Interview: Anne-Kathrin Klemm zu Health in All Policies

 

Herzmedizin-Summit | Wie kann die Krankheitslast durch eine bessere Vorsorge und Früherkennung gesenkt werden? Anne-Kathrin Klemm, Vorständin BKK Dachverband, spricht im Interview über den „Sicherheitsgurt“ des Gesundheitssystems und erläutert, wo sie andere Länder vorne sieht.

Von:

Martin Nölke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

17.01.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Sina Ettmer Photography / Shutterstock.com

HERZMEDIZIN: Präventionsausgaben machen derzeit nur einen geringen Anteil der Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) aus. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass hierzulande bisher so wenig in Prävention investiert wird?


Klemm: Das liegt daran, dass unser Gesundheitssystem im Grunde auf Krankheit ausgerichtet ist. Der Fokus liegt auf Therapie und Kuration, also darauf, Krankheiten zu behandeln, wenn sie bereits eingetreten sind, oder weitere Verschlimmerungen zu verhindern. Gesunderhaltung spielt bislang eine untergeordnete Rolle. Auch im Behandlungsverlauf findet Prävention wenig Beachtung.


Das hängt vielleicht auch mit unserer Kultur und Tradition zusammen und dem Wunsch, schnell sichtbare Ergebnisse zu haben. Der Effekt von Medikamenten ist leichter messbar. Bei Prävention braucht es einen langen Atem, bis Ergebnisse nachweisbar sind. Unser Anliegen ist es, den Fokus zu verändern und verstärkt in Prävention, in die Gesunderhaltung, zu investieren. So können langfristig Kosten und Ressourcen in der Behandlung eingespart werden – insbesondere vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und begrenzter finanzieller Mittel.

„Health in All Policies“ ernst nehmen

 

HERZMEDIZIN: Spüren Sie bereits einen Sinneswandel bei den Verantwortlichen im Gesundheitsbereich von der Reparaturmedizin hin zu mehr Vorsorge oder haben wir bei dem Thema noch einen längeren Weg vor uns?


Klemm: Ich nehme wahr, dass sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich mehr über Prävention nachgedacht wird. Oft dominiert allerdings noch eine "medikalisierte" Prävention, mit Pillen als Lösung anstatt Veränderungen von Verhältnissen und Verhaltensweisen anzustreben.


Ein Problem sehe ich im ordnungspolitischen Rahmen. Der Ansatz "Health in All Policies", also Gesundheit in allen Politikbereichen zu verankern, stößt oft auf Skepsis oder wird nur halbherzig verfolgt. Noch denken viele Akteurinnen und Akteure zu sehr in ihren eigenen Verantwortungsbereichen. Dabei zeigt die Geschichte, dass ordnungspolitische Maßnahmen entscheidend sind. Ein gutes Beispiel ist die Einführung der Sicherheitsgurtpflicht in den 1970er Jahren. Durch diese verpflichtende Maßnahme sank die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland drastisch. Gesundheitsmaßnahmen sollten an den Ursachen ansetzen, nicht nur Symptombekämpfung betreiben.


HERZMEDIZIN: Was ist der „Sicherheitsgurt“ des Gesundheitssystems, um im Bild zu bleiben?


Klemm: Der Sicherheitsgurt des Gesundheitssystems ist die Verankerung von Prävention in allen Lebensbereichen. Wir in Deutschland essen zu süß, zu fett, bewegen uns zu wenig, trinken zu viel Alkohol, rauchen zu viel, gerade auch im internationalen Vergleich. Diese Themen und schädlichen Verhaltensweisen müssen wir angehen.


Andere Länder wie Australien gehen beispielhaft voran. Ich finde es bemerkenswert, dass dort das Thema psychische Gesundheit bei Jugendlichen auf die Agenda gesetzt wurde und der Einfluss von Social Media reguliert wird. Studien zeigen auch für Deutschland die psychische Belastung von Jugendlichen durch Social-Media-Konsum. Wir brauchen Diskussionen um ordnungspolitische Maßnahmen, um die Gesundheit langfristig zu schützen.

Zur Person

Anne-Kathrin Klemm

Anne-Kathrin Klemm, Vorständin im BKK Dachverband e.V., ist Dipl.-Volkswirtin und arbeitet seit 26 Jahren im Gesundheitssystem, u. a. beim BKK Dachverband, der Techniker Krankenkasse, dem AOK Bundesverband, der Kassenärztlichen Vereinigung Südbaden sowie international für die GTZ in Asien. Ihr ist der Blick ins Ausland wichtig, um Best Practices für das deutsche Gesundheitssystem zu adaptieren.

Bildquelle: Markus Altmann

HERZMEDIZIN: Wie kann es aus Sicht der (Betriebs-)Krankenkassen gelingen, Prävention und Früherkennung für alle Bevölkerungsschichten zu verbessern, und wie können die Krankenkassen selbst dabei unterstützen?


Klemm: Ein wichtiger Ansatz ist "Health in All Policies". Das muss ganz vorne auf die politische Agenda. Das betrifft nicht nur die GKV, sondern auch die Pflegeversicherung, um Krankheit und Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich zu vermeiden.


Außerdem müssen wir Daten intensiver nutzen, um Transparenz im Versorgungsgeschehen zu schaffen und Erfolge besser messbar zu machen, gerade auch im Präventionsbereich. Eine bessere Datenanalyse wird es uns ermöglichen, gezieltere und individualisierte Präventionsmaßnahmen anzubieten. Die Betriebskrankenkassen setzen hier bereits auf digitale Lösungen wie die App "Mein Phileo", um statt „One size fits all“ individuelle Präventionsangebote zu machen. Für die Zukunft erhoffe ich mir eine noch stärkere Kooperation zwischen Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzten, um Präventionsmaßnahmen gezielt im Versorgungspfad zu platzieren. Der Schlüssel liegt in Personalisierung und individueller Begleitung.

Von anderen Ländern lernen

 

HERZMEDIZIN: Wo sehen Sie weitere Baustellen im Gesundheitssystem hinsichtlich Prävention?


Klemm: Forschung ist ein wichtiger Punkt, auch im Hinblick auf Früherkennung und der Ableitung von Maßnahmen. Dabei ist auch der Gender Health Gap und eine bessere geschlechterspezifische Versorgung zu nennen: Viele Erkrankungen verlaufen bei Frauen anders als bei Männern und auch die Symptome unterscheiden sich häufig. Der Herzinfarkt ist ein markantes Beispiel. Zudem sind Frauen bei Studien zu Medikamenten oft unterrepräsentiert, was Fehldosierungen nach sich ziehen kann.


Zudem müssen wir bei Prävention und Früherkennung den passenden Weg finden, um medikamentöse oder diagnostische Innovationen wie Biomarker- und Genanalysen zu ermöglichen, aber auch ernsthaft Lebensstil- und Lebensverhältnisänderungen zu fördern. Es gibt keine einfache Lösung, sondern wir müssen an vielen Stellschrauben drehen – und das mit den bestehenden Finanzmitteln, denn es ist genug Geld im System, wir müssen es nur besser einsetzen.


HERZMEDIZIN:
Deutschland hat sehr hohe Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit und trotzdem eine vergleichsweise niedrige Lebenserwartung. Können wir von anderen Ländern lernen, kosteneffizienter zu agieren?


Klemm: Andere Länder setzen klarere ordnungspolitische Rahmenbedingungen. England hat mit der Zuckersteuer ein erfolgreiches Beispiel gesetzt: Gemäß mehrjähriger Datenlage ist der Zuckergehalt in Getränken gesunken, ebenso die Rate von Adipositas bei Kindern. Ich hatte bereits Australien und die Social-Media-Regulierung erwähnt – eine mutige Debatte, die mir in Deutschland kaum vorstellbar erscheint. Aber dort wird es gemacht.


Auch die Digitalisierung ist in anderen Ländern deutlich weniger mit Angst behaftet und es werden die Chancen gesehen, wie beispielsweise dass elektronische Patientenakten die Transparenz verbessern und die Gesundheitskompetenz der Betroffenen fördern, indem sie die Diagnose und das, was weiter passiert, besser nachvollziehen können.


Ein weiteres Beispiel ist Dänemark, das ein klares Zielbild für seine Krankenhauslandschaft definiert hat. In Deutschland fehlt es oft an solchen übergeordneten Zielen, stattdessen „frickeln“ wir gerne kleinteilig an Symptomen. Andere Länder sind stärker bestrebt, den Gesundheitsakteurinnen und -akteuren mehr Freiheiten einzuräumen. Mehr Freiheit bedeutet aber auch mehr Verantwortung. Ich denke, da müssen wir wieder hin.

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