Zusammenhang von Semaglutid mit NAION?

 

In einer retrospektiven Kohortenstudie eines Zentrums für Neuro-Ophthalmologie in den USA war die Behandlung mit Semaglutid bei Personen mit Diabetes oder Übergewicht mit einem erhöhten Risiko für die seltene Sehnerv-Erkrankung NAION (nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie) assoziiert. Ein kausaler Zusammenhang wurde jedoch nicht nachgewiesen. Prof. Ulrich Laufs kommentiert.

Von:

Dr. Heidi Schörken

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

Prof. Ulrich Laufs

Rubrikleiter Prävention

 

15.07.2024

 

Bildquelle (Bild oben): MattL_Images / Shutterstock.com

Augenärzten und Augenärztinnen eines neuro-ophthalmologischen Zentrums in Boston, USA, war eine Häufung von NAION-Fällen bei Personen mit Semaglutid-Therapie aufgefallen. Daraufhin wurde eine retrospektive Kohortenstudie von insgesamt 16.827 Personen durchgeführt, die seit 2017 (dem Jahr der Semaglutid-Zulassung in den USA) in diesem Zentrum behandelt wurden.


NAION ist eine seltene Erkrankung des Sehnervs, die sich als akute einseitige Sehverschlechterung ohne Augenbewegungsschmerz manifestiert. Mit einer Inzidenz von 1:10.000 tritt NAION zwar selten auf, gilt allerdings als zweithäufigste Ursache nach dem Glaukom für eine Sehnerv-Degeneration, die zur Erblindung führen kann. Als wichtigste Risikofaktoren für NAION wurden Hypertonie und Hyperkoagulabilitäten identifiziert.1


In der vorliegenden monozentrischen retrospektiven Kohortenstudie wurde das NAION-Risiko von Personen mit Semaglutid-Therapie im Vergleich zu einer gematchten Kontrollgruppe untersucht, jeweils für eine Kohorte mit T2D (Diabetes mellitus Typ 2) und mit Übergewicht (BMI > 25 kg/m2).

Gematchte Kontroll-Gruppen

 

Für das Propensity-Score-Matching der Kontrollgruppen wurden folgende Faktoren berücksichtigt: Demografie (Geschlecht, Alter); Komorbiditäten (Hypertonie, T2D, obstruktive Schlafapnoe); Semaglutid-Indikationen (T2D und Adipositas) und Semaglutid-Kontraindikationen (Vorgeschichte von multipler endokriner Neoplasie Typ 2, Schilddrüsenkrebs, chronischer Nierenerkrankung, Pankreatitis); kovariierende Faktoren im Zusammenhang mit T2D oder Übergewicht bzw. Adipositas (Hyperlipidämie, koronare Herzkrankheit); und Einnahme von Medikamenten, die mit NAION in Verbindung gebracht werden (Phosphodiesterase-Typ-5-Hemmer, Amiodaron). Keine Person mit NAION hatte α-Interferon erhalten.

Erhöhtes Risiko für NAION bei Semaglutid-Therapie

 

Von 16.827 Personen, die zwischen 2017–2023 im Zentrum für Neuro-Ophthalmologie behandelt wurden, gehörten 710 Personen zur T2D-Kohorte (medianes Alter 59 Jahre und 52 % Frauen), wovon 194 Personen auf die Semaglutid-Gruppe und 516 Personen auf die Kontroll-Gruppe entfielen. In der T2D-Kohorte traten 17 vs. 6 NAION-Fälle in der Semaglutid- bzw. Kontroll-Gruppe auf, was einer kumulierten NAION-Inzidenz über 36 Monate von 8,9 % (95%-KI 4,5–13,1 %) vs. 1,8 % (95%-KI 0–3,5 %) entsprach (HR 4,28; p < 0,001).
In der Übergewicht-Kohorte (n = 979; medianes Alter 47 Jahre; 72 % Frauen) wurden 20 vs. 3 NAION-Fälle jeweils in der Semaglutid- (n = 361) bzw. Kontroll-Gruppe (n = 618) beobachtet, was einer kumulierten NAION-Inzidenz über 36 Monate von 6,7 % (95%-KI 3,6-9,7 %) vs. 0,8 % (95%-KI 0-1,8 %) entsprach (HR 7,64; p < 0,001).

Diskussion und Fazit

 

Die Semaglutid-Therapie war mit einem erhöhten NAION-Risiko assoziiert, das nicht auf unterschiedliche Baseline-Charakteristika zurückzuführen war. Die beobachteten NAION-Inzidenzen von 8,9 % für die T2D- bzw. 6,7 % für die Übergewicht-Kohorte lagen deutlich über den zu erwarteten Inzidenzen von 1:10.000. In vorhergehenden Studien wurde zudem beobachtet, dass Semaglutid mit einer Progression der diabetischen Retinopathie sowie mit einem höheren Risiko für neu auftretende Makulaödeme assoziiert war.


Kritsch anzumerken ist, dass diese retrospektive Studie auf relativ wenigen NAION-Fällen basiert, die zudem bei Personen auftraten, die an ein neuro-ophthalmologisches Zentrum überwiesen wurden. Weitere größere klinische Studien sind daher notwendig, um zu überprüfen, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Semaglutid und neuro-ophthalmologischen Erkrankungen bestehen könnte.

Expertenkommentar

 

Die Studie weist auf eine mögliche seltene, aber schwerwiegende Nebenwirkung des GLP-1-Rezeptoragonisten Semaglutid hin. Die Berichte zu NAION stehen im Kontext der noch offenen Diskussion zu möglichen Effekten auf die diabetische Retinopathie in der SUSTAIN-6-Studie mit Semaglutid und der LEADER-Studie mit Liraglutid sowie den Daten einer Metaanalyse.3 In der Fachinformation und dem Beipackzettel von Semaglutid-Präparaten findet sich der Passus, dass bei einer „potentiell instabilen diabetischen Augenerkrankung“ die Anwendung von 2 mg Semaglutid nicht empfohlen wird. Eine Untersuchung auf Retinopathie vor Verschreibung von Semaglutid wird nicht empfohlen.   


Die Beurteilung der Kausalität bei sehr seltenen Ereignissen ist schwierig. NAION ist per se mit Diabetes mellitus, Hypertonie und metabolischen Syndrom assoziiert. Daher ist ein Selektions-Bias nicht auszuschließen, d. h. bei metabolisch kränkeren Patientinnen und Patienten ist sowohl das Risiko für NAION als auch die Wahrscheinlichkeit einer Semaglutid-Verscheibung erhöht, ohne das eine Kausalität bestehen muss. Gleiches gilt für die Verschreibung von Semaglutid und die Überweisung an die hochspezialisierte Neuro-Ophthamologie der Harvard-Universität. Die Pathogenese der NAION ist unbekannt. Es gibt keine mechanistische Hypothese für einen theoretischen Effekt von Semaglutid auf den Sehnerv. Die entscheidende Frage nach einer Kausalität ist derzeit ungeklärt. Auf dem Boden der Studie gilt es, wachsam zu bleiben, und weitere Register und Datenbanken für die Klasse der GLP-1-RA bzgl. diabetischer Retinopathie und NAION zu untersuchen, um den Befund zu überprüfen.

Zur Person

Prof. Ulrich Laufs

Prof. Ulrich Laufs ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig. Zu seinen Schwerpunkten gehören u. a. kardiovaskuläre Prävention und Lipoprotein-Stoffwechselstörungen. Im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) vertritt er den Bereich der Universitätskliniken.


Referenzen

 

  1. Gerste RD. Sehnervenerkrankung: Risikofaktoren für nichtarteriitische Optikusneuropathie identifiziert. Dtsch Arztebl 2017; 114(40): A-1811 / B-1540 / C-1508
  2. Hathaway JT et al. Risk of Nonarteritic Anterior Ischemic Optic Neuropathy in Patients Prescribed Semaglutide. JAMA Ophthalmol. 2024 Jul 3:e242296. doi: 10.1001/jamaophthalmol.2024.2296. Epub ahead of print. PMID: 38958939; PMCID: PMC11223051.
  3. Albert SG, Wood EM, Ahir V. Glucagon-like peptide 1-receptor agonists and A1c: Good for the heart but less so for the eyes? Diabetes Metab Syndr. 2023;17(1):102696.

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