Gesundheitsausgaben hat. 

 

Ein zentraler Befund der Studie ist: Hohe Gesundheitsausgaben führen – zumindest in hoch entwickelten Industrienationen – nicht zu einer höheren Lebenserwartung. Extremes Beispiel sind die USA, deren Bürgerinnen und Bürger trotz höchster und weiter steigender Ausgaben für Gesundheit mit 79 Jahren die niedrigste und überdies eine stagnierende Lebenserwartung haben. Am effektivsten unter dem Gesichtspunkt eines langen Lebens arbeitet das spanische Gesundheitssystem mit Pro-Kopf-Ausgaben von rund 3500 Dollar und einer Lebenserwartung von über 83 Jahren. Die Deutschen wenden pro Kopf rund 6000 Dollar auf, sterben im Schnitt aber zwei Jahre früher.  

 

Steigende Gesundheitsausgaben haben auch nicht dazu geführt, dass Deutschland seinen Abstand zu den fünf anderen Nationen mit einem längeren Leben ihrer Bevölkerung verringert hat. Minimal aufgeholt haben lediglich die deutschen Männer in den Nuller-Jahren, in den Jahren von 2010 bis 2016 hat sich der Abstand zu den zwei vorangegangenen Jahrzehnten sowohl bei Männern als auch bei Frauen vergrößert – Deutschland fällt also im internationalen Vergleich immer weiter zurück.

Hauptursache: Kardiovaskuläre Erkrankungen

Die Bevölkerungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen haben sich auch die Ursachen angesehen, und hier ist der Befund eindeutig: Im Vergleich zu anderen Ländern ist die schlechte deutsche Performance bei der Prävention und Behandlung chronischer und altersbedingter Erkrankungen unterdurchschnittlich. Unter den krankheitsspezifischen Ursachen haben kardiovaskuläre Krankheiten einen dominanten Anteil – und es zeichnet sich in den untersuchten zweieinhalb Jahrzehnten keine Verbesserung ab. Seit 2010 sterben deutsche Frauen fast viereinhalb Jahre früher als Japanerinnen, etwa zwei Drittel davon infolge von kardiovaskulären Erkrankungen. 

 

Weckruf für die Gesundheitspolitik

Die Ergebnisse der Studie könnten ein Weckruf für die Gesundheitspolitik sein, die Performance von Prävention, Diagnostik und Behandlung konsequent und stringent zu verbessern. Daher begrüßt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Professor Dr. Holger Thiele (Leipzig) die Publikation. In einem Statement der DGK erklärt er: „Wir Fachgesellschaften beklagen seit Jahren die Missstände in der Gesundheitspolitik, die Unterfinanzierung des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislaufforschung sowie die Defizite hinsichtlich der Aufklärung der Gesellschaft bei Präventions- und Notfallmaßnahmen, früher Selbstdiagnostik und der Wahrnehmung gesundheitsfördernder Angebote.“ 

 

Thiele weist auf die von der DGK initiierte Nationale Herz-Allianz hin, die sich zum Ziel gesetzt hat, Konzepte zur Forschungsförderung, zur Verbesserung der Digitalisierung im Gesundheitswesen, zur Prävention und zur Verzahnung zwischen Kliniken und ambulanter Medizin zu entwickeln.

Defizite in der Prävention und Früherkennung

Thiele konkretisiert den Verbesserungsbedarf anhand schwerwiegender Versäumnisse in der Prävention und Früherkennung:

 

  • Weniger als 20 Prozent der Hochrisiko-Patienten und -Patientinnen für Atherosklerose erreichen die erwünschten Zielwerte beim LDL-Cholesterin. Anders als in anderen Ländern gibt es kein frühkindliches Screening auf Hypercholesterinämie; nur fünf Prozent dieser relativ häufigen Erbkrankheit werden erkannt – Betroffene erleiden häufig schon in jungen Jahren unverschuldet einen Herzinfarkt. Notwendig wäre ein kostengünstiger Bluttest im Rahmen der U9- bis J1-Untersuchungen.
  • Obwohl bekannt ist, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit einem sechsfach erhöhten Risiko für einen Herzinfarkt bei einer Influenza-Infektion verbunden sind, wird die Grippeschutzimpfung bei dieser Hochrisiko-Gruppe unzureichend genutzt.
  • Anders als Screenings auf Brust-, Prostata- und Darmkrebs sind Screenings auf arterielle Hypertonie oder Hypercholesterinämie nicht etabliert. Sie repräsentieren aber nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes ein Drittel aller Todesursachen. Thiele fügt hinzu, dass überdies die Number-needed-to-screen für arterielle Hypertonie und Hypercholesterinämie um ein Vielfaches geringer ist, als die Zahl der Untersuchungen im Rahmen der etablierten Krebsfrüherkennung. Notwendig sei daher die Aufnahme eines regelmäßigen Herz-Check-ups ab dem 50. Lebensjahr in die medizinische Grundversorgung.
  • Notwendig sei überdies ein Screening auf Herzinsuffizienz. In Deutschland haben ca. 4 Millionen Einwohner:innen eine Herzinsuffizienz, die damit zu den Volkskrankheiten gehört. Basierend auf anderen Studien kann man davon ausgehen, dass für jeden erkannten Patienten mit Herzinsuffizienz mindestens genauso viele Patient:innen unerkannt bleiben. Eine frühe Behandlung führe nicht nur zu einem längeren Leben, sondern auch zu besserer Lebensqualität, so Thiele.

Unkenntnis und Unsicherheit: Handeln im Notfall

Deutlich verbessert werden könnte die Notfallversorgung, wenn in der Bevölkerung bessere Kenntnisse und eine höhere Bereitschaft zur Herz-Lungen-Reanimation vorhanden wären. Dies könnte, so Thiele, durch einen verpflichtenden Unterricht in Schulen perspektivisch wie in anderen Ländern schon geschehen verbessert werden. Ferner müssten Rettungsleitstellen die in Leitlinien empfohlene telefonische Anleitung von Laien zur Reanimation konsequenter praktizieren. Eine weitere Option sei die Nutzung von Apps zur Alarmierung von Ersthelferinnen und Ersthelfern, die sich in der Nähe des Notfallortes befinden.   

 

Diese Verbesserungsoptionen seien keinesfalls neu oder gar utopisch, sondern in anderen Ländern gelebte Praxis. Deutschland brauche deshalb einen Masterplan für kardiovaskuläre Gesundheit Gesundheit, so Thiele. 

 

 

 

Hier geht es zum Statement des DGK-Präsidenten Prof. Dr. Holger Thiele: Lebenserwartung: Deutschland in Westeuropa unter den Schlusslichtern

 


Literatur

  • Jasilionis D, van Raalte AA, Klüsener S, Grigoriev P. The underwhelming German life expectancy. European Journal of Epidemiology, 15. März 2023.
  • Thiele, H. Lebenserwartung: Deutschland in Westeuropa unter den Schlusslichtern. Statement des DGK-Präsidenten Prof. Dr. Holger Thiele. 12. Mai 2023
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