Orale Antikoagulation bei AHRE: riskant und unwirksam

 

Antikoagulanzien erhöhen das Blutungsrisiko, verhindern jedoch keinen Schlaganfall bei Patient:innen mit atrialen Hochfrequenzepisoden (AHRE) und ohne EKG-diagnostiziertes Vorhofflimmern. Zu diesem Schluss kommt die NOAH-AFNET-6-Studie, die Studienleiter Prof. Paulus Kirchhof in der ersten Hot Line Session auf dem ESC-Kongress 2023 vorstellte.1 Die Studie wurde parallel im New England Journal of Medicine veröffentlicht.2

Von: Martin Nölke
 

26.08.2023

Antikoagulanzien dienen der Schlaganfallprävention bei Patient:innen mit Vorhofflimmern, sind jedoch ineffektiv bei Patient:innen ohne Vorhofflimmern, beispielsweise bei Herzinsuffizienz. Atriale Hochfrequenzepisoden (Atrial High Rate Episodes, AHRE) sind kurze und seltene Vorhofarrhythmien – ähnlich dem Vorhofflimmern. Sie können von implantierten Herzschrittmachern, Defibrillatoren und Loop-Rekordern  detektiert werden. AHRE treten bei 10–30 % der Patient:innen mit implantierten Geräten auf.3 Zwar sind AHRE mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden, aber das Risiko ist geringer als bei Patient:innen mit Vorhofflimmern.

Die ESC-Leitlinien empfehlen eine orale Antikoagulation zur Schlaganfallprävention bei Patient:innen mit Vorhofflimmern und erhöhtem Schlaganfallrisiko und schlagen individuelle Entscheidungen bei AHRE vor.4 Da AHRE dem Vorhofflimmern ähneln, wird in der Praxis häufig auch eine Antikoagulation in Betracht gezogen. Gemäß neuester Studiendaten ist das im Regelfall nicht empfehlenswert:

 

"NOAH-AFNET 6 zeigt, dass eine Antikoagulation bei Patient:innen mit AHRE nicht eingesetzt werden sollte, bis Vorhofflimmern durch ein EKG nachgewiesen ist.“

Studienleiter Prof. Paulus Kirchhof vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) auf dem ESC-Kongress in Amsterdam

Erstmals Wirksamkeit und Sicherheit untersucht: Das Studiendesign

 

NOAH-AFNET 6 (Non vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes trial) ist die erste Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit und Sicherheit einer oralen Antikoagulation bei Patient:innen mit AHRE und ohne EKG-dokumentiertes Vorhofflimmern.5 Der verantwortliche Sponsor der wissenschaftsinitiierten Studie war das Kompetenznetz Vorhofflimmern e. V. (AFNET) und finanziert wurde sie vom Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) und von Daiichi Sankyo Europe. Die randomisierte, doppelblinde Studie verglich das NOAK (Neues orales Antikoagulans) Edoxaban mit Placebo bei Patient:innen ≥ 65 Jahren mit AHRE-Episoden ≥ 6 Minuten, die von implantierbaren Geräten erfasst worden sind. Außerdem hatten die Teilnehmenden mindestens einen zusätzlichen Schlaganfall-Risikofaktor: Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Diabetes, früherer Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke, Gefäßerkrankung oder Alter ≥ 75 Jahre. Diese Patientengruppe lag außerhalb der zugelassenen Indikation von Edoxaban.

Die Studie wurde zwischen 2016 und 2022 an 206 Standorten in 18 europäischen Ländern durchgeführt. Die Patient:innen erhielten nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1:1 entweder eine Antikoagulation oder nicht. Die Antikoagulation bestand aus Edoxaban in der für die Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern zugelassenen Dosis: 60 mg einmal täglich, gegebenenfalls reduziert auf 30 mg einmal täglich gemäß den zugelassenen Kriterien zur Dosisreduktion. Im Falle keiner Antikoagulation wurde entweder ein Placebo verabreicht oder Aspirin 100 mg einmal täglich bei Patient:innen mit einer Indikation für eine Therapie mit Thrombozyten-Aggregationshemmern.

Das primäre Wirksamkeitsergebnis setzte sich zusammen aus Schlaganfall, systemischer Embolie oder kardiovaskulärem Tod. Der Safety Outcome wurde anhand schwerer Blutungen und Tod jeder Ursache geprüft. Alle Patient:innen wurden bis zum Studienende beobachtet.

Die modifizierte Intention-to-treat-Analyse umfasste 2.536 Studienteilnehmende, davon 1.270 in der Edoxoban-Gruppe und 1.266 in der Placebo-Gruppe. Dabei handelte es sich um ältere Menschen mit mehreren Schlaganfall-Risikofaktoren: Das Durchschnittsalter lag bei 78 Jahren, 37 % waren Frauen und der mittlere CHA2DS2-VASc-Score betrug 4. Der Score ist ein Prädiktor für das Risiko eines ischämischen Schlaganfalls bei Patient:innen mit Vorhofflimmern und reicht von 0 bis zum höchsten Risikowert 9. Die mittlere AHRE-Dauer der Patient:innen betrug bei Studienbeginn 2,8 Stunden. 97 % der AHRE wiesen eine Vorhoffrequenz von > 200 Schlägen pro Minute auf.

Vorzeitig beendet: Sicherheitsbedenken und unwirksame Antikoagulation

 

Im September 2022 wurde die Studie unter kontrollierten Bedingungen abgebrochen, nachdem alle geplanten Patient:innen in die Studie eingeschlossen waren. Der Grund war der sich abzeichnende Trend zur Unwirksamkeit von Edoxaban und Sicherheitsbedenken, insbesondere Blutungsereignisse, in der Antikoagulationsgruppe gegenüber der Placebogruppe. Das mittlere Follow-up betrug 21 Monate.

Schlaganfall, systemische Embolie oder kardiovaskulärer Tod als primärer Efficacy Outcome trat auf bei 83 Personen der Antikoagulationsgruppe (3,2 %/Jahr) und bei 101 Personen in der Gruppe ohne Antikoagulation (4,0 %/Jahr). Damit war kein Wirksamkeitsunterschied zwischen den Behandlungsgruppen messbar – Hazard Ratio (HR): 0,81; 95-%-Konfidenzintervall (95-%-KI): 0,6–1,1; p = 0,15. Die Schlaganfallrate betrug ohne Antikoagulation 1,1 %/Jahr und mit Antikoagulation 0,9 %/Jahr. "Die niedrige Schlaganfallrate mit und ohne Antikoagulation war unerwartet", kommentierte Kirchhof das überraschende Studienergebnis.

Ein schweres Blutungsereignis oder der Tod jeder Art als primäres Sicherheitsergebnis ereignete sich bei 149 Teilnehmenden der Antikoagulations-Gruppe (5,9 %/Jahr) und bei 114 in der Gruppe ohne Antikoagulation (4,5 %/Jahr). Das entspricht einer HR von 1,3 mit 95-%-KI: 1,0–1,7; p = 0,03. „Erhöhte Blutungen bei Antikoagulation waren zu erwarten“, so Kirchhof. Sie machen den Hauptunterschied bei der Sicherheit aus und traten etwa doppelt so häufig auf wie ohne Antikoagulation – HR: 2,10; 95%-KI: 1,30–3,38; p = 0,002.

Limitationen von NOAH-AFNET 6

 

Neben den Stärken der Studie wie Doppelverblindung, Double Dummy Design (Placebo und Aspirin) und vollständigem Follow-up wiesen Kirchhof und Diskutantin Prof. Elena Arbelo, Hospital Clínic de Barcelona, auf einige Limitationen der Studie hin:

 

  • Keine ausreichende Aussagekraft, um einen geringen Effekt der oralen Antikoagulation auf kardiovaskuläre Ereignisse auszuschließen
  • Durchführung in 18 europäischen Ländern: Auswirkungen auf andere Ethnien unbekannt
  • Es wurde nur ein NOAK getestet: Edoxaban

Fazit und Ausblick

 

Folgende Schlussfolgerungen zog Kirchhof aus den Ergebnissen der NOAH-AFNET-6-Studie:

 

  • Bei Patient:innen mit atrialen Hochfrequenzepisoden (AHRE) und klinischen Risikofaktoren für einen Schlaganfall führte eine Antikoagulation mit Edoxaban in der für Vorhofflimmern zugelassenen Dosierung insgesamt zu keiner Verringerung von Schlaganfällen, systemischen Embolien oder kardiovaskulären Todesfällen. In der analysierten Patientenpopulation konnten auch keine Subgruppen identifiziert werden, die profitierten.
  • Erwartungsgemäß erhöhte die Antikoagulation das Risiko schwerer Blutungen.
  • Die Schlaganfallrate war mit und ohne Antikoagulation niedrig.
  • Aufgrund dieser Ergebnisse sollten Patient:innen mit AHRE ohne Antikoagulation behandelt werden, bis Vorhofflimmern per EKG diagnostiziert wird.

 

Kirchhof sieht weiteren Forschungsbedarf: "Bessere Methoden zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos bei Patient:innen mit seltenen Vorhofarrhythmien sind erforderlich." Sowohl Kirchhof als auch Diskutantin Arbelo verwiesen auf die Evaluierung von Wearables wie Smartwatches hinsichtlich seltener Vorhofarrhythmien und Vorhofflimmern als interessanten Forschungsansatz.


Referenzen

  1. Kirchhof, P. Anticoagulation with edoxaban in patients with strial high-rate Episodes (AHRE). Results of the NOAH – AFNET 6 Trial. Speaker. Hot Line Session 1, ESC Congress 2023, Amsterdam, 25.–28. August.
  2. Kirchhof P, et al. Anticoagulation with edoxaban in patients with atrial high rate episodes. N Engl J Med. 25 August 2023. doi:10.1056/NEJMoa2303062.
  3. Toennis T, Bertaglia E, Brandes A, et al. The influence of atrial high-rate episodes on stroke and cardiovascular death: an update. Europace. 2023. https://doi.org/10.1093/europace/euad166.
  4. Hindricks G, Potpara T, Dagres N, et al. 2020 ESC Guidelines for the diagnosis and management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. 2020;42:373-498.
  5. Kirchhof P, Blank BF, Calvert M, et al. Probing oral anticoagulation in patients with atrial high rate episodes: Rationale and design of the Non-vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes (NOAH-AFNET 6) trial. Am Heart J. 2017;190:12-18.

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