Künstliche Intelligenz in der Versorgung von Frauen

 

Trotz bedeutender Fortschritte auf dem Gebiet der kardiovaskulären Medizin ist die Versorgung von Frauen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen weiterhin unzureichend. Hat Künstliche Intelligenz (KI) das Potential, durch neue Möglichkeiten zur individualisierten und geschlechtersensitiven Medizin, den Status quo zu verändern? Der folgende Beitrag wirft einen Blick auf Chancen, Herausforderungen und die gegenwärtige Datenlage. 

Von:

Dr. Nina C. Wunderlich 

Rubrikleiterin Women in Cardiology

 

Dr. Mirjam Wild

Universitäts-Herzzentrum Freiburg, Bad Krozingen

 

Dr. Jennifer von Stein

Uniklinik Köln

 

Dr. Nihal G. Wilde

Bundeswehrkrankenhaus Koblenz

 

30.06.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Owlie Productions / Shutterstock.com

Frauen werden nicht nur seltener in klinische Studien einbezogen, sondern auch in den Bereichen Diagnostik, Risikoeinschätzung und Therapie anhaltend benachteiligt, was oft schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht. Herzinfarkte bei Frauen werden zum Beispiel häufig nicht erkannt, da „atypische“ Symptome wie Übelkeit oder Dyspnoe oft fehlgedeutet werden, und bestehende Risikoscoring-Systeme geschlechtsspezifische Unterschiede nur unzureichend erfassen. In diesem Zusammenhang rückt künstliche Intelligenz, die die Möglichkeiten bietet individualisierte und geschlechtersensitive Medizin umzusetzen, zunehmend in den Fokus des Interesses. Ein im Juni 2025 publizierter Artikel von Goldberg et al. „The Impact of Artificial Intelligence on Women’s Cardiovascular Disease Care“1 analysiert eben dieses Potenzial und evaluiert konkrete klinische Einsatzmöglichkeiten von KI, setzt sich aber auch mit methodischen und ethischen Herausforderungen auseinander.

KI zur Risikostratifizierung 

 

Ein zentraler Einsatzbereich von KI liegt in der Analyse von EKGs. Beispiel ist ein im Lancet Digital Health2 vorgestellter KI-Algorithmus, der in der Lage ist, aus standardisierten 12-Kanal-EKGs das biologische Geschlecht mit hoher Treffsicherheit (bis zu 95 %) zu identifizieren. Interessanterweise stellte sich heraus, dass bei Frauen, deren EKG als „männlich“ imponierte, ein signifikant höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bestand. Somit steht ein neuartiger Risikomarker zur Verfügung, der mit traditionellen Methoden nicht erkennbar ist.2 Solche Modelle ermöglichen eine tiefgreifende Differenzierung und bieten neue Ansatzpunkte für eine geschlechterspezifische Risikostratifizierung. Auch frühere Arbeiten konnten bereits zeigen, dass KI-basierte EKG-Modelle in der Lage sind, Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz oder Kardiomyopathien mit höherer Genauigkeit vorherzusagen als konventionelle Verfahren – und zwar bei beiden Geschlechtern, aber mit bisher ungenutztem Potenzial spezifisch für Frauen.3

 

Ein weiterer vielversprechender Ansatz liegt in der automatisierten Analyse von Bildgebungsmodalitäten. So wurde kürzlich ein transformerbasiertes KI-Modell vorgestellt, das in der Lage ist, aus Mammografieaufnahmen die Menge an Brustarterienkalk (Breast Arterial Calcification, BAC) zu extrahieren und zu bestimmen- ein Parameter, der stark mit dem kardiovaskulären Risiko bei Frauen assoziiert ist. Eine Analyse von mehr als 100.000 Mammografien ergab eine signifikante Assoziation von BAC mit späteren kardiovaskulären Ereignissen und zwar unabhängig von anderen traditionellen Risikofaktoren.4 Dies zeigt, dass eine routinemäßige eingesetzte Untersuchung zur kosteneffektiven kardiovaskulären Risikostratifizierung spezifisch für Frauen, bei denen klassische Risikostratifizierungs-Tools wie der Framingham Score oft versagen, beitragen kann.

KI-Modelle für spezielle Risikogruppen

 

Auch für spezielle Risikogruppen, wie zum Beispiel Frauen mit Autoimmunerkrankungen wie systemischem Lupus erythematodes oder rheumatoider Arthritis, werden zunehmend KI-Modelle eingesetzt. Studien zeigen, dass Algorithmen, die sowohl klinische Daten als auch sonografisch erhobene Gefäßparameter (z. B. Messungen der Intima-Media Dicke (IMT)) integrieren, eine deutlich bessere Risikoabschätzung für kardiovaskuläre Ereignisse erlauben als herkömmliche Risikoscores.5 Für die Risikovorhersage bei peripartaler Kardiomyopathie und hypertensiven Komplikationen während der Schwangerschaft gibt es ebenfalls erste Pilotdaten, die den Nutzen von KI-gestützter longitudinaler Überwachung nahelegen, eine breitere Validierung steht allerdings noch aus.

Algorithmischer Bias verstärkt Ungleichheiten

 

Neben dem erheblichen Nutzenpotenzial stehen dem klinischen Einsatz von KI aber auch erhebliche Herausforderungen gegenüber. Ein zentrales Problem stellt der sogenannte algorithmische Bias dar: Viele Modelle basieren auf Datensätzen, in denen Frauen stark unterrepräsentiert waren, wodurch es zu einer systematischen Fehlklassifikationen kommen kann. So zeigte eine Studie zur Nutzung von Sprachmodellen (darunter auch GPT-4), dass Frauen mit psychischer Komorbidität bei gleicher klinischer Präsentation ein niedrigeres kardiovaskuläres Risiko zugeordnet wurde als Männern.6 Die Möglichkeit, dass KI bestehende Ungleichheiten verstärken könnte, macht die Entwicklung von fairen, diversen und transparenten Modellen unabdingbar.

Vorausetzungen für eine verbesserte Versorgung

 

Goldberg et al.1 heben daher hervor, dass KI in der kardiovaskulären Versorgung von Frauen nur dann ihr volles Potenzial ausschöpfen kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Eine umfassende Einbeziehung von Frauen in Trainings- und Validierungsdatensätzen, eine geschlechtersensible Entwicklung und externe Validierung von Modellen sowie deren Integration in klinische Entscheidungsprozesse unter Berücksichtigung ethischer Aspekte.

Die erwähnten Beispiele machen aber deutlich, dass KI-gestützte Methoden bereits jetzt – bei gewissenhafter Implementierung – zu einer verbesserten Identifizierung, differenzierteren Risikobewertung und individualisierten Versorgung von Frauen beitragen können.

Fazit

 

Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass künstliche Intelligenz das Potential besitzt, einen grundlegenden Wandel in der geschlechtersensiblen Kardiologie herbeizuführen. Sie stellt neuartige Hilfsmittel zur frühzeitigen Risikoerkennung, zur objektiven Diagnostik auch atypischer Präsentationen und zur individualisierten Therapieunterstützung bereit. Um diese Veränderung verantwortungsbewusst zu gestalten, sind neben technischer Innovation auch gezielte Forschung, interdisziplinäre Kooperation und ein politischer Wille zur Gleichstellung in der medizinischen Datenlandschaft erforderlich.

Zur Autorin

Dr. Nina C. Wunderlich

Dr. Nina C. Wunderlich ist eine international anerkannte Expertin auf dem Gebiet der interventionellen Bildgebung. Ihr Schwerpunkt liegt auf der echokardiographischen Begleitung und Bildgebung bei Kathetereingriffen am Herz. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht und gilt als renommierte Referentin und Meinungsführerin in diesem Bereich.

Prof. Tommaso Gori

Referenzen

 

  1. Goldberg N, Lewis S. The Impact of Artificial Intelligence on Women’s Cardiovascular Disease Care. Curr Cardiovasc Risk Rep. 2025;27:98.
  2. Attia ZI, Noseworthy PA, Lopez-Jimenez F, et al. An Artificial Intelligence–Enabled ECG Algorithm for the Identification of Patients with Electrocardiographic Sex Discordance and Increased Mortality. Lancet Digit Health. 2025;7(6):e365-e373. 
  3. Kwon JM, Lee SY, Jeon KH, et al. Deep learning–based algorithm for detecting atrial fibrillation using electrocardiography. J Am Coll Cardiol. 2020;75(14):1613-1625. 
  4. Singh S, Kohli A, Chelliah M, et al. Transformer-Based AI Model Quantifies Breast Arterial Calcification on Mammograms to Predict Cardiovascular Events.
    arXiv. Published online March 2024. arXiv:2503.14550.
  5. Elgendi M, Dietterich T, Howard N, et al. Artificial Intelligence and Cardiovascular Disease in Women: A Scoping Review. Curr Atheroscler Rep. 2023;25(3):101–110. 
  6. Wu E, Yuan W, Chiang JN, et al. AI-generated differential diagnoses and triage decisions for chest pain differ by patient sex and mental health history.
    JAMA Intern Med. 2024;184(2):153-160. 

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