HERZMEDIZIN: Wo sehen Sie weitere Baustellen im Gesundheitssystem hinsichtlich Prävention?
Klemm: Forschung ist ein wichtiger Punkt, auch im Hinblick auf Früherkennung und der Ableitung von Maßnahmen. Dabei ist auch der Gender Health Gap und eine bessere geschlechterspezifische Versorgung zu nennen: Viele Erkrankungen verlaufen bei Frauen anders als bei Männern und auch die Symptome unterscheiden sich häufig. Der Herzinfarkt ist ein markantes Beispiel. Zudem sind Frauen bei Studien zu Medikamenten oft unterrepräsentiert, was Fehldosierungen nach sich ziehen kann.
Zudem müssen wir bei Prävention und Früherkennung den passenden Weg finden, um medikamentöse oder diagnostische Innovationen wie Biomarker- und Genanalysen zu ermöglichen, aber auch ernsthaft Lebensstil- und Lebensverhältnisänderungen zu fördern. Es gibt keine einfache Lösung, sondern wir müssen an vielen Stellschrauben drehen – und das mit den bestehenden Finanzmitteln, denn es ist genug Geld im System, wir müssen es nur besser einsetzen.
HERZMEDIZIN: Deutschland hat sehr hohe Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit und trotzdem eine vergleichsweise niedrige Lebenserwartung. Können wir von anderen Ländern lernen, kosteneffizienter zu agieren?
Klemm: Andere Länder setzen klarere ordnungspolitische Rahmenbedingungen. England hat mit der Zuckersteuer ein erfolgreiches Beispiel gesetzt: Gemäß mehrjähriger Datenlage ist der Zuckergehalt in Getränken gesunken, ebenso die Rate von Adipositas bei Kindern. Ich hatte bereits Australien und die Social-Media-Regulierung erwähnt – eine mutige Debatte, die mir in Deutschland kaum vorstellbar erscheint. Aber dort wird es gemacht.
Auch die Digitalisierung ist in anderen Ländern deutlich weniger mit Angst behaftet und es werden die Chancen gesehen, wie beispielsweise dass elektronische Patientenakten die Transparenz verbessern und die Gesundheitskompetenz der Betroffenen fördern, indem sie die Diagnose und das, was weiter passiert, besser nachvollziehen können.
Ein weiteres Beispiel ist Dänemark, das ein klares Zielbild für seine Krankenhauslandschaft definiert hat. In Deutschland fehlt es oft an solchen übergeordneten Zielen, stattdessen „frickeln“ wir gerne kleinteilig an Symptomen. Andere Länder sind stärker bestrebt, den Gesundheitsakteurinnen und -akteuren mehr Freiheiten einzuräumen. Mehr Freiheit bedeutet aber auch mehr Verantwortung. Ich denke, da müssen wir wieder hin.