Zeitzeugen-Interview: Prof. Angelo Auricchio

 

Mit Zeitzeugen-Interviews möchte das Historische Archiv der DGK unter Leitung von Dr. Fokko de Haan, spannende historische Entwicklungen aufzeigen und die Lebenswege bedeutender Persönlichkeiten der Kardiologie nachzeichnen. Der Blick in die Vergangenheit hilft, den heutigen Stand und zukünftige Entwicklungen in der Welt der Kardiologie besser zu verstehen.


Im Juli 2020 sprach Dr. Foko de Haan mit Prof. Angelo Auricchio.

Von:

Dr. Fokko de Haan

Historisches Archiv der DGK

 

26.02.2025

 

Bildquelle (Bild oben): kanetmark / Shutterstock.com

de Haan: Im Jahr 1960 wurden Sie in Terzigno, Italien, geboren. Wie wuchsen Sie dort auf?

Auricchio: Terzigno ist eine kleine Stadt von etwa 15.000 Einwohnern in der Nähe von Neapel am Fuße des Vesuvs. Der Ort ist bekannt als Weinanbaugebiet. Mein Vater war dort als Landarzt tätig, nebenbei aber auch in einem kleinen Krankenhaus der Region beschäftigt. Meine Mutter half ihm in der Praxis. Ich habe noch einen jüngeren Bruder, der eine kardiologische Praxis in Neapel betreibt.

de Haan: Jetzt (zum Zeitpunkt des Interviews, Anm. d. Red.) sind Sie Direktor der Elektrophysiologischen Abteilung in Cardiocentro Ticino (Schweiz) am Luganer See. Wie sieht Ihr Familienumfeld heute aus?

Auricchio: Meine Ehefrau lernte ich in Hannover kennen, wo ich vier Jahre an der Medizinischen Hochschule tätig war. Meine Frau ist Kinderärztin. Wir haben drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Die Älteste studiert Jura, während die jüngere Tochter noch zur Schule geht. Unser Sohn macht in diesem Jahr sein Abitur und möchte dann gerne Medizin studieren.

 

 

Zur Person

Prof. Angelo Auricchio

Prof. Angelo Auricchio blickt auf eine langjährige Karriere in der Kardiologie und Elektrophysiologie zurück. So war er u. a. als Präsident der EHRA tätig und als Editor-in-Chief für das EP Europace Journal. Heute arbeitet er als Chief Medical Officer für einen großen Medizintechnikhersteller.

Prof. Angelo Auricchio

 

 

Der Weg in die Kardiologie

 

de Haan: Nach dem Medizinstudium in Neapel begannen Sie Ihre kardiologische Ausbildung dort 1985. Wieso wählten Sie die Kardiologie?

Auricchio: Nach dem Abitur habe ich zunächst ein Jahre lang Ingenieurwissenschaften studiert, da ich schon immer von technischen Methoden fasziniert war. Auf die Dauer war mir dies aber zu trocken, und wahrscheinlich beeinflusst durch die Tätigkeit meines Vaters wechselte ich in die Medizin.


Hier faszinierte mich neben den technischen Spezialdisziplinen besonders die Physiologie und die Umsetzung des Wissens an den Betroffenen. Das alles fand ich besonders in der Kardiologie wieder.


de Haan: 1988 wechselten Sie von Neapel an die Medizinische Hochschule in Hannover.

Auricchio: 1987 besuchte ich einen Elektrophysiologischen Kongress und lernte dort Professor Helmut Klein kennen. Uns verband rasch eine besondere Zuneigung, die sich später zu einer Freundschaft entwickelte.


Für ein Forschungsprojekt hatte ich für 12 Monate ein DAAD-Stipendium bekommen, das ich in Hannover durchführte. Aus den 12 Monaten wurden dann fast vier Jahre. Während meiner Zeit in Hannover, habe ich die hämodynamischen Effekte von verschiedenen Herzrhythmusstörungen erforscht, insbesondere die hämodynamischen Effekte bei Katheterablationen mit intrakardialer DC-Shock-Applikation. Meine Forschungsergebnisse wurde 1991 durch den „Young Investigator Award“ von NASPE – North American Society of Pacing and Electrophysiology (heute Heart Rythm Society) ausgezeichnet.


Ich wollte von Hannover aus zurück nach Italien und erhielt für drei Jahre eine Anstellung in der Kardiochirurgie in Rom. Dort habe ich an den hämodynamischen Effekten der Verkürzung des AV-Intervalls (die Idee war von Margret Hochleitner, einer österreichischen Kollegin, ursprünglich entwickelt für Personen mit schwerer Herzinsuffizienz) und links-ventrikulärer Stimulation bei fortgeschrittenen Herzinsuffizienzpatienten und -patientinnen geforscht.

 

 

Der Ansatz der biventrikulären Stimulation


de Haan: Wie kam die Idee auf, dass biventrikuläre Stimulation bei Linksherzinsuffizienz helfen könnte?


Auricchio: 1992 besuchte mich Morton Mower aus dem John-Hopkins-Hospital in Baltimore in Rom und berichtete von seinen positiven Ergebnissen mit der biventrikulären Stimulation in Tierversuchen. Bei den ersten etwa zehn schwer herzinsuffizienten Personen (Herztransplantationskandidatinnen und -kandidaten) haben wir das Verfahren zusammen ausprobiert und staunten über die positiven Erfolge. Parallel dazu, konnten Morton Mower und Patricia Bakker aus der Klinik von Richard Hauer in Utrecht diese positiven Befunde bestätigen. Die Ergebnisse der Studien bewegte die Firma CPI (später Guidant) dazu, uns in den folgenden Jahren sehr zu unterstützen. So erhielt ich von der damaligen Firma CPI den Auftrag zur Weiterentwicklung des biventrikulären Schrittmachersystems, und es wurde ein internationales Advisory-Board mit namhaften Experten, u. a. H. Klein, M. Schlepper, G. Breithardt, R. Hauer und J. Camm, gebildet.

de Haan: Die PATH-CHF-Studie – 2002 im JACC veröffentlicht – war eine der sogenannten Meilenstein-Studien für die CRT-Therapie. Entscheidend dafür ist u. a. das Vorhandensein eines Linksschenkelblocks mit einer QRS-Dauer von mehr als 130 ms. Aber eine große Zahl von fast 30 % der Patientinnen und Patienten profitieren nicht davon. Worauf beruht das?

Auricchio: Häufig wird vergessen, dass die Fortschreitung der Grunderkrankung eine wichtige Rolle spielen kann, welche durch die CRT-Therapie nicht unbedingt heilbar ist. Andererseits und in Analogie zu einer onkologischen Therapie, muss die Stabilisierung des Zustandes der Patientinnen und  Patienten durch CRT als Teilerfolg gesehen werden. Deswegen glaube ich, dass die CRT-Therapie einen größeren Erfolg im Alltag hat als 30 %. Sicher ist, dass wir 25 Jahre nach der klinischen Einführung der CRT-Therapie noch ein sehr ungenaues Verständnis der molekularen und zellulären Mechanismen der Verbesserung der myokardialen Funktion durch CRT haben.

de Haan: Neuerdings gibt es die Möglichkeit der HIS-Bündel-Stimulation oder der medialen oder distalen Septumstimulation bei Linksschenkelblock. Versprechen Sie sich hiervon Vorteile?

Auricchio: Es kann bei der klassischen CRT-Stimulation anatomische Probleme geben. Dann hat die His-Bündel-Stimulation und die Stimulation des Linksschenkels natürlich Vorrang. Die His-Bündel- und die Linksschenkel-Stimulation sind zwei hervorragende Stimulationsarten, aber wie viele Betroffene tatsächlich und langfristig profitieren können, ist noch unklar. Es ist heute bereits bekannt, dass bis zu 15 % aller Patientinnen und Patienten mit Linksschenkelblock keine Änderung des QRS-Komplexes durch His-Bündel-Stimulation zeigen.

 

 

Rückkehr nach Deutschland


de Haan: 1994 kehrten Sie dann zurück nach Deutschland und arbeiteten zusammen mit Helmut Klein in Magdeburg, der dort das Ordinariat für Kardiologie erhalten hatte.

Auricchio: Der Grund für meine Rückkehr nach Deutschland war, dass zu dem damaligen Zeitpunkt die Anstellungsmöglichkeiten in Italien als Kardiologe sehr schlecht waren. Außerdem war ich mit Helmut Klein immer freundschaftlich in Verbindung geblieben. Ich wechselte daher nach Magdeburg, wo ich bis 2005 blieb.


Die privaten Wohnverhältnisse in Magdeburg waren anfangs sehr abenteuerlich; in der Folgezeit hat sich Magdeburg aber in eine schöne und sehr interessante Stadt entwickelt.

de Haan: Zurückblickend waren die Jahre in Magdeburg (fast 10 Jahre) für Sie sehr erfolgreich.

Auricchio: Ja, an Magdeburg habe ich in der Aufbauphase der Kardiologie, zusammen mit Helmut Klein beste Erinnerungen. Es war eine tolle Zeit! Wir hatten die besten Forschungsmöglichkeiten, sowie klinische und experimentelle Untersuchungsbedingungen, insbesondere durch die uneingeschränkte und kontinuierliche Unterstützung von Helmut Klein, sowie die Zusammenarbeit mit exzellenten Kollegen wie PD Dr. Hartung, Prof. Welte und Prof. Geller aber auch durch die Unterstützung der Verwaltungsdirektion. Eine wichtige Rolle spielte der sehr fruchtbare und intensive Austausch mit Prof. Huth, Direktor der Kardiochirurgie, und seiner Frau, Dr. Friedel. Beide, Prof. Huth und Frau Dr. Friedel haben stundenlang geduldig im Operationssaal gestanden, um mir zahlreichen Messungen an Patientinnen und Patienten zu ermöglichen. Nicht zu vergessen ist auch der Enthusiasmus der technischen Mitarbeitenden und des Pflegepersonals. Eine wichtige Rolle spielten sicherlich auch die reichlichen finanziellen Mittel, die durch den Ostaufbau vorhanden waren.


Auch die Industrie (Guidant) hat uns sehr unterstützt. So konnte ich auch erstmals eine Stimulationssonde nach Art eines Over-The-Wire-Balloonkatheters entwickeln. Damit konnte die Stimulationssonde im Koronarsinus uneingeschränkt gesteuert werden, um die unterschiedlichen Varianten der Koronarvenenanatomie zu überwinden. Die Firma Guidant hat dies dankbar übernommen.
Wie gesagt, hatten wir ausgezeichnete Verhältnisse, um die Idee der CRT-Stimulation weiter auszubauen und reifen zu lassen.

 

 

Stellenwert der Ablation

 

de Haan: Personen mit Vorhofflimmern stellen heute einen Großteil des elektrophysiologischen Krankenguts dar. Aufdecken der Rhythmusstörung, diagnostisches und therapeutisches Vorgehen sowie Nachsorge sind die Herausforderungen für die Kardiologinnen und Kardiologen. Der Erfolg der Ablation ist unterschiedlich. Gibt es nach Ihrer Ansicht heute noch einen Platz für eine antiarrhythmische Behandlung?

Auricchio: Die Katheter-Intervention bei Vorhofflimmern hat heute eindeutig den höchsten Stellenwert in der Behandlung eingenommen. Allerdings sind die Erfolgsraten, auch trotz verschiedener Ablationstechniken, nur mäßig befriedigend. Das hängt v. a. mit dem Myokardsubstrat des Vorhofs und dessen Remodelling-Prozess zusammen, der nur teilweise durch die Katheter-Intervention beeinflusst werden kann.

 

Ich denke, dass eine Kombination aus Katheter-Intervention und antiarrhythmischer Therapie für die Betroffenen eine gute Lösung ist. Ich selber verschreibe die „alten“ Antiarrhythmika wie Propafenon oder Flecainid allein oder in Kombination mit Betablockern vor und nach Ablation.

de Haan: Da der Erfolg nach Katheter-Intervention bei Vorhofflimmer-Patienten und -Patientinnen schlecht vorhergesagt werden kann: Brauchen wir bessere Nachweismethoden? Wie ist es bei Personen mit asymptomatischem Vorhofflimmern? Sind Wearables eine Lösung?

Auricchio: Ja, diese Wearables sind eine großartige Möglichkeit. Es ist erstaunlich, wie hoch die Erfolgsrate der Detektion von Vorhofflimmern ist. Heutzutage tragen viele meiner Arrhythmiepatienten und -patientinnen bereits eine Smartwatch oder benutzen Smartphone-Applikationen, um die Detektion ihrer Herzrhythmusstörungen zu erfassen. In meinem klinischen Alltag, empfehle ich die Nutzung der Smartwatches, insbesondere nach einer erfolgreichen Katheterablation. Andererseits ist der Großteil der Vorhofflimmer-Patientinnen und -Patienten wenig symptomatisch oder komplett asymptomatisch. Für diese Personen brauchen wir weitere technologische Entwicklungen und großangelegte Studien, die die Nutzung der Technologien für eine verbesserte Patientenstratifizierung und Patientenbehandlung erfassen.

 

 

Potenzial durch KI und Leadless Pacing

 

de Haan: Es ist viel die Rede von Künstlicher Intelligenz. So soll aus einem einfachen Ruhe-EKG abzulesen sein, ob eine Person Vorhofflimmern hatte oder nicht. Was meinen Sie dazu?

Auricchio: Ja, das beschäftigt uns in der Elektrophysiologie sehr. Es ist aber wohl so, dass die Informationen aus dem Ruhe-EKG weit größer zu sein scheinen, als wir bisher angenommen haben. Durch sogenannte neuronale Netzwerke kann der Computer aus einem einfachen 12-Kanal-EKG das Geschlecht und das Alter der betroffenen Personen benennen und sogar bestimmte Kardiomyopathien, wie z. B. die hypertrophe Kardiomyopathie erkennen. Die weitere Entwicklung solcher Verfahren wird unsere diagnostische Kapazität enorm erhöhen.

de Haan: Antibradykarde Stimulation ist seit Jahrzehnten ein etabliertes Behandlungsverfahren. Wie sehen Sie den Stellenwert des sogenannten „Leadless Pacing“?

Auricchio: Ähnlich wie bei der Entwicklung des subkutanen Defibrillators, bemühen wir uns, die Probleme von herkömmlichen Schrittmachersonden zu beseitigen. Der sogenannte „leadless“ Schrittmacher ist eine phantastische Erneuerung im Bereich der kardialen Stimulation; die Funktion und die Batteriedauer eines leadless Herzschrittmachers sind noch nicht komplett vergleichbar mit einem herkömmlichen VVI-Herzschrittmacher. Ich bin allerdings der Meinung, dass dies in wenigen Jahren, der Fall sein wird. Ein Beispiel ist die neueste Entwicklung des Micra-Schrittmachers, welcher eine sequentielle VDD-Stimulation bereits ermöglicht. Neben Batterie-gesteuerten leadless Schrittmachern, gibt es andere, sehr vielversprechende Verfahren, wie z. B. leadless Schrittmacher, welche hochfrequente akustische Signale in elektrische Energie umwandeln (sogenanntes „energy transduction“ Verfahren) oder andere Verfahren, in denen die Kontraktionskraft des Herzmuskels elektrisch umgewandelt und dadurch die Batteriespannung aufrecht erhalten (scavenging energy) wird.

de Haan: Stichwort Patientenversorgung: Wie schon angesprochen, leidet eine große Zahl von kardiologischen Patientinnen und Patienten an behandlungsbedürftigen Herzrhythmusstörungen. In den kardiologischen Zentren in Deutschland ist dies nach internationalem Standard sicher gewährleistet. Wie sieht es aber in ländlichen Bezirken aus? Wie sind kleinere Krankenhäuser aufgestellt? Kardiologische Praxen?

Auricchio: Die Behandlung von Herzrhythmusstörungen, insbesondere wenn es sich um maligne Herzrhythmusstörungen handelt, zu denen auch Vorhofflimmern (Stichwort: Schlaganfallgefahr) gehört, erfordert neben gründlichen Kenntnissen elektrophysiologischer Vorgänge der Kardiologinnen und Kardiologen auch entsprechende Gerätschaften und Mitarbeitende. Nur eine ausreichende Erfahrung, die auf einer langjährigen Beschäftigung mit Herzrhythmusstörungen beruht, garantiert eine diagnostische und therapeutische Sicherheit.


Gerade in ländlichen Bezirken ist es schwierig, dies aufrecht zu erhalten. Die Bevölkerung wird älter, die Betroffenen sind weniger mobil, soziale Verhältnisse sind zu berücksichtigen etc. Wichtig ist, glaube ich, dass jede Praxis und jedes kleinere Krankenhaus eine Grundausstattung an Know-how und Gerätschaften hat, um die Patientinnen und Patienten zu stabilisieren. Eine enge Vernetzung – und dazu könnte auch die Telemedizin beitragen – mit einem elektrophysiologischen Zentrum ist zwingend notwendig.

de Haan: Zum Schluss gestatten Sie mir noch eine persönliche Frage: Welche Hobbys pflegen Sie außerhalb der Kardiologie?

Auricchio: Ich bin beruflich, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, sehr eingespannt und freue mich, wenn ich zu Hause im Kreise meiner Familie bin. Früher habe ich gerne Klavier gespielt und fotografiert. Dazu fehlt mir heute die Zeit. Ich höre aber gerne Musik, insbesondere Jazz und Klassik.

 

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