Verschreibungspraxis bei Statinen: Frauen unterversorgt?

 

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in den Mitgliedsländern der European Society of Cardiology (ESC) die häufigste Todesursache, wobei Frauen mit 45 % aller Todesfälle noch häufiger betroffen sind als Männer (39 %).1 Ein genauerer Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Versorgung und deren mögliche Gründe ist daher wichtig. Eine aktuelle schwedische Studie, vorgestellt auf dem Kongress ESC Preventive Cardiology 2024, und eine Analyse aus den Niederlanden untersuchten Unterschiede in der Statintherapie. Prof. Andrea Bäßler, Universitätsklinikum Regensburg, ordnet die Forschungsergebnisse ein.

Von:

Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

Prof. Andrea Bäßler

Universitätsklinikum Regensburg

 

08.05.2024

 

Bildquelle (Bild oben): Sebastian Kaulitzki / Shutterstock.com

Statintherapie bei Frauen seltener

 

Die auf dem ESC Preventive Cardiology 2024 vorgestellte Studie zeigt, dass in Schweden Frauen mit koronarer Herzkrankheit (KHK) trotz geschlechtsunabhängiger ESC-Leitlinienempfehlung seltener cholesterinsenkende Medikamente erhalten als Männer.2 In der retrospektiven Studie wurden anhand eines schwedischen Nationalregisters die Daten von 415 Frauen und 1.037 Männern über einen Zeitraum von 3 Jahren nach ihrer KHK-Diagnose ausgewertet. Die Forschenden fanden heraus, dass am Ende des 3. Jahres 54 % der Frauen mit cholesterinsenkenden Medikamenten behandelt wurden, verglichen mit 74 % der Männer. Außerdem wurden 5 % der Frauen mit einem Statin plus Ezetimib behandelt, verglichen mit 8 % der Männer.


In allen Altersgruppen (< 60; 60–69,9; 70–79,9; < 80 Jahre) war die Verschreibungsquote zum Zeitpunkt der Diagnose am höchsten und nahm in den folgenden 3 Jahren ab. Dieser Rückgang war bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. So wurden beispielsweise bei den Unter-60-Jährigen in der 1. Woche nach der Diagnose 65 % der Frauen und 79 % der Männer mit Cholesterinsenkern behandelt, 3 Jahre später waren es 52 % der Frauen und 78 % der Männer. Die Zielwerte für LDL-Cholesterin (LDL-C) wurden bei Frauen seltener erreicht als bei Männern, was bereits in früheren Studien festgestellt wurde.3

Statintherapie bei Frauen seltener intensiv

 

Geschlechterunterschiede zeigen sich nicht nur bei der Verschreibungshäufigkeit, sondern auch bei der Intensität der Behandlung, worauf eine aktuelle Studie aus den Niederlanden hinweist.4 Anhand der für die niederländische Bevölkerung weitgehend repräsentativen Angaben aus dem PHARMO-Datennetzwerk wurden neu begonnene Statintherapien bei rund 83.000 Personen über einen 10-Jahres-Zeitraum analysiert. Die Einteilung der Therapieintensität erfolgte auf Basis der Cholesterin-Leitlinie des American College of Cardiology und der American Heart Association (ACC/AHA).


Unter Berücksichtigung von Alter, sozioökonomischem Status, LDL-C-Ausgangswerten und kardiovaskulären Risikoscores erhielten Frauen zu 31 % seltener in der Primärprävention, zu 23 % seltener in der Sekundärprävention eine intensive Statintherapie als Männer. Die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen der LDL-C-Zielwerte war bei Frauen in der Primärprävention um 2 % geringer als bei Männern (Relatives Risiko 0,98; 95%-Konfidenzintervall 0,97–1,00) und in der Sekundärprävention um 6 % geringer (RR 0,94; 95%-KI 0,89–0,98).

Kommentar – Prof. Andrea Bäßler:

 

Die beiden retrospektiven Studien aus Schweden und den Niederlanden untersuchten geschlechterspezifische Unterschiede verschiedener Aspekte einer Statintherapie. Die schwedische Arbeitsgruppe zeigte, dass Frauen mit KHK seltener mit den lipidsenkenden Medikamenten erster Wahl, den Statinen, versorgt sind als Männer mit vergleichbarer Erkrankung und auch seltener eine Kombinationstherapie aus Statin und Ezetimib erhalten. Dieser geschlechterspezifische Unterschied in der Verordnungshäufigkeit nahm im dreijährigen Beobachtungszeitraum in allen Altersklassen zu. Bei Patientinnen war die lipidsenkende Therapie häufiger beendet oder eigens abgesetzt worden, mit der Folge, dass die LDL-C Zielwerte seltener erreicht wurden als bei Patienten.


Im Einklang damit berichteten die Autoren der niederländischen Studie, dass sich auch die Behandlungsintensität zwischen den Geschlechtern unterscheidet, mit geringeren Statindosen bei Frauen als bei Männern, sowohl in der Primär- und noch ausgeprägter in der Sekundärprävention.

Herausforderungen bei der Behandlung

 

Die geschlechterspezifischen Unterschiede in der Verordnungspraxis, die eine Unterversorgung und eine weniger erfolgreiche Zielwerterreichung bei Frauen implizieren, zeigen sich trotz einheitlicher Behandlungsempfehlungen für beide Geschlechter in den aktuellen ESC-Leitlinien zum Lipidmanagement und zur kardiovaskulären Prävention.5,6

Offensichtlich existieren Barrieren, die für die unterschiedliche Verordnungspraxis und die schlechtere Zielwerterreichung der Frauen verantwortlich sind, und die noch nicht ausreichend adressiert werden.
Hinweisen aus der Fachliteratur zufolge zählen hierzu die Unterschätzung des kardiovaskulären Erkrankungsrisikos durch die Patientinnen selbst, aber auch durch die Behandelnden und somit eine seltenere Inanspruchnahme lipidsenkender Therapien bzw. ein restriktiveres Verordnungsverhalten.7

Physiologische Unterschiede und Einfluss der Menopause

 

In diesem Kontext relevant sind möglicherweise die bekannten physiologischen Unterschiede im Lipidstoffwechsel von Männern und Frauen, die weitgehend durch hormonelle Einflüsse bedingt sind, und bei Frauen – insbesondere im reproduktiven Alter – ein günstigeres Lipoproteinprofil zeigen (höheres HDL-Cholesterin, niedrigere Triglyzerid- und Apolipoprotein-B-Spiegel sowie signifikant größere LDL-C-Partikel).

Allerdings ändern sich diese vorteilhaften Verhältnisse mit Übergang in die Menopause, wenn es bei Frauen durch den ansteigenden FSH- und absinkenden Östrogenspiegel zu einem signifikanten Anstieg ungünstiger Lipoproteine im Vergleich zur Prämenopause kommt. Dieser wird neben anderen Veränderungen auf das Herz-Kreislauf-System unter anderem maßgeblich für den Anstieg des kardiovaskulären Risikos peri- und postmenopausal verantwortlich gemacht.8

Verbesserungsbedarf bei Risikobewusstsein und Therapieadhärenz

 

Immer wieder betont werden muss, dass kardiovaskuläre Erkrankungen auch bei Frauen mit Abstand die häufigste Todesursache darstellen, wenn sie auch erst 8–10 Jahre später kardiovaskuläre Ereignisse erleiden als Männer. Darüber hinaus wirken sich die traditionellen Risikofaktoren für atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere der Diabetes mellitus, bei Frauen oft stärker auf das Gesamtrisiko aus als bei Männern, was dazu beiträgt, dass herkömmliche Risikobewertungsmodelle bei Patientinnen weniger gut das tatsächliche kardiovaskuläre Risiko vorhersagen als bei Patienten.9

Somit besteht Verbesserungspotenzial, was das Risikobewusstsein für die Erkrankung, die Therapienotwendigkeit auf Seiten der Patientinnen, die Risikobewertung und das konsequente Verordnungsverhalten bei den Behandelnden betrifft.

Zur Person

Prof. Andrea Bäßler

Prof. Andrea Bäßler ist Oberärztin am Universitären Herzzentrum des Universitätsklinikums Regensburg und leitet die kardiologische Ambulanz. Sie besitzt Zusatzqualifikationen als Gendermedizinerin (DGesGM) und Lipidologin (DGFF). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Metabolisches Syndrom, Lipidstoffwechselstörungen, Versorgungsforschung und kardiovaskuläre Prävention.

Statinintoleranz und Ansätze zur besseren Zielwerterreichung bei Frauen

 

Hinzu kommt, dass eine Statinintoleranz oftmals häufiger von Frauen als von Männern beklagt wird und die geringere Therapieadhärenz bei Frauen begünstigt.
So berichten Frauen häufiger über Statin-Nebenwirkungen, brechen die Therapie häufiger ab und sind seltener zu einem erneuten Statin-Versuch bereit. In der schwedischen Studie spiegelt sich dies in einem stärkeren Rückgang der Verschreibungsquote über 3  Jahre bei Frauen im Vergleich zu Männern wider. In mehreren Untersuchungen einschließlich einer Metaanalyse stellte sich das weibliche Geschlecht als Prädiktor für Statin-assoziierte Myopathie heraus.10
Dies mag auf Unterschiede der körperlichen Konstitution mit kleineren Verteilungsvolumen zurückzuführen sein. Darüber hinaus können ein höherer Fettmasseanteil, der die Verteilung lipophiler Medikamente beeinflusst, eine geringere GFR und variable (Steroid-)Hormonspiegel eine Rolle spielen.
Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich auch angebracht, Dosisanpassungen der Medikamente bei Frauen zu diskutieren. Allerdings werden Dosierungen nur in sehr wenigen Studien geschlechtergetrennt untersucht.
Eigene Beobachtungen zeigen, dass die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in Anbetracht der schlechteren Medikamentenverträglichkeit bei Frauen schon reaktiv mit geringeren Dosierungen beginnen und insgesamt zurückhaltender behandeln, was letztendlich zur schlechteren Zielwert-Erreichung beitragen könnte. Auch in Deutschland stellen Statinintoleranz und Verbesserung der Therapieadhärenz bei Frauen noch größere Herausforderungen dar als bei Männern. Die alleinige Dosisintensivierung der Statine bei Frauen wird daher das Problem der „Unterversorgung“ bei Frauen nicht vollumfänglich lösen.

Möglicherweise könnte durch eine Änderung der Therapiestrategie im Sinne eines frühzeitigeren Einsatzes von Kombinationstherapien eine Therapieverbesserung bei Frauen möglich sein.
In jedem Fall sind zur Zielwerterreichung eine gesteigerte Awareness bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzte und insbesondere bei den Patientinnen sowie eine Verbesserung der Therapieadhärenz durch gezielte Aufklärung, wiederholte Kontrolle und längerfristige Betreuung mit Stärkung der Eigenverantwortung erforderlich.

Notwendigkeit geschlechterspezifischer Forschung

 

Da Frauen immer noch vielfach in Analysen unterrepräsentiert sind, sollte darauf geachtet werden, dass sie in Zukunft gleichermaßen in klinische Studien eingeschlossen werden, um die Datenlage zu verbessern und beispielsweise Erkenntnisse zu geschlechterspezifischen Unterschieden Statin-assoziierter Muskelbeschwerden oder Medikamenten-Dosierungen zu gewinnen.


Referenzen

 

  1. Timmis A et al. European Society of Cardiology: cardiovascular disease statistics 2021: Executive Summary. Eur Heart J Qual Care Clin Outcomes. 2022 Jun 6;8(4):377-382. doi: 10.1093/ehjqcco/qcac014.
  2. Johnston N. Lipid-lowering treatment pattern in chronic coronary syndrome – lower proportion of treatment observed among women during 3 years of follow-up. Vortrag, Session: Lipid management in different populations. ESC Preventive Cardiology 2024, 25.–27. April. Pressemitteilung.
  3. Hambraeus K et al. Time trends and gender differences in prevention guideline adherence and outcome after myocardial infarction: Data from the SWEDEHEART registry. Eur J Prev Cardiol. 2016 Mar;23(4):340-8. doi: 10.1177/2047487315585293.
  4. Kiss PAJ et al. Sex differences in the intensity of statin prescriptions at initiation in a primary care setting. Heart. 2024 Apr 5:heartjnl-2023-323722. doi: 10.1136/heartjnl-2023-323722.
  5. Visseren FLJ, Mach F, Smulders YM, Carballo D, Koskinas KC, Bäck M, et al. 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J. 2021;42:3227–337.
  6. Mach F, Baigent C, Catapano AL, Koskinas KC, Casula M, Badimon L, et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J. 2020;41:111–88.
  7. Nanna MG, Wang TY, Xiang Q, Goldberg AC, Robinson JG, Roger VL, et al. Sex Differences in the Use of Statins in Community Practice. Circ Cardiovasc Qual Outcomes. 2019;12:e005562.
  8. Roeters van Lennep JE, Tokgözoğlu LS, Badimon L, Dumanski SM, Gulati M, Hess CN, et al. Women, lipids, and atherosclerotic cardiovascular disease: a call to action from the European Atherosclerosis Society. Eur Heart J. 2023;44:4157–73.
  9. Anand SS, Islam S, Rosengren A, Franzosi MG, Steyn K, Yusufali AH, et al. Risk factors for myocardial infarction in women and men: insights from the INTERHEART study. Eur Heart J. 2008;29:932–40.
  10. Bytyçi I, Penson PE, Mikhailidis DP, Wong ND, Hernandez AV, Sahebkar A, et al. Prevalence of statin intolerance: a meta-analysis. Eur Heart J. 2022;43:3213–23.

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