SELECT-Studie definiert Adipositas als neuen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor

 

AHA-Kongress 2023 | Auf dem AHA wurden die Ergebnisse der SELECT-Studie mit 17.500 Patient:innen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen und Adipositas ohne Diabetes mellitus vorgestellt.1,2 Der GLP1-Rezeptor-Agonist (GLPR1A) Semaglutid reduzierte den kombinierten Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20% (absolute Risikoreduktion 1,5 %, NNT 67). Mit spontanem Applaus wurde bei der Kongress-Vorstellung auch die numerische Reduktion der Gesamtsterblichkeit um 19 % (absolute Reduktion 0,9 %) bedacht.

Die Studie identifiziert erstmals Adipositas als einen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor und eröffnet damit eine neue Domäne für die Kardiologie.

Von:

Prof. Ulrich Laufs

Herausgeber der Rubrik Prävention

 

11.11.2023

 

Bildquelle (Bild oben): AevanStock / Shutterstock.com

Hintergrund in Kürze

 

Adipositas nimmt weltweit zu und ist mit einer hohen kardiovaskulären Morbidität assoziiert. Bislang konnte keine medikamentöse Therapie eine Reduktion von kardiovaskulären Endpunkten bei Patient:innen mit Adipositas zeigen. Aus großen Studien mit GLP1-Rezeptor-Agonisten (GLPR1A) sind positive Effekte bei Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ 2 auf die Blutzucker-Kontrolle und kardiovaskuläre Endpunkte bekannt. Weiterhin zeigen aktuelle Studien, dass GLPR1A in höheren Dosierungen wirksam das Körpergewicht bei Personen mit und ohne Diabetes Typ 2 reduzieren kann. Die entscheidende offene Frage war daher, ob die Behandlung mit GLPR1A kardiovaskuläre Ereignisse auch bei Patient:innen mit Adipositas ohne Diabetes mellitus beeinflusst.

Wichtigste Fakten zur Studie

 

Unter Leitung von Michael Lincoff, Cleveland Clinic, wurden 17.604 Patient:innen in 41 Ländern mit bekannter Vorgeschichte eines Myokardinfarktes, Schlaganfalls oder einer pAVK und einem BMI > 27 kg/m2 zu einer Behandlung mit Semaglutid 2,4 g s.c. 1nx pro Woche oder Placebo randomisert. Der mittlere BMI bei Einschluss war 33,3 kg/m2 und 70 % der Patient:innen hatten einen BMI > 30 kg/m2.  Das mittlere Alter bei Einschluss war 61,6 Jahre, 72 % waren Männer, 12,5 % Afroamerikaner:innen. Die Patient:innen waren gut behandelt, 88 % erhielten Statine, das LDL-C bei Studienbeginn lag um 88 mg/dl, der systolische Blutdruck ca. 130 mmHg, HbA1c 5,8 %. Die mittlere Dauer der Behandlung betrug knapp 3 Jahre (34,2 Monate).

Was waren die wichtigsten Ergebnisse?

 

In der Semaglutid-Gruppe war der primäre Endpunkt, die Kombination aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20 % reduziert (absolute Risikoreduktion 1,5 %, NNT 67). Die Ereignis-Kurven trennten sich von Anfang an und liefen kontinuierlich weiter auseinander. Es zeigte sich keine Heterogenität in den prä-definierten Subgruppen: Alter, Geschlecht, BMI und HbA1c. In der Gruppe der prä-definierten sekundären Endpunkte erreichte die Reduktion der kardiovaskulären Sterblichkeit mit 15 % nicht die statistische Signifikanz (p = 0,065), daher wurden alle weiteren sekundären Endpunkte nicht statistisch getestet. Dennoch wurde bei der Präsentation in Philadelphia am 11.11.2023 die numerische Reduktion der Gesamtsterblichkeit um 19 % (absolute Reduktion 0,9 %) mit spontanem Applaus bedacht. Es zeigten sich auch numerisch weniger Revaskularisationen und Nieren-Endpunkte.

Was sind die Mechanismen?

 

Die Gewichtsreduktion betrug im Mittel 9,4 % (unter Placebo 0,9 %). Die Gewichtsreduktion war von signifikanten metabolischen Verbesserungen begleitet: Der Blutdruck wurde um 3,8 mmHg in der Semaglutid-Gruppe reduziert. Weiterhin zeigten sich eine signifikante Absenkung des hsCRP um 39,1 %, des LDL-C um 5,3 % und der Triglyceride um 18,3 %.

Gab es negative Signale? 

 

Semaglutid wurde insgesamt sehr gut vertragen. Zu den bekannten Wirkungen von GLP1RA gehören gastrointestinale Beschwerden. Die Studienmedikation wurde initial titriert. Schwere Formen von GI-Beschwerden traten in beiden Gruppen ähnlich häufig auf. In der Gruppe mit Gewichtsreduktion fanden sich erwartungsgemäß etwas mehr Gallensteine. Wichtig ist, dass in dieser großen Studie keine Häufung von Depressionen, Neoplasien oder anderer negative Effekte beobachtet wurden.

Welche Limitationen hat die Studie?

 

Entsprechend der Einschlusskriterien konnte die Studie nicht beantworten, ob Semaglutid auch bei Personen mit Adipositas ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindert. Frauen waren unterrepräsentiert. Ebenso waren spezifische Ethnien oder z. B. auch Patient:innen mit schwerer systolischer Herzinsuffizienz nur in kleinerer Zahl in der Studienpopulation vertreten.

Kommentar

 

SELECT ist eine Meilenstein-Studie. Die Studie identifiziert erstmals Adipositas als einen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor und eröffnet damit eine neue Domäne für die Kardiologie. Die Reduktion von Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall durch Semaglutid wurde, zusätzlich zu einer guten leitliniengerechten Therapie, beobachtet. Der Befund war in allen Subgruppen konsistent. Insbesondere ist interessant, dass Patient:innen in der niedrigen BMI-Gruppe von 27-30 kg/m2 mindestens ebenso stark, numerisch evtl. sogar stärker, profitiert haben.

 

Das Studiendesign kann die Frage nicht beantworten, ob zusätzlich zu der Gewichtsreduktion und den deutlichen positiv assoziierten kardiometabolischen Veränderungen auch mögliche direkte Effekte von GLP1RA eine Rolle spielen, die z. B. in Zellkultur- oder Tier-Studien beschrieben wurden.

 

In den nächsten Monate wird der Zugang zu dem Medikament, das zugelassen, aber nicht erstattungsfähig ist, zum dominierenden Thema werden. Die Solidargesellschaft wird begründen müssen, ob eine lebensverlängernde Therapie noch länger einer Patientengruppe vorenthalten werden kann. Die beiden weit verbreiteten Vorurteile, Personen mit Adipositas seien an ihrem stigmatisierenden Phänotyp selber “schuld” oder die Adipositas sei “einfach” durch Änderung des Lebensstils zu beseitigen, sind wissenschaftlich schon lange überholt. 

 

Es ist zu betonen, dass die Daten der SELECT-Studie bzgl. Wirksamkeit und Sicherheit, nicht ohne weitere Studien auf die neuen dualen oder Dreifach-Inkretin-Wirkstoffe übertragen werden dürfen. Perspektivisch ist jedoch für die Zukunft zu erwarten, dass Inkretin-Wirkstoffe zum Armamentarium in der Kardiologie gehören werden.

Referenzen

  1. Lincoff AM. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Patients With Overweight or Obesity Who Do Not Have Diabetes. Late-Breaking Science 1, AHA-Kongress 2023, Philadelphia, 11.–13. November.
  2. Lincoff AM et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Obesity without Diabetes. N Engl J Med. 2023 Nov 11. doi: 10.1056/NEJMoa2307563. Epub ahead of print. PMID: 37952131.

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