Bruno Kisch und die Stolpersteine

 

Vor etwas mehr als 97 Jahren gründete Prof. Bruno Kisch mit anderen Mitstreitenden die erste kardiologische Gesellschaft in Europa:  die Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung, aus der schließlich die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK) werden sollte. Mit den bekannten "Stolpersteinen" zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus erinnert der Künstler Gunter Demnig auch an das Schicksal des Kardiologen und seiner Familie.

Von:

Prof. Jochen D. Schipke

Historisches Archiv der DGK

 

12.07.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Janaka Dharmasena / Shutterstock.com

Prof. Dr. Bruno Zacharias Kisch wurde am 28. August 1890 in Prag geboren, starb am 12. August 1966 in Bad Nauheim und wurde in Jerusalem beerdigt. Prof. Kisch war Direktor der Abteilung für Physiologie, Biochemie und Pathophysiologie an der Universität zu Köln (1925). Er war Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung am 3. Juni 1927 in Bad Nauheim. Später wurde er gezwungen, seine akademischen Ämter aufzugeben, da er von der Nazi-Regierung als "Nicht-Arier" angesehen wurde. Er wandte sich der medizinischen Praxis zu, behandelte kardiovaskuläre Erkrankungen und emigrierte 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika.


Seine speziellen Interessen galten den Arrhythmien des Herzens und dem Kalzium-Stoffwechsel. Er war „ein Mann unbegrenzter Neugier“ und der Erfinder jenes elektrophysiologischen Phänomens, das unter der Bezeichnung "overdrive suppression" in die Literatur eingegangen ist. Prof. Kisch publizierte viele wegweisende Artikel und Bücher über die Funktionsstörungen des Herzrhythmus. Er war Co-Autor zahlreicher Beiträge von Prof. Franz M. Groedel, ebenfalls ein deutscher Emigrant und der Gründer des American College of Cardiology (ACC). Prof. Kisch war von 1951 bis 1953 Präsident des ACC.1

Prof. Bruno Kisch

Prof. Dr. Bruno Zacharias Kisch (* 28. August 1890 in Prag; † 12. August 1966 in Bad Nauheim) war experimenteller Kardiologe und Physiologe sowie Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung.

1966, im Jahre seines Todes, erschien Bruno Kischs Buch mit dem Titel: "Wanderungen und Wandlungen: Die Geschichte eines Arztes im 20. Jahrhundert".2


In einer Buchbeschreibung berichtet Erwin H. Ackerknecht das Folgende: Bruno Kisch hat einige wertvolle Beiträge zur Medizingeschichte geleistet. Das Buch konzentriert sich allerdings verstärkt auf Kischs Jugend in Prag, seine Erlebnisse als österreichischer Offizier im 1. Weltkrieg, seine frühen Mannesjahre in Köln – wo er 1925 mit 34 Jahren Ordinarius für Physiologie wurde – und die Jahre in den USA nach seiner Flucht im Jahre 1938.

Liste der Anmeldungen zur Mitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung Liste der Anmeldungen zur Mitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung in Bad Nauheim im Jahre 1927. In der untersten Zeile trug sich Prof. Bruno Kisch (Köln) ein.

Aus all diesen Jahren hat Kisch viel Interessantes und Wichtiges zu berichten. Er war ein hervorragender Physiologe, ein herrlicher Arzt, ein fähiger Organisator, ein begeisternder Redner, ein sehr frommer Jude, ein großer und scharfsinniger Gelehrter, ein etwas schrulliger Politiker, ein fanatischer Sammler und vieles andere mehr. Vor allem aber war er ein Weiser und ein ungemein liebenswürdiger, guter, anständiger und interessierter Mensch, dem seine Freunde stets nachtrauern werden. Ein Abglanz seiner Charakterzüge spiegelt sich in diesem Buch wider.3


Große Qualitäten eines fähigen Organisators bewies Kisch nicht nur als Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung im Jahre 1927, sondern auch mit der Planung und Durchführung des 1. Kongresses der Gesellschaft in Köln im Jahre 1928.

Erste Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung

Gunter Demnig

 

Demnig wurde 1947 in Westberlin geboren. In Kassel studierte er Freie Kunst und Kunstpädagogik. Anfang der 1980er Jahre schuf Demnig mehrfach rote Farbspuren über Ländergrenzen hinweg. So rollte er z. B. einen roten Faden zwischen Kassel (Documenta) und Venedig (Biennale) aus, um gegen den Massenrummel im Kunstbetrieb zu protestieren.


Die Idee zu den Stolpersteinen kam Demnig bei einer weiteren Spurenaktion. Im Frühjahr 1990 markierte er in Köln den Weg, auf dem die Nazis einst 1000 Roma und Sinti zum Abtransport in die Vernichtungslager getrieben hatten. "Spur der Erinnerungen" nannte er sein Projekt. Damals behauptete eine Frau ihm gegenüber "Zigeuner" hätten dort nie gelebt. Gunter Demnig: "Mir ist damals das Kinn heruntergefallen und mir wurde klar: Ich muss weitermachen."


Und er machte mit einer nicht ganz legalen Aktion gegen das Vergessen weiter und verlegte vor dem Kölner Rathaus den ersten Stolperstein. Auf diesem waren Passagen aus Himmlers Erlass eingemeißelt, welcher besagte, dass alle Sinti und Roma zu deportieren seien.


Der Bildhauer und Künstler Gunter Demnig hat eine Mission. Überall dort, wo die Nationalsozialisten gewütet haben, will er an ihre Verbrechen erinnern. Und er möchte den Opfern des Holocaust ihre Namen und ihre Würde zurückgeben, denn Altes Testament und Talmud sagen: "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist." 4


Für sein unermüdliches Engagement bekam der Künstler zahlreiche Auszeichnungen: 2005 das Bundesverdienstkreuz und 2012 den Marion Dönhoff Förderpreis für internationale Verständigung und Versöhnung. Im gleichen Jahr erhielt der Künstler den Erich-Kästner-Preis: "Die Stolpersteine sind das Gegenteil von Verdrängung", würdigte der frühere israelische Botschafter Avi Primor damals Demnigs Werk. "Sie liegen zu unseren Füßen, vor unseren Augen, und zwingen uns zum Hinschauen." Durch Projekte wie die Stolpersteine wurde ein “Dialog zwischen den Menschen in Deutschland und Israel“ möglich. Für sein in ganz Europa verteiltes, einmaliges Stolperstein-Denkmal wurde Demnig 2014 auch mit dem Eugen-Kogon-Preis ausgezeichnet. Wer sich für die weiteren, mehr als 20 Ehrungen interessiert, sei auf das Internet verwiesen.5

Gunter Demnig

Gunter Demnig ist ein deutscher Künstler. Bekannt wurde er durch die Stolpersteine, die er seit 1996 zur Erinnerung an Opfer in der Zeit des Nationalsozialismus verlegt. 2019 erhielt er den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.

Stolpersteine

 

Die würfelförmigen Steine haben eine Kantenlänge von 10 cm und sind oben mit einer Messingplatte bedeckt, in welche die Beschriftung manuell eingeschlagen wird. Demnig: "Es sollen keine Klingelschilder werden." Die Steine werden seit den 1990er Jahren in die Gehwege vor den letzten frei gewählten Wohnorten eingelassen, um auf das Schicksal der früheren Bewohner aufmerksam zu machen: Hier wohnte … Hier lebte … Hier praktizierte …

Stolpersteine

Zunächst wurden Steine in Köln und Berlin verlegt. In den 1990er Jahren war das aber mit den Behörden immer wieder einmal schwierig. Wenn heute die Kommune zustimmt, dann darf verlegt werden und zwar in Polen, Österreich, Holland, Frankreich, der Ukraine, in Ungarn, in Italien und einem halben Dutzend anderer europäischen Staaten, in denen die Nazis Menschen deportierten und ermordeten. Sie erinnern vor allem an jüdische Opfer, aber auch an Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und politisch Verfolgte. Und so hat sich Demnigs Projekt längst zur weltweit größten dezentralen Gedenkstätte entwickelt.


Bis heute hat Gunter Demnig fast alle der 95.000 Messingsteine in 1.800 Städten in 31 Ländern Europas selbst im Boden verlegt. Für Demnig ist es eine Herzensangelegenheit, die Verbrechen der Nazis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Informationen über die Opfer, deren Namen er verewigt, liefert das Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden.6 Überdies wird sein Projekt von einem Netzwerk von Freiwilligen unterstützt, das Paten für die Steine einwirbt und die Genehmigungen der Kommunen einholt.


Im Mai 2023 verlegte Demnig in Nürnberg den 100.000sten Stolperstein. Wenn es eines Tages körperlich mit dem Steineverlegen nicht mehr so klappen sollte, hat der heute 76-Jährige vorgesorgt: Eine bereits existierende Stiftung soll seine Mission fortführen.


Die Erinnerungskultur soll in Zukunft auch digital werden. In einer Stolperstein-App soll dann auch die Lebensgeschichte hinter den Steinen erfasst werden. Bereits 20.000 Stolpersteine wurden in der weitgehend barrierefreien App eingespeist, weitere sollen schon bald folgen.7

Bruno Kisch und die Stolpersteine

 

Am 5. Oktober 2020 wurden durch den Künstler Gunter Demnig vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Kisch in der Kölner Neustadt-Süd (Kaesenstr. 19) zur Erinnerung an Bruno Kisch, seine Schwiegermutter Karoline Cohn, seine Frau Ruth und seine drei Kinder sechs Stolpersteine verlegt.

Stolpersteine - Familie Kisch

Entsprechend den Inschriften wurde Kischs Schwiegermutter 1942 in Treblinka ermordet. Das Ehepaar Kisch war mit seinen drei Kindern bereits 1938 in die USA geflohen.


Im Andenken an den Hochschullehrer Prof. Dr. Bruno Kisch wurde im Jahre 2021 auch vor der Universität zu Köln einer von 2.688 Kölner Stolpersteinen verlegt. Kisch war im Jahre 1935 die Lehrerlaubnis entzogen worden.

Stolperstein an der Lehrstätte von Bruno Kisch Der Stolperstein für Dr. Bruno Kisch beginnt mit: Hier lehrte … Der Stolperstein befindet sich auf dem Albertus-Magnus-Platz 1, 50931 Köln.

Angaben zu Dr. Kisch und seiner Familie wurden vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln zur Verfügung gestellt.

Kontroverse

 

Nicht alle finden Gunter Demnigs Arbeit gut. Immer wieder werden Stolpersteine mit Teer beschmiert oder aus dem Pflaster gerissen. Die beschmierten Steine werden gesäubert. Dadurch wird die Schrift sogar besser leserlich. Und die gestohlenen Steine werden nachgemacht.


Prominente Gegnerin auf einer ganz anderen Ebene ist Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrates der Juden. Sie und andere Überlebende des Holocausts werfen Demnig vor, dass mit den Stolpersteinen das Andenken der Menschen sprichwörtlich mit Füßen getreten werde. Und so dürfen z. B. in München auf öffentlichen Wegen keine Stolpersteine verlegt werden. Der Rabbi von Köln indes kommentiert diesen Beschluss des Münchener Stadtrates: "Es sind Gedenksteine im Boden. Keine Gräber, über die wir im Petersdom laufen."


Statt mit Stolpersteinen will München mit Stelen und Gedenktafeln an Hauswänden an die Ermordeten und Verfolgten der Nazi-Zeit erinnern. Außerdem soll ein zentrales Namensdenkmal auf die Schicksale der NS-Opfer aufmerksam machen. Zu dieser Art der Erinnerungskultur sagt Demnig: Die Steine begegnen uns jederzeit und überall und nicht nur an einer zentralen Gedenkstätte, an welcher einmal im Jahr Blumen niedergelegt werden. Man stolpert nicht über die zahlreichen, dezentralen Steine. Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen. Und: Liest man den Text, muss man sich zwangsläufig verbeugen.


Innerhalb der Kontroverse gibt es zahlreiche Familien von Verfolgten der Nationalsozialisten und Vereinigungen von NS-Opfergruppen, die sich vehement für die Anbringung von Stolpersteinen einsetzen. Ein eindrucksvolles Ergebnis sind die nahezu 10.000 Steine in Berlin. Allein im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf liegen davon 3.654 Exemplare, und das Interesse hält an: Wegen der Wartezeit von 3 bis 4 Jahren können keine neuen Anträge für Stolpersteine angenommen werden.


Ein eindrucksvolles Zeugnis für die nachhaltige Aktualität der Stolpersteine findet sich ebenfalls in Berlin: Jedes Jahr zum 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, reinigen Schüler verschiedener Schulen die Charlottenburger Stolpersteine. Die später entzündeten Kerzen auf den Steinen bilden dann auf dem Kurfürsten-Damm eine nahezu durchgehende Lichterkette.


Über zwei bewegende Beispiele der Zustimmung zu seinem Projekt berichtet Gunter Demnig: Nach der Verlegung von Stolpersteinen in Norwegen wurde ich von einem Passanten mit den folgenden Worten angesprochen: "Wie schön, dass es einen deutschen Künstler gibt, der hier Stolpersteine verlegt. Auch dann, wenn das erst nach 70 Jahren passiert."


Und nach der Verlegung von Stolpersteinen sagte ein älterer Teilnehmer: "Ich kam 1939 mit einem der Kindertransporte nach Großbritannien. Das war für mich ein Abenteuer. Ich hatte aber nicht verstanden, warum meine Eltern damals auf dem Bahnhof so heftig weinten. Ab jetzt kann ich endlich wieder auch nach Deutschland reisen."


Es sieht ganz so aus, als ob sich die Kontroverse deutlich in Richtung Akzeptanz von Gunter Demnigs weltweit größter dezentralen Gedenkstätte entwickelt hat.

Schlusswort

 

Wie wäre es, wenn sich im nächsten Jahr, zum 98. Jahrestag der Gründung der heutigen Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ‒ Herz- und Kreislaufforschung (DGK), der Rektor der Universität zu Köln, der Präsident und der Geschäftsführer der DGK, der Rabbi von Köln und der Künstler Demnig am 3. Juni 2025 auf dem Albertus-Magnus-Platz zu einer Gedenkveranstaltung träfen? Spätestens aber zum 100. Geburtstag der DGK im Jahre 2027!


Referenzen

 

  1. https://historischesarchiv.dgk.org/die-gruendungsvaeter-dergesellschaft/bruno-kisch/. Zugriff am: 12.07.2024.
  2. Bruno Kisch: Wanderungen und Wandlungen: Geschichte eines Arztes im 20.  Jahrhundert. Greven-Verlag, Köln, 1966.
  3. Erwin H Ackerknecht: https://brill.com/view/journals/ges/24/3-4/articlep157_7.xml?language=en. Zugriff am: 25.12.2022
  4. https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-morgenecho-interview/audio- -jahre-stolpersteine-namen-zurueckbringen-100.html. Zugriff am: 22.12.2022
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Gunter_Demnig. Zugriff am: 12.07.2024
  6. http://www.igdj-home.html. Zugriff am: 17.12.2022
  7. https://stolpersteine-guide.de. Zugriff am: 12.07.2024

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