Millimeterarbeit im Herz: Ein winziges Schirmchen rettet Frühchen Anna

Vor allem Frühgeborene haben oft einen sogenannten Ductus arteriosus – eine offene Verbindung im Herzen. Bislang hat man diese kleinsten Patientinnen und Patienten meist mit einem chirurgischen Verschluss behandelt. Am Herz- und Diabeteszentrum NRW Bad Oeynhausen wurde erstmals eine schonendere Herzkathetertherapie durchgeführt – an einem Herzen, das so groß ist wie eine Walnuss.

Von Kerstin Kropac

 

07.06.2023


Bildquelle (Bild oben): Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen/ Miriam Görmann

Ein Hubschrauber landet auf dem Dach des Herz- und Diabeteszentrums NRW Bad Oeynhausen. An Bord: Ein frühgeborenes Mädchen mit einem offenen Ductus. Sie heißt Anna, wiegt 1200 Gramm, das Atmen fällt ihr schwer, sie entwickelt sich nicht gut. Um das Überleben der Kleinen zu sichern, setzen die Kardiologen per Katheter ein winziges Piccolo-Schirmchen ein.

Der sogenannte Ductus arteriosus Botalli ist eine offene Verbindung im Herzen: Sie liegt zwischen der Hauptschlagader (Aorta) und der Lungenschlagader (Arteria pulmonalis). Da bei ungeborenen Kindern die Lungen noch nicht arbeiten, kann das Blut durch den Ductus am sogenannten Lungenkreislauf vorbeigeleitet werden – zumindest solange der Fötus noch über die Mutter mit sauerstoffreichem Blut versorgt wird. „Unmittelbar nach der Geburt, wenn das Neugeborene beginnt, selbständig zu atmen, schließt sich diese Verbindung normalerweise“, erklärt Prof. Stephan Schubert, Direktor der Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler. „Doch leider kommt es manchmal vor, dass der Ductus offenbleibt.“ Davon sind Frühgeborene besonders häufig betroffen. 

Warum ist es problematisch, wenn der Ductus sich nicht schließt?

Sobald die Lunge arbeitet, reichert sie das Blut mit Sauerstoff an, das dann durch die Lungenvenen in das Herz transportiert wird. Durch den offenen Ductus strömt zusätzlich sauerstoffreiches Blut in die Lungenarterien – dadurch erreicht zu viel Blut die Lungengefäße und der Gasaustausch wird durch diese „Überwässerung“ schlechter. Zusätzlich steigt der Blutdruck in den Lungen an, was die Blutgefäße der Lunge verändern und sogar schädigen kann. Meist entwickeln sich die betroffenen Kinder darunter nicht gut. „Diese Babys atmen angestrengter, haben Probleme mit dem Trinken und nehmen schlechter zu“, erklärt der Kinderkardiologe. So war es auch bei der kleinen Anna, die im Klinikum Dortmund in der 26. Schwangerschaftswoche mit nur 830 Gramm zur Welt gekommen ist. Vier Wochen nach der Geburt schwebte sie mit dem Helikopter zur Behandlung im Herz- und Diabeteszentrum NRW ein.

Ankunft des Frühchens mit dem Hubschrauber. Ein Hubschrauber brachte die kleine Anna vom Klinikum Dortmund zum Herz- und Diabeteszentrum NRW. Bildquelle: Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen/ Miriam Görmann

Muss ein offener Ductus sofort behandelt werden?

Zunächst warten die Ärztinnen und Ärzte ab, ob der Ductus von allein kleiner wird. Um den Prozess anzustoßen, verabreichen sie zusätzlich Medikamente. „Doch leider gibt es Kinder wie Anna, die darauf nicht reagieren und den Ductus behalten“, sagt Prof. Schubert. „Diese Kinder müssen meist länger beim Atmen unterstützt oder sogar beatmet werden, benötigen mehr entwässernde Medikamente (Diuretika) und sind insgesamt instabiler. Um ihr Überleben zu sichern, muss man überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, den offenen Ductus zu schließen.“

Welche Möglichkeiten gibt es, einen offenen Ductus zu schließen?

Bei sehr kleinen Frühgeborenen hat man bislang meist einen chirurgischen Verschluss durchgeführt: Über einen Schnitt zwischen den Rippen setzt die Chirurgin oder der Chirurg einen Metallclip auf oder ein Bändchen um den Ductus, um ihn zu schließen. Im Herz- und Diabeteszentrum NRW hat man sich erstmals bei einem so kleinen Kind für eine schonendere Herzkathetertherapie mit einem winzigen Schirmchen entschieden. „Die Schirme, die man nimmt, um den Ductus zu schließen, waren früher nur für Kinder über 6 Kilogramm zugelassen“, sagt der Kinderkardiologe. „Wir haben aber sehr früh damit angefangen, auch kleinere Kinder zu behandeln.“ Anna wog zum Zeitpunkt des Eingriffs nur 1200 Gramm – kaum mehr als eine Milchpackung.

Das erbsengroße Piccolo-Schirmchen. Winzig klein: Das erbsengroße Piccolo-Schirmchen verschließt den offenen Ductus. Bildquelle: Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen/ Tobias Pieper

Was ist ein Piccolo-Schirmchen?

Minimalinvasiv und unter Ultraschall- und minimaler Röntgenkontrolle wird ein Katheter durch die Leiste zum Herzen geführt, wo sich das sogenannte Piccolo-Schirmchen (Dukt Okkluder ADO AS II der Firma Abbott) dann im Ductus entfaltet. „Man muss sich das so vorstellen: Das Schirmchen hat zwei Teller und einen Steg in der Mitte“, erklärt Prof. Schubert. Dieses System schiebt man in den Ductus. Dort stellen sich die Teller auf, wodurch sich das Schirmchen fest verankert. „Bei der Platzierung können Millimeterbruchteile über den Erfolg entscheiden“, sagt der Kinderkardiologe. „Der Schirm hat eine gewisse Länge. Ist er beispielsweise zu lang, passt er nicht in den Ductus. Ist er zu klein, hält er dort nicht. Ist er zu groß, verhindert er womöglich den Blutfluss in andere Regionen. Wir müssen bei solchen Eingriffen in Millimeterarbeit eine Punktlandung schaffen, um den Ductus sicher zu verschließen.“

Was sind die Risiken eines solchen Kathetereingriffs?

Das Piccolo-Schirmchen wird in ein Herz eingesetzt, das ungefähr so groß ist wie eine Walnuss. Die Gefäße eines Frühgeborenen haben nur 3 bis 5 Millimeter Durchmesser. Legt man zu große Katheter durch das Herz, könnte das dazu führen, dass die Kinder instabil werden. „Für die Punktion dieser ganz kleinen Gefäße und die Steuerung in diesen ganz kleinen Herzen, muss man sehr viel Erfahrung haben“, sagt Prof. Schubert. Jeder Handgriff, jede kleine Bewegung muss sitzen. Die Ärztinnen und Ärzte müssen sehr konzentriert und kontrolliert diese Mini-Bewegungen machen. Und diese sehr kleinen Kinder müssen während des anderthalbstündigen Eingriffs stabil bleiben. „Da ist man schon angespannt“, sagt der Kinderkardiologe. „Ich würde nie sagen: ‚Das ist ein einfacher Eingriff.‘ Stattdessen sage ich immer wieder: ‚Jeder Patient ist anders. Und das Optimum ist das Ziel.‘ Wir wollen immer mehr als 100 Prozent erreichen.“

Prof. Stephan Schubert und Dr. Jochen Grohmann. Prof. Dr. Stephan Schubert (r.), Direktor am Kinderherzzentrum des Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen setzte zusammen mit Oberarzt Privatdozent Dr. Jochen Grohmann das Piccolo-Schirmchen ein. Bildquelle: Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen/ Tobias Pieper

Ist der Ductus sofort nach dem Eingriff geschlossen?

„Wir verfolgen den Eingriff über ein High-End-Ultraschallgerät mit einer sehr guten Auflösung und Bildqualität. Damit können wir sogar zoomen, sodass wir sehr genau sehen, was in dem kleinen Herzen passiert“, sagt Prof. Schubert. Ist das Schirmchen platziert, schauen der Kinderkardiologe und sein Team erst einmal, ob es richtig sitzt. Erst dann drehen sie den Katheter ab – und setzen das Schirmchen frei. „Nun muss es in dieser Position halten. Das ist der entscheidende Moment“, sagt der Kinderkardiologe. „Es kann passieren, dass es noch einmal die Position verändert. Deswegen wartet man 10 oder 20 Minuten ab, in denen man genau beobachtet, ob der Blutfluss durch den Ductus gestoppt ist. „Erst dann fängt man langsam an, sich zu freuen: Es hat geklappt!“, sagt Prof. Schubert.

Geht es den Kindern mit angeborenem Herzfehler nach dem Eingriff sofort besser?

„Annas Kreislaufsituation hat sich nach dem Ductus-Verschluss mit dem Piccolo-Schirmchen schnell normalisiert. Sie braucht keinen Sauerstoff mehr, wird nicht mehr beatmet. Sie ist mittlerweile zu Hause. Ihr Herz ist geheilt. Das Mädchen kann später Sport machen, ganz normal leben“, sagt Prof. Schubert. „Den Schirm wird es immer behalten, lebenslang. Er wird in Relation zum Herzen natürlich kleiner werden. Aber er bleibt im Kind – und funktioniert. Da haben wir inzwischen über viele Jahrzehnte gute Erfahrungen.“

Lassen sich mittlerweile alle angeborenen Herzfehler gut behandeln?

„Das Spektrum der angeborenen Herzfehler ist sehr breit. Und der Ductus zählt eher zu den sehr einfachen Herzfehlern. „Manchmal ist der Ductus auch ein Herzfehler-Anteil bei viel komplexeren Herzfehlern wie beispielsweise einem Einkammerherz. Oder wenn die Aorta fehlt“, erklärt der Kinderkardiologe. „Aber wir haben immer wieder die Chance, neben den großen Operationen minimalinvasive Eingriffe durchzuführen – wie jetzt mit diesem Ductus-Verschluss. Dafür brauchen wir Entwicklung, wissenschaftlichen Fortschritt. Dafür brauchen wir Firmen, die solche kleinen Geräte und Instrumente herstellen. Und dafür brauchen wir eine Gesetzeslage, die Innovationen einfordert. Gegenwärtig geht der Trend in der Europäischen Union leider in die entgegengesetzte Richtung – das spüren wir sehr deutlich, weil viele Produkte, die wir haben oder hatten, nicht mehr verfügbar und nicht mehr lieferbar sind. Wir haben die große Sorge, dass wir solche schonenden Eingriffe in Zukunft nicht mehr in der Breite anbieten können. Wenn sich nicht bald etwas ändert …“

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