Gefahr durch Niacin?

 

Die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Studie weisen daraufhin, dass die Einnahme von größeren Mengen an Vitamin B3 (Niacin) das kardiovaskuläre Risiko erhöhen könnte. Im Interview erläutert der an der Studie beteiligte Experte, Prof. Arash Haghikia (Bochum), die Bedeutung der neuen Erkenntnisse für die Praxis und geht auf mögliche Gefahren der Niacin-Supplementation von Lebensmitteln ein.

von:

Dr. Heidi Schörken

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

18.04.2024

 

 

Bildquelle (Bild oben): CeltStudio / Shutterstock.com

   

 

HERZMEDIZIN: Was bedeuten die Erkenntnisse der Studie für die Praxis? Sollte die Niacin-Supplementation von Lebensmitteln neu bewertet werden?


Haghikia: Grundsätzlich gilt natürlich, dass die vorliegenden Ergebnisse zunächst durch weitere unabhängige Studien bestätigt werden müssen. Diese Studie, die von einer Forschungsgruppe aus der Cleveland Clinic um Prof. Stanley Hazen federführend durchgeführt wurde, hatte eine sogenannte Discovery-Kohorte, also Entdeckungskohorte. In dieser Kohorte wurden unterschiedliche Metabolite untersucht. Dabei wurden Stoffwechselprodukte von Niacin identifiziert, die mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert waren.1

Weitere Studien zur Bestätigung notwendig

 

Die Ergebnisse wurden in der gleichen Arbeit bereits jeweils in einer amerikanischen und europäischen Validierungskohorte bestätigt. Dennoch sind zusätzliche Studien durch unabhängige Forschungsgruppen notwendig, bevor man konkrete Schlüsse für die Praxis ziehen kann.
Das Besondere an der Studie ist aber, dass zusätzlich auch der zugrunde liegende Mechanismus untersucht wurde. Man hat festgestellt, dass die Niacin-Metabolite zu einer subklinischen Entzündung in den Gefäßen führen. Und eine Gefäßentzündung bedeutet immer auch ein erhöhtes Risiko für athero-thrombotische Ereignisse, also Herzinfarkt und Schlaganfall.


HERZMEDIZIN: Sind weitere Studien bereits geplant?


Haghikia: Studien mit weiteren Kohorten sind in Planung, um den Zusammenhang zwischen Niacin-Metaboliten und dem kardiovaskulären Risiko näher zu untersuchen. Wenn man sich die Personen der vorliegenden Studie anschaut, fällt auf, dass in der US-amerikanischen Kohorte das Durchschnittsalter 65 Jahre und in der deutschen Kohorte um die 75 Jahre betrug. Deshalb sind weitere Studien mit einer heterogenen Kohorte notwendig, einschließlich gesunder jüngerer Personen, um zu untersuchen, ob hohe Blutspiegel von Niacin-Metaboliten langfristig mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden sind.

1000 mg/Tag Niacin mit erhöhter Schlaganfallrate verbunden

 

Vor etwa 15 Jahren wurde Niacin in Studien eingesetzt, um Cholesterin zu senken, und gleichzeitig HDL zu erhöhen. Damals galt die Vorstellung, dass HDL protektiv ist und die negativen Effekte von LDL kompensieren würde. Mittlerweile wissen wir aber, dass die Anhebung von HDL kein Therapieziel ist. Niacin hebt HDL an und senkt gleichzeitig LDL. Niacin wurde in mehreren großen Studien im Hinblick auf die Reduktion des kardiovaskulären Risikos untersucht. Allerdings konnte man den erhofften Effekt nicht beobachten. Im Gegenteil: In der Sekundäranalyse der vorzeitig abgebrochenen HPS2-Thrive-Studie wurde festgestellt, dass Niacin mit einem Anstieg der Schlaganfallrate verbunden war. Allerdings hat man damals 1000 mg Niacin pro Tag eingesetzt.2
Das ist deutlich über dem Wert, was jetzt als Höchstgrenze empfohlen wird. Daher kann man davon ausgehen, dass 160 mg/Tag Niacin unproblematisch sind bei Personen ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aber eine tägliche Zufuhr von etwa 13-18 mg, also durchschnittlich etwa 15 mg pro Tag, ist völlig ausreichend.


HERZMEDIZIN: Sind Nahrungsergänzungsmittel mit Niacin sinnvoll?


Haghikia: In Deutschland oder in anderen Industriestaaten gibt es keinen Bedarf für eine Nahrungsergänzung mit Vitamin B3, wenn man sich ausgewogen ernährt. Da Vitamin B3 in sehr vielen Lebensmitteln enthalten ist, gibt es keinen Vitamin-B3-Mangel. Sofern keine Aufnahmestörungen über den Darm, wie eine chronische Darmentzündung, eine Alkoholsuchterkrankung oder Magersucht vorliegen, gibt es keinen Grund für eine zusätzliche Einnahme von Vitamin B3.


HERZMEDIZIN: Viele Lebensmittel sind mit Niacin supplementiert. Sollte man das verbieten?

 

Haghikia: Wenn dieser Befund durch andere Studien bestätigt wird, muss man darüber nachdenken, ob die Supplementation von Lebensmitteln sinnvoll ist. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es sehr viele Pellagra-Fälle als Folge einer einseitigen auf Mais basierten Mangelernährung. Bei Pellagra kommt es zu schweren Hautveränderungen bis hin zum Tod. Das war aber zu einer Zeit, in der eine Mangelernährung in den Industrieländern weit verbreitet war. Um dem entgegenzuwirken, wurden gesetzliche Vorgaben zur Supplementation von Lebensmitteln erlassen, die in den USA immer noch gelten, obwohl Mangelkrankheiten inzwischen kaum noch vorkommen, mit Ausnahme von chronischen Krankheiten, die mit einer Aufnahmestörung einhergehen.

Warnhinweise für Risikogruppen

 

Falls sich die Ergebnisse in weiteren Studien bestätigen, sollte man überlegen, ob man Risiko-Patientinnen und -Patienten, darauf hinweist, dass ein Überschuss an Vitamin B3, möglicherweise das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse erhöhen könnte.

 

HERZMEDIZIN: Lassen sich die neuen Erkenntnisse Ihrer Ansicht nach nutzen, um neue therapeutische Ansätze zu entwickeln?


Die einfachste Maßnahme ist es, darauf zu achten, welche Mengen an Niacin man einnimmt. Ein großer Gewinn wäre, wenn man dies auch zur Prävention oder zur Behandlung einsetzen könnte. Das Interessante an dieser Arbeit ist die Aufdeckung des Mechanismus: Also, dass bestimmte Stoffwechselprodukte von Niacin Entzündungsprozesse in den Gefäßen fördern. Zusätzlich wurde auch entdeckt, dass eine bestimmte Genvariante eines Enzyms (ACMSD = Aminocarboxymuconat-Semialdehyd-Decarboxylase), das für die Regulation des Vitamin-B3-Stoffwechsels verantwortlich ist, mit erhöhten Konzentrationen der Metabolite vergesellschaftet und mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko assoziiert ist.

Übermäßige Nährstoff-Zufuhr vermeiden

 

Insgesamt zeigte diese Studie, dass Nahrungsergänzungsmittel nicht nur nicht förderlich sind, sondern in bestimmten Situationen und bei bestimmten Personen auch nachteilig sein können. Inzwischen gibt es schon mehrere Beispiele, die darauf hinweisen, dass die übermäßige Zufuhr von bestimmten Nährstoffen durch Nahrungsergänzungsmittel schädlich sein kann. Deswegen sollte man bei Nahrungsergänzungsmitteln immer genau hinschauen, ob die Einnahme wirklich nötig ist, und ob es nicht auch möglicherweise schädliche Auswirkungen haben kann.

Zur Person

Prof. Arash Haghikia

Prof. Arash Haghikia ist seit Januar 2024 Direktor der Universitätsklinik für Kardiologie im St. Josef-Hospital in Bochum und hat den Lehrstuhl für Kardiologie an der Ruhr Universität Bochum von Prof. Mügge übernommen. Zuvor war er leitender Oberarzt der Herzkatheterlabore an der Charité Berlin. Prof. Haghikia, der sich wissenschaftlich und klinisch vor allem mit Atherosklerose und Kardiometabolismus beschäftigt, war an der aktuellen Studie während seiner Tätigkeit an der Charité beteiligt.

Prof. Haghikia: Direktor der Universitätsklinik für Kardiologie im St. Josef-Hospital Bochum
Bildquelle: privat

Referenzen

 

  1. Ferrell M et al. A terminal metabolite of niacin promotes vascular inflammation and contributes to cardiovascular disease risk. Nat Med. 2024;30(2):424-434
  2. Haynes R et al. Serious Adverse Effects of Extended-release Niacin/Laropiprant: Results From the Heart Protection Study 2-Treatment of HDL to Reduce the Incidence of Vascular Events (HPS2-THRIVE) Trial. Clin Ther. 2019;41(9):1767-1777

 

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